Salon de Kassel

Der Gestus des Exklusiven

Andreas Mertin

„Der Salon de Paris (Pariser Salon) war eine regelmäßige Kunstausstellung, die von König Ludwig dem XIV. im Jahre 1667 initiiert wurde, um den offiziellen höfischen Kunstgeschmack zu propagieren. Zuerst nur den Mitgliedern der königlichen Kunstakademie vorbehalten, stand nach der Revolution der Salon auch anderen Künstlern offen. Lange Zeit war für einen Künstler die Zulassung zu der Ausstellung die Grundvoraussetzung, um allgemein anerkannt zu werden. Die Auswahlkriterien waren aber sehr konventionell und neue Ideen wurden regelrecht unterdrückt. Bei der Auswahl der für den Salon ausgewählten Bilder kam es im 19. Jahrhundert regelmäßig zu Intrigen und Unregelmäßigkeiten. So kam es ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu zahlreichen Gegenausstellungen, als beispielsweise Galeristen wie Louis Martinet abgelehnten Künstlern Ausstellungsmöglichkeiten in ihren Verkaufsräumen gewährten.“[1]

Wer im Augenblick zur documenta nach Kassel schaut, wird unwillkürlich an die Geschichte des königlichen „Salon de Paris“ erinnert. Die Leitung der documenta offenbart in dieser 13. Ausgabe Züge eines geradezu höfischen Kunstverständnisses, von dem man glaubte, es wäre seit gut 150 Jahren historisch überholt, eine Kunstvorstellung, nach der eine übergeordnete Instanz einer Stadt, einem Land, ja der Welt verordnen können, was sie als Kunst anzusehen haben. Die Tendenz dazu zeichnete sich aber schon seit einiger Zeit ab. Sie ist vielleicht in der Genese der Kasseler documenta-Ausstellung als einer Belehrungs- und Erziehungsausstellung für das Volk begründet. Wenn man es recht betrachtet, wollte die Documenta ja niemals die weltweit größte Kunstausstellung im Sinne einer Dokumentation (und sei es einer perspektivischen) sein, sondern sie wollte den Deutschen zeigen, was mit dem Nationalsozialismus aus dem Fokus der Kunstbetrachtung verschwunden war und vor allem, was die nationalsozialistische „Kunstpolitik“ alles verdrängt und vernichtet hatte. Und später wollte sie die freie ‚Westkunst’ zeigen.

Nicht umsonst hieß seit der documenta 5 eine der erfolgreichsten Begleitveranstaltungen der documenta „Besucherschule“. Es ging um Schulung, um Aufklärung und Belehrung – freilich mit jenem Duktus, den schon Johann Georg Haman an Immanuel Kant kritisiert hatte: dass hier selbsternannte Aufklärer anderen, die sie als unaufgeklärt bezeichnen, nun Aufklärung im von ihnen festgeschriebenen Sinne verordnen: „Die erste Reinigung der Philosophie bestand nehmlich in dem theils misverstandenen, theils mislungenen Versuch, die Vernunft von aller Ueberlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen.“

Das heißt jedoch, wenn man es genau bedenkt, dass die Tendenz zur Kontrolle, ja zur Ausübung von Macht über einen Diskurs, der dokumenta in einem gewissen Sinne eingeschrieben ist. Das zeigt sich schon bei Kleinigkeiten. Wenn die Documenta beispielsweise die Kontrolle über alle Vermittlungsversuche behalten will, indem sie Kunstführungen Dritter durch die documenta juristisch untersagt, dann geht es eben nicht nur um die ökonomische Sicherung der documenta-Guides und des entsprechenden Engagements der Institution (die sicherlich im Vordergrund stehen), sondern es geht auch um eine Form der kontrollierten Deutungshoheit. Anders etwa als auf der Biennale in Venedig, bei der Kunstinteressierte durchaus in Gruppen durch die Veranstaltungsräume gehen und Kunstwerke diskursiv mit Kunstvereinsleitern oder Kunstprofessoren erschließen können, wurde das bei der documenta zunehmend eingeschränkt bzw. unterbunden. Unterstellen wir, dass die documenta dabei zunächst den Aufwand der documenta-Guides schützt, so ergibt sich dennoch für den Besucher der Nebeneffekt, dass er in der Vermittlung der ausgestellten Werke auf eine bestimmte „Schule“ angewiesen ist. Das ist dem Wesen der Kunst, wie sie sich in der Moderne entwickelt hat, allerdings zutiefst zuwider. Die freien Gespräche vor der Kunst, die seit der Romantik die europäische Kulturgeschichte charakterisieren, werden so erschwert. Was Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ über das ästhetische Urteil schreibt, dass es ein subjektives und freies Urteil ist, dass den anderen als allgemeingültig angesonnen wird und so den Diskurs eröffnet, wird konterkariert. Es geht damit noch hinter die schon rigiden Einschränkungen des Salon de Paris zurück, der die ausgestellte Kunst einschränkte, nicht aber deren Wahrnehmung regelte, und damit immerhin so etwas wie moderne Kunstkritik ermöglicht hat.

Dramatischer als die Regulierung der Kunstvermittlung ist aber jener Vorgang, mit dem die documenta sich nicht nur den öffentlichen Raum in Kassel zu eigen macht (was man noch nachvollziehen kann), sondern dabei auch jeden anderen Kunstdiskurs zu unterbinden sucht (was nicht toleriert werden sollte). Es ist schon problematisch, dass die documenta eine Vereinbarung mit der Stadt Kassel hat, dass während der documenta keine Kunstdarstellungen im öffentlichen Raum stattfinden dürfen. Das hat zwar viel mit Ökonomie (also den Strömen des Geldes und der Aufmerksamkeit), aber wenig mit Kunst und öffentlichem Diskurs, geschweige denn mit Freiheit zu tun. Letztlich ist es eine ökonomisch motivierte Form der Zensur. Es zeugt m.E. von zwei Dingen: zum einen von einem problematischen Verständnis des öffentlichen Raumes (der Polis als „Gemeinwesen eines Bürgerverbandes“) und zum anderen aber auch von mangelnder Souveränität, von der Furcht, sich mit der eigenen Lesart und Inszenierung gegen ein alternatives oder einfach nur anders gelagertes Konzept nicht durchsetzen zu können.

Die documenta-Leitung möchte den Bürgern zumindest temporär vorschreiben, was er in Kassel erblicken darf. Merkwürdigerweise zielt das aber nicht auf die Objekte der bisherigen documenta-Ausstellungen im öffentlichen Raum von Kassel, die ja auch in das Konzept der aktuellen documenta eingreifen, sondern nur auf andere Objekte. Es geht offenkundig nicht um einen freiheitlichen Diskurs darüber, was Kunst in der Gegenwart zu sagen hat, sondern um die durchaus brutal zu nennende Durchsetzung einer Lesart. Nicht die Konkurrenz der Paradigmen soll Erkenntnis fördern, sondern die Ausschaltung anderer Fragestellungen. Die Documenta agiert nach der Logik des Monopolisten, der den Markt / den öffentlichen Raum beherrscht und sich als Platzhirsch nicht von anderen die knappe Ressource Aufmerksamkeit wegnehmen lassen möchte. Indem er anderen Institutionen nahe legt oder sie zwingt, auf Kunstpräsentationen während der documenta zu verzichten, sucht er, den eigenen Diskurs öffentlichkeitswirksam exklusiv durchzusetzen.

Geschädigt – das ist das Paradoxe daran – werden aber letztlich nicht die anderen Institutionen (die ja dauerhaft in Kassel präsent sind), sondern die documenta selbst: sie wird zum Ausnahmezustand und damit um ihren Erkenntniswert beschnitten. Genau genommen wird sie zu einem Event, bei dem es nicht mehr um Kunst und Erkenntnis geht, sondern nur noch um eine (Be-)Lehrstunde in Sachen einer bestimmten Kunstauffassung. Der belehrende Duktus der Kunstinszenierung, der die documenta-Ausstellungen seit 1997 zunehmend auszeichnet hat mit dem freien Spiel der Kunst wenig zu tun. Wer dieses freie (und darin gerade überaus politische) Spiel der Kunst schätzt, muss schon nach Venedig reisen, wo die Vielfalt der Kunst noch wirkliche Entdeckungen (aber natürlich auch entsprechend herbe Enttäuschungen) ermöglicht. Kassel verliert seinen Stellenwert für die Kunst, weil es in einem gewissen Sinne zu predigen beginnt: „Papa, don’t preach“!

Nun muss es den Besucher nicht kümmern, dass die documenta-Leitung sich von dem verabschiedet, was die Kunst der Moderne und der Gegenwart als freiheitliche Kunst auszeichnet. Er kann sich unmittelbar den einzelnen Werken zuwenden. Aber er sollte sich nicht vorschreiben lassen, was er in Kassel sehen darf und was nicht. Allein das Ansinnen der documenta-Leitung, darüber entscheiden zu können und zu dürfen, was im öffentlichen Raum (als Kunst) gezeigt werden darf, muss zurückgewiesen werden, denn hier stehen neben dem Interesse an einer erfolgreichen Ausstellung noch andere Werte auf dem Spiel.

Es ist der documenta schon gelungen, eine wichtige und zudem traditionsreiche Kunstausstellung zu unterbinden, nämlich die der evangelischen Kirche. Eine Ausstellung mit einer Arbeit von Gregor Schneider, immerhin Vertreter der Bundesrepublik Deutschland auf der Biennale in Venedig 2001 (und Gewinner des Goldenen Löwen), kam nicht zu Stande, weil die documenta intervenierte und darauf verwies, dass die Inszenierung von Schneider auf öffentlichem Grund stattfinden würde und daher zustimmungspflichtig sei – mit der aber nicht zu rechnen sei. Und so wurde die Ausstellung abgesagt. Aber nicht weil, wie die documenta behauptet, die evangelische Kirche es eingesehen habe, sondern schlicht, weil sie Angst vor der öffentlichen, aber eigentlich unverzichtbaren Auseinandersetzung um die Wahrheit der Kunst hatte. Gregor Schneider gehört zu den wichtigsten Künstlern dieser Welt: wenn man sich das vor Augen hält, wird die Dramatik des Eingriffs deutlich. Es ging nicht darum, irgendwelche halbseidenen Hobbykünstler oder minderwertige Kirchenkunst auszustellen, es ging nicht um irgendeine Provinzialität, sondern darum, einen Diskurs zu führen, der sich auf der Höhe der Zeit befindet.

Einen Diskurs zumal, der auf der documenta eben nicht stattfindet, sondern systematisch ausgeblendet wird. Denn wenn die documenta wirklich den weltweiten Diskurs spiegeln würde, dann würden auch die Fragen der Religionen thematisch werden, wie man es in allen Teilen der Welt in der Kunstszene beobachten kann. Könnte man sich darauf verlassen, dass die Fragestellungen, der 4,5 Milliarden Menschen auf der Erde, die sich zu den so genannten Weltreligionen bekennen, im Reflexionsgeflecht der documenta thematisch würden, wäre manches entspannter. Wer aber die offiziellen Diskussionsforen der documenta-Ausstellungen seit 1997 durchforstet, wird kaum auf Religionswissenschaftler oder Religionsphilosophen stoßen – von Repräsentanten der Weltreligionen ganz zu schweigen. Das ist für einen gesellschaftlichen, öffentlichen und von der Polis getragenen Diskurs völlig unangemessen.

Aber nicht nur der Diskurs um die Bindungen der Menschen (im Sinne des religio), sondern auch der um die Freiheit der Kunst muss geführt werden. In der Fortsetzung der Auseinandersetzungen um den Salon de Paris, die schließlich zum Salon des Refusés geführt haben, auf dem dann Künstler wie Monet, Manet, Renoir oder Sisley ausstellen konnten, muss die Auseinandersetzung um den Salon de Kassel dazu führen, dass ein freier und offener Diskurs um die Kunst geführt werden kann, der nicht den Regeln der Exklusion unterliegt, sondern dem Betrachter ermöglicht, unter verschiedenen Perspektiven sich der Gegenwart der Kunst zu nähern.

Dabei hat die documenta selbstverständlich auch gute Argumente auf ihrer Seite. Sie ist im jeweiligen Ausstellungsjahr der Maßstab schlechthin, an dem sich alle anderen Kunstaktivitäten messen lassen müssen – nicht nur in Kassel. Und die documenta hat ein Recht darauf, dass bestimmte Grenzen eingehalten werden. Es kann nicht angehen, dass andere Institutionen unter der Flagge der documenta segeln. Was documenta ist und was „Eventi collaterali“ muss immer klar sein. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch andere, und eben auch künstlerische „Eventi collaterali“ während der documenta in Kassel geben kann. Die Biennale in Venedig zeigt, dass das gut funktionieren kann, gerade das macht ihren Reichtum aus.

Also: Grenzziehungen und klare Benennungen sind notwendig. Aber die so benannten Grenzen gelten natürlich in beide Richtungen. Keinesfalls darf die documenta sich in Fragen der ästhetischen Gestaltwerdung der evangelischen oder katholischen Kirche einmischen. Ein Satz wie der, dass die Kirchen während der documenta doch Musikveranstaltungen oder Vorträge anbieten könnten, aber nicht zeitgenössische Kunst, ist ein wirklicher Skandal, den man nur mit Empörung zurückweisen kann. Das Ringen um die konkrete ästhetische Gestalt der evangelischen oder katholischen Kirche endet nicht mit dem Barock, es ist eine Frage der Auseinandersetzung mit Zeitgenossenschaft und zeitgenössischer Kunst. Und gerade weil die documenta seit Jahren in religiöser Perspektive zunehmend erkenntnisblind ist (die documenta unter Jan Hoet sei hier expressiv verbis ausgenommen), müssen die Kirchen eben selbst fragen, was die Erkenntnisse der Kunst für sie bedeuten. Wollten sie hier schweigen – und sie haben in dieser Frage viel zu lange geschwiegen oder sind falschen Fährten gefolgt -, dann würden sie sich selbst und ihren Anspruch auf Geistesgegenwart aufgeben.

Sicher könnte der Diskurs auch anders geschehen und müsste sich nicht auf von der Kirche veranstaltete Begleit-Ausstellungen zur documenta beschränken. Er kann auch in theologischen Reflexionen und Kommentaren zur documenta geschehen. Er kann in Gemeindebesuchen auf der documenta vollzogen werden. Aber damit ist die Frage der ästhetischen Gestaltwerdung der evangelischen oder katholischen Kirche ja nicht erschöpft. Es bedarf gerade auch des Diskurses darüber, wie sich dies im Raum des Religiösen konkretisiert.

Und es gehört zur Freiheit und zur Souveränität der Kunst, dass sie sich auf diese Fragen einlässt wie im Falle von Stefan Balkenhol oder von Gregor Schneider. Es mag historisch paradox anmuten, dass plötzlich die Kirchen auf der Seite der Freiheit der Kunst und eine Kunstinstitution auf der repressiven Seite stehen. Man mag das für einen Treppenwitz der Weltgeschichte halten. Aber so ist es nun mal. Das proklamatorische Recht auf die Repräsentanz von künstlerischer Freiheit hat die documenta nicht qua Institution, sondern muss es sich von Ausstellung zu Ausstellung erkämpfen und erneuern. Dazu muss sie aber offen sein für alle Fragestellungen, die Menschen weltweit bewegen. Das ist sie jedoch keinesfalls, in manchen Fragen repräsentiert sie den ideologischen Erkenntnisstand der Vulgärmaterialisten des 19. Jahrhunderts, ein Erkenntnisstand, der inzwischen geschichtlich überholt ist. Wenn die documenta so tut, als könne man die Auseinandersetzung so führen, dass man mit rigiden Beschränkungen und Machtdiskursen sich durchsetzt, ist ihre Zeit vorbei.

Wer in diesem Kontext von Trittbrettfahrern spricht, dem geht es eigentlich nur noch um die Konkurrenz der Aufmerksamkeiten und nicht mehr um Wahrheit und Erkenntnis. Wer aber an Letzterem interessiert ist, dem müssten Trittbrettfahrer (im Sinne weiterer Debattenbeiträge) sogar willkommen sein oder er gibt sein Erkenntnisinteresse auf. Überhaupt ist die Rede von „Trittbrettfahrer“ in diesem Kontext verräterisch. Keinesfalls erschleichen sich ja die katholische oder die evangelische Kirche eine kostenlose Teilnahme an der documenta (was dem ursprünglichen Gebrauch des Wortes Trittbrettfahrer entsprechen würde). Und als epigonale Veranstaltung kann man die Aktivitäten der großen Kirchen auch nicht bezeichnen: sowohl Balkenhol wie Schneider dürften im Betriebssystem Kunst wesentlich höhere Bedeutung haben, als die Mehrzahl der auf der documenta Ausgestellten. Ihre künstlerische Kompetenz ist unbestritten. Dann kann man aber nicht mehr von Trittbrettfahrern im Sinne der Epigonalität sprechen. Dann geht es nur noch darum, dass Ihnen verwehrt werden soll, während der Zeit der documenta in Kassel auszustellen. Oder, was ebenso Besorgnis erregend wäre, es soll insbesondere den Kirchen verwehrt werden, während der 100 Tage der documenta Kunst auszustellen.

Der Gestus des Exklusiven, der hier bei der documenta in einem doppelten Sinne deutlich wird (hier agieren nur wir und alle anderen sind ausgeschlossen/exkludiert) würde man sich heute in gesellschaftlichen Fragen nicht mehr bieten lassen. „Die feinen Unterschiede“, die hier zelebriert werden, konterkarieren auch die Programmatik aller documenta-Ausstellungen der letzten Jahrzehnte.

Selbstverständlich kann die documenta-Leitung im Sinne des Sonnenkönigs Ludwig XIV. behaupten: „L’art, c’est moir“ – nur wird ihr das keiner abnehmen. In diesen Zeiten, in denen eine Institution exklusiv festlegen könnte, was Kunst ist und wo sie sich ereignet, leben wir nicht mehr. Wollte sich die documenta darauf versteifen, sähe es für ihre Zukunft schlecht aus. Sie ist sicher ein Unterhaltungs-Event, das man zur Kenntnis nehmen muss. Aber will und kann sie mehr sein? Ich weiß es nicht.

Anmerkungen

[1]    http://de.wikipedia.org/wiki/Salon_de_Paris

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/77/393.htm
© Andreas Mertin, 2012