Ein theologischer Spaziergang über die d(13)

5 - Die Karlsaue

Andreas Mertin

Eine durchaus unterschiedliche Gewichtung hat die Karlsaue im Verlauf der letzten 50 documenta-Jahre bekommen. Zumindest in den letzten 20 Jahren wurde sie immer wichtiger und 2012 wird sie so großzügig bespielt wie noch nie. Dabei bekam sie dieses Mal keinen großen Pavillon, sondern eine Fülle kleiner Spielstätten. Zugleich erschwert das dem Besucher, einen Überblick zu bekommen. An einem Tag allein ist das Angebot in der Karlsaue nicht zu erschließen.

01 – Baum der Erkenntnis

Guiseppe Penone (*1947) hat mit seinem Kunstwerk “Idee di Pietra“ so etwas wie ein Symbol dieser dOCUMENTA(13) geschaffen. Bereits am 21. Juni 2010 „gepflanzt“ hat sich das Werk schnell zu einem Publikumsliebling entwickelt.

Das hat einerseits natürlich etwas mit seiner Platzierung auf der großen freien Fläche in der Karlsaue unterhalb der Schönen Aussicht zu tun, in der Baum gut zur Geltung kommt.

Darüber hinaus ist die Schlichtheit der Idee natürlich bestechend und die Herausforderung der Materialität tut ihr Übriges.

Und dann gibt es einen assoziativen Reichtum, der von der Skulptur ausgeht, der vom Mythos des Sisyphus über die Märchen der Gebrüder Grimm bis zu Caspar David Friedrichs Gemälde „Einsamer Baum“ aus dem Jahr 1822 reicht, das ebenfalls zu zahlreichen Deutungen Anlass gab.


02 - Doing & Nothing II

Ökologie spielt auf der dOCUMENTA(13) auch eine wichtige Rolle. Und so hat der chinesische Künstler Song Dong (* 1966) mitten auf dem Grün vor der Orangerie zunächst einen sechs Meter hohen Müllhaufen aufgeschichtet, der aus Schutt und organischen Abfällen besteht. Dann ließ er den Müllhafen mit Gras und Blumen überwachsen, so dass sich auf der großen Freifläche nun ein kleiner grüner Hügel erhebt, der zudem mit Neonschildern versehen ist, auf denen DOING & NOTHING steht. Bewiesen werden soll so, „dass im richtigen Kontext sogar das Nichtstun schöpferische Wirkung entfalten kann“.[1]

03 – Aktive Zypressen

Spiel und Ernst zugleich verkörpern die wandernden Zypressen von Maria Loboda (*1979). Sie bewegen sich jedenfalls ganz allmählich auf die Orangerie zu, wobei sie sich in ihrer Bewegung an militärstrategischen Überlegungen orientieren. Im biblischen Kontext spielt die Zypresse keine unwichtige Rolle, sie wird zum Hausbau verwendet und sie hat eine theologische Bedeutung. In Hosea 14, 8 heißt es: “Was habe ich fortan mit den Götzen zu schaffen? - Ich, ich habe ihn erhört und auf ihn geblickt. - Ich bin wie eine grünende Zypresse. - Aus mir wird deine Frucht gefunden.“ Und in Jesaja 55, 12f.: Denn in Freuden werdet ihr ausziehen und in Frieden geleitet werden; die Berge und die Hügel werden vor euch in Jubel ausbrechen, und alle Bäume des Feldes werden in die Hände klatschen; statt der Dornsträucher werden Zypressen aufschießen, und statt der Brennesseln werden Myrten aufschießen.

04 – Öko und so

In bestimmten Fragen war Carolyn Christov-Barkagiev dem Vernehmen nach sehr rigide. So verbot sie, wie mir die Verkäuferin am Nordflügel des Kulturbahnhofs erklärte, grundsätzlich den Verkauf von Coca-Cola auf dem Gelände der documenta. Man bekam zwar kultige Ersatz-Kola, aber wurde zur Teilnahme am Verweigerungskampf gegen die großen Konzerne gezwungen. Dafür gab es dann ökologische Alternativen (also ganz ähnlich wie auf dem Kirchentag).

In der Karlsaue gibt es einen Kiosk im Rahmen von AND AND AND, in dem ökologisches Essen angeboten wird. AND AND AND ist dabei die Bezeichnung für im Rahmen der documenta stattfindenden Aktivitäten, die alternative Praktiken und dazu kompatible Reflexionen vorstellen wollen. Ich persönlich würde das eher unter die Kollateralereignisse der documenta zählen und weniger zur Kunst. Es ist sozusagen das Transfair-Kaffee-Angebot für die Happy Few.

05 - Melancholia

Ich würde ja gerne über Joan Jonas (*1936) Holzhaus in der Karlsaue berichten, allein die Bedingungen für die Rezeption der Arbeit waren so schlecht, dass es kaum möglich war, einen authentischen Eindruck zu bekommen. In aller Regel standen so viele Menschen vor den Fensterhöhlen, in denen man die Videoarbeiten sehen können sollte, dass eben genau das nicht möglich war. Man hörte Töne, sah schemenhaft ein paar Szenen, aber eine konzentrierte Aufnahme war nicht möglich. Man mag es für reizvoll halten, mitten im Sommer in einem, Park in den Fenstern eines Holzhauses Videoarbeiten zu zeigen, aber ich finde das ganz und gar nicht beeindruckend. Und nur wiederzugeben, was ich an Informationen im begleitenden documenta-Buch lesen kann, finde ich angesichts der Bedeutung von Videokunst zu billig. Es ist eine Art von Erkenntnis, die zwar in aller Öffentlichkeit präsentiert wird, aber sich gerade dadurch der Wahrnehmung (im Sinne des für wahr nehmen) entzieht. Die intendierten „dichten Kompositionen“ mögen zwar vorhanden sein, aber sie sind paradoxer Weise nicht wirklich zugänglich.

[Update:] Im dritten Anlauf ist es mir nun gelungen, einmal wirklich die Videoarbeiten ungestört betrachten zu können und bin tatsächlich beeindruckt (auch wenn mich die Inszenierungsform „mehrdimensionalen Kastentheaters“ immer noch nicht überzeugt). Beim Umkreisen des Hauses ergibt sich eine Art assoziatives Wahrnehmungsfeld, das sich mit der Natur und der Einschreibung des Menschen auseinandersetzt. [/ Update]

06 – Araya Rasdjarmrearnsook

Wieder und wieder wird uns auf der documenta erzählt, wie bedeutsam das Zusammenleben von Mensch und Tier im Sinne der Worldly Compagnions sei. Auch das Werk von Araya Rasdjarmrearnsook (1957) in der Karlsaue handelt davon. Sie fand in Thailand einen Straßenhund, der gerade überfahren worden war und pflegte ihn gesund. Dann brachte sie ihn in die Hütte in die Karlsaue und lebte dort drei Wochen mit ihm zusammen: „eine Geste, die den Wert der schieren Existenz im Licht einer hochgradig medienvermittelten Gesellschaft zelebriert“.[2] Interessant daran ist, dass Araya Rasdjarmrearnsook in ihren Arbeiten genuin religiöse Tätigkeiten und Fragestellungen (z.B. die Werke der Barmherzigkeit) künstlerisch als Zeichenhandlungen umsetzt. Das lässt sich auch für die aktuelle Arbeit in Kassel sagen. Denn die religiöse, aber auch die mythologische Tradition ist voll von derartigen Geschichten, nur dass die Begleiter in aller Regel nicht Hunde, sondern Teil der chaotischen Gegenwelt sind, die sich aber dann doch mit den Menschen zusammentun. Klassisches Beispiel wäre etwa der Löwe und die analoge Situation das kunstgeschichtlich vertraute Motiv von Hieronymus im Gehäuse.

Die Legenda aurea schildert den Ursprungsmythos so: „Einstmals saß Sanct Hieronymus des Abends mit den Brüdern, die heilige Schrift zu hören; da kam ein Löwe hinkend in das Kloster. Die anderen Brüder flohen, da sie ihn sahen, Hieronymus aber ging ihm entgegen als einem Gast. Der Löwe wies ihm den wunden Fuß, da rief Hieronymus den Brüdern und gebot ihnen, den Fuß zu waschen und mit Fleiß nach der Wunde zu suchen. Das taten sie und fanden, dass ihn ein Dorn hatte gestochen. Sie pflegten ihn mit Fleiß, und der Löwe ward so zahm und heimlich, dass er mit ihnen lebte gleich einem Haustier. Da verstund Hieronymus, dass der Herr den Löwen nicht allein zu seines Fußes Heilung, sondern um Nutzen des Klosters hatte gesandt“.[3]

07 – Die Quadratur des Kreises

Die Quadratur des Kreises – eine Metapher für eine schier unlösbare Aufgabe. Wie ich der Wikipedia entnehme, wird dem griechischen Schriftsteller Plutarch zugeschrieben, im Gefängnis (in dem er wegen Gottlosigkeit saß) erstmalig das Problem der Aufgabe beschrieben zu haben. Was er aufschrieb, wissen wir nicht. Aber so gut wie alle klassischen griechischen Philosophen haben sich mit dem Problem beschäftigt: „Die wichtigsten Arbeiten des 5. Jahrhunderts v. Chr. stammen von Hippokrates von Chios, Antiphon, Bryson von Herakleia und Hippias von Elis.“ [wikipedia] Und so ist es dann irgendwann sprichwörtlich geworden. Erst 1882 wurde dann von Ferdinand von Lindemann nachgewiesen, dass die Aufgabe der exakten Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal unlösbar ist, weil die Kreiszahl π nicht nur irrational, sondern auch transzendent ist. Der ungarische Künstler Attila Csörgö (*1965) jedenfalls hat in seinem Holzhaus in der Karlsaue das Problem der Quadratur des Kreises aufgegriffen und in eine kinetische Konstruktion übersetzt. „Die Arbeit ... verwandelt mittels eines eigens dafür geformten gewölbten Spiegels über einem Wasserbecken die konzentrischen Wellenkreise, die regelmäßig auftropfende Wassertropfen hervorrufen, in quadratische Formen. Die von einer Glühbirne beleuchtete Arbeit lässt den Betrachter die allmähliche Verwandlung des Bildes auf der Oberfläche beobachten: Die Kreisformen beginnen zu wachsen und werden langsam zu Quadraten.“[4]

[Update:] Nach einem nochmaligen Besuch des Kunstwerks in der Aue scheint es so zu sein, dass das im Katalog beschriebene Konzept so nicht umgesetzt wurde, zumindest ist von Wasser und Wellen nichts (mehr?) zu erkennen. [/Update:

08 – Die Hexe von Endor

 Angekündigt wurde dieses Kunstwerk spektakulär: man bekam mitten in der Nacht über den Presseverteiler der documenta den Hinweis, am nächsten Tag würde ein Kunstwerk der kommenden Ausstellung mittels Hubschrauber in die Karlsaue eingeflogen. Man möge doch bitte zur Berichterstattung vorbeikommen, aber bis dahin über das Ganze Stillschweigen bewahren. Als ich dann das erste Mal auf der documenta war, traf ich beim Baum von Penone auf eine Grundschulklasse, die schon ganz aufgeregt diskutierten, wo denn das Gespenst sei. Apichatpong Weerasethakul (* 1970) hat so von vorneherein sehr viel Aufmerksamkeit sicher. Mitten auf einer Lichtung im Park der Aue steht sein „Phantom“ als gestaltgewordene Kindheitserinnerung. Ein weißer Schatten aus dem Dunkel wie der von Saul beschworene Schatten von Samuel bei der Totenbeschwörerin von Endor in der Darstellung von Salvator Rosa aus der Mitte des 17. Jahrhunderts.

09 – Soziatrie

Eine wunderbare Idee ist es, die Pedro Reyes (*1972) da mit seinem Sanatorium umgesetzt hat. Kunst als Therapeutikum oder Therapie als Kunst. Der Besucher muss sich als Patient einweisen lassen und bekommt nach einem kurzen Aufnahmegespräch eine Auswahl von verschiedenen Therapieformen vorgeschlagen: „Diese kurzen Behandlungen schöpfen aus verschiedenen Traditionen in Psychologie und Kunst wie der Gestalttherapie, dem Psychodrama, der Hypnose, dem Theater der Unterdrückten, der Urschreitherapie, volkstümlichen Ritualen oder Fluxus-Happenings.“ Die Therapie dieser Anstalt (Reyes schlägt dafür die Wiederbelebung des Begriffes Soziatrie vor) basiert auf der Mitarbeit der Patienten und gibt Hilfestellungen für die Veränderung von Verhaltensweisen.

10 - Underworld

1997 hatte Martin Kippenberger für die documenta X die Skulptur Metro-Net „Transportabler U-Bahn-Eingang“ geschaffen, die in der Fulda-Aue platziert war und den bloßen Eingang zu einer imaginären Unterwelt darstellte. Ryan Gander (* 1976), der auch die ersten fünf Räume im Fridericianum mit Wind bespielt, hat in der Karls-Aue einen Eingang zu einer unterirdischen Diskothek gelegt. Man sieht den Eingang, man hört die Musik (Charles Mingus Tijuana Moods) und beobachtet das Licht, aber man gelangt nicht hinein, denn der Eingang ist verschlossen, eine Art Locus amoenus aber vielleicht auch nur der locus terribilis.

12 „En géneral le ridicule touche au sublime“

Vielleicht dokumentiert dieses Doppelbild der Arbeit von Pierre Huyghe (*1962) wie kaum ein anderes das Scheitern einer nicht-anthropozentrischen Ausrichtung  der documenta, wenn die Natur, vom Menschen dem Menschen aufgesetzt, durch künstliche Gegenstände geschützt werden muss.


[Update]

13 – Kabinett des Schreckens

Fiona Hall (* 1953) hat in der Karlsaue eine Installation gestaltet, in der sie quasi in einer Jagd-Trophäen-Hütte Tiere auf skurrile Weise drapiert hat. Das Begleitbuch erläutert dazu: „Die Kreaturen, die die Wände von Halls »Jagdhütte« schmücken, gehören zu Arten, die auf der Roten Liste der IUCN [International Union for Conservation of Nature] stehen - sie gelten als »gefährdet«, »stark gefährdet«, »vom Aussterben bedroht« oder »in freier Wildbahn ausgestorben«. Ihre »Felle« bestehen aus zerrissener Militärtarnkleidung aus den Ländern, in denen die jeweiligen Arten zuhause sind. Als Metapher für die bedrohte Lage dieser an den ökologischen Rand gedrängten Geschöpfe deutet die Tarnkleidung zugleich die Ironie an, die darin steckt, dass diese militärische Verkleidung selbst sich von der Tarnung herleitet, deren sich Tiere bedienen - eine der Erfindungen der Natur, die die moderne Kriegsführung sich zu eigen gemacht hat.“[5] Freilich unterminiert die Inszenierung jeglichen ethischen Impuls. Nicht eine Sekunde denkt am vor Ort an bedrohte Tierarten, eher an ein Kuriositätenkabinett, das der Unterhaltung dient. Das wird verstärkt durch die kontextualisierten Objekte wie etwa der Kukucksuhr mit Hirschgeweih im Camouflage-Dress. Iin manchen Details erinnert das Ganze an den von David Altmejd gestalteten Pavillon von Kanada auf der 52. Biennale in Venedig, der ebenso jeden künstlerischen Impuls ins Nichts auflöste. Am besten befreit man sich vom zugedachten ideologischen Ballast der Inszenierung und sucht eine Verbindung von der mittelalterlichen Wunderkammer zur Kultur der Gegenwart. Ich bin nicht sicher, ob das gelingt.

14 – Dressur

Der Hundespielplatz am Ende der Karlsaue hat schon manchen ironischen Kommentar hervorgerufen. Und dem ist wenig hinzuzufügen. Man versucht irgendwie, einen Sinn hinter dieser Inszenierung zu entdecken, etwa vom solidarischen Miteinander von Mensch und Tier, aber die Inszenierung ist und bleibt sinnfrei. Aber auch hier gilt vermutlich: Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe (Kohelet 9,4)

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Und weiter geht es zu weiteren Orten.

Anmerkungen

[1]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub. S. 306.

[2]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub. S. 290.

[3]    Jacobus de Voragine (1984): Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. 10. Aufl. Unter Mitarbeit von Richard Benz. Heidelberg: Lambert Schneider. S. 758f.

[4]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub. S. 248.

[5]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub. S. 260.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/am403.htm
© Andreas Mertin, 2012