Parturient montes, nascetur ridiculus mus

Die evangelischen Aktivitäten zur d(13)

Andreas Mertin

Grandville, Illustration
Grandvilles Illustration für La Fontaines Fabel „Der kreißende Berg“


Unter den in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erschienenen Fabeln von Jean de La Fontaines ist auch eine, die sich auf lateinische Verse von Horaz aus der Zeitenwende bezieht, die wiederum ähnliche griechische Verse von Äsop aus der Zeit um 600 v.Chr. zur Vorlage haben.

Bei La Fontaine heißt es unter der Überschrift Der kreißende Berg[1]:

Ein Berg, der sich in Wehen fühlte,
Solch einen Schrei aus seinen Tiefen wühlte,
Daß jeder, der den Lärm vernahm
Und schnell herbeigelaufen kam,
Nicht anders meinte, als ein Ungetüm
Weit größer als Paris entsteige ihm
Was kam heraus?
Eine Maus! 

Denk ich einmal der Fabel nach,
Die hier so dreiste Lüge sprach
Und deren Sinn doch furchtbar wahr,
So stellt sich mir ein Autor dar,
Der wichtig sagt: 'Mein Lied wird singen
Von der Titanen urgewaltigem Ringen,
Von ihrem Kampf mit Gott.' Das ist gar viel versprochen.
Was aber kommt herausgekrochen?
Was ist des Dichters Kind?
Wind!

Allgemein bezeichnen wir mit dem Spruch „Es kreißt der Berg, und dann gebiert er eine Maus“ den Umstand, dass etwas mit geradezu ungeheurem Aufwand betrieben wird, um dann doch nahezu NICHTS zu Stande zu bringen.

Und Grandville fängt in seiner oben abgebildeten Illustration[2] die in der Fabel geschilderte Situation überaus ironisch, aber atmosphärisch äußerst treffend ein: wir sehen den Berg, wie er stöhnt und kreißt und schließlich ermattet danieder liegt und wir sehen die Maus, die ganz nach der Art ihrer berühmten Verwandten Jerry keck den Betrachtern entgegen schreitet, als sei hier etwas ganz ungeheuer Bedeutsames geschehen. Und während die Betrachter noch erwartungsvoll schauen oder in den Überlieferungen nach dem eigentlich zu Erwartenden suchen, geschieht vor Augen so gut wie NICHTS.

Nun kann man diesen Sinnspruch und dieses Sinnbild sehr gut auf die Aktivitäten der Evangelischen Kirche zur anstehenden dOCUMENTA (13) anwenden. Nur dass es nicht um Dichter und ihre Werke geht, sondern um das Arbeitsergebnis der vier zentralen Institutionen der Evangelischen Kirche in Deutschland in Sachen Bildender Kunst: dem Kulturbüro der EKD, dem Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, dem Verein Artheon der Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche und der gastgebenden Kirche von Kurhessen-Waldeck (nicht zuletzt vertreten von ihrer Akademie). Diese Institutionen sind drei Jahre mit der Begegnung von Kunst und Kirche und der Frage nach der Bedeutung von Kunst für die Religion schwanger gegangen und präsentieren nun, pünktlich zu Beginn der 100 Tage währenden d(13), das Ergebnis ihrer Arbeit:

Von ihr lernte ich, fast von nichts zu leben
und das Nichts noch zu sparen.
Keller: Das Sinngedicht[3]


Was hätte man aus dieser Arbeit als Ergebnis erwarten können? Dazu hilft ein Blick in die Geschichte des kirchlichen Engagements zur documenta. Seit 30 Jahren veranstaltet die Evangelische Kirche in Deutschland in unterschiedlichen Trägerschaften Begleitausstellungen zur jeweiligen documenta in Kassel.[4] Das macht sie nicht, weil sie der documenta Konkurrenz machen möchte – das wäre sicherlich ein sinnloses Unterfangen – und auch nicht, weil sie meint es besser machen zu können – das wäre ebenso unsinnig, weil anachronistisch.

Vielmehr fragt die Evangelische Kirche seit 30 Jahren, was sie von der Bildenden Kunst der Gegenwart lernen kann, welche Erkenntnisse die Bildende Kunst im Raum der Kirche vermitteln kann. Das ist beileibe keine akzidentielle Frage, sondern spätestens seit den kulturtheologischen Reflexionen und Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts eine essentielle Frage. Denn selbst wenn man mit dem barthschen Flügel der Dialektischen Theologie darauf beharrt, dass die Kultur und hier die Bildende Kunst keine genuin theologischen und religiösen Einsichten zu vermitteln vermag (weil mit Barmen I nur Jesus Christus „das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“[5] ist), so gilt dennoch die Erkenntnis, dass die Kultur unter „dem Gesichtspunkt der Schöpfung (regnum naturae) ... die dem Menschen ursprünglich gegebene Verheißung dessen (ist), was er werden soll“ – wie es Karl Barth zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert hat.[6] Selbst in der kulturkritischsten Variante ist die Theologie also auf die Wahrnehmung der Kunst und der Kultur verwiesen, insofern diese über die Gegenwart des Menschen Auskunft gibt.

Bei Schleiermacher oder Tillich geht die Bedeutung der Kunst noch weit darüber hinaus. Von Friedrich Daniel Schleiermacher stammt die Zuweisung der Kunst als Sprache der Religion[7], von Paul Tillich die Bestimmung der Kunst als Manifestation letzter Wirklichkeit.[8] In beiden Ansätzen geht es darum, dass ohne eine qualifizierte Wahrnehmung und Arbeit mit der Kunst, Theologie, Kirche und Religion gar nicht denkbar sind.

Dementsprechend war es in all diesen Jahren immer das Anliegen der Kuratoren der kirchlichen Begleitausstellungen, von der Kunst für die Kirche zu lernen, die Kunst als Explorationsfeld (über die Jahre hinweg unter ganz unterschiedlichen Fragestellungen) ernst zu nehmen und den sich so eröffnenden Erfahrungsraum für die Besucher wie für die Gemeinde fruchtbar zu machen. Das ist ein tastender und in mancher Hinsicht auch problematischer Erkundungsgang, aber er ist notwenig für die Kirche und die Gemeinden.

Rückblick

Ich habe 2007 in dieser Zeitschrift im Rückblick auf die letzte documenta-Begleitausstellung AUDITION | VISION beschrieben, wo die künftigen Herausforderungen für die Evangelische Kirche liegen:

„Faktisch war es eine zeitlich gesteuerte Aufteilung der Kirchen in einen Gottesdienstraum und einen Ausstellungsraum (mit minimalen zeitlichen Überschneidungen). Das aber ist Normalität im kulturellen Engagement der christlichen Kirchen, dass nämlich ihre Kirchenräume auch als Konzert- und damit Kulturräume genutzt werden. Man kann sich damit zufrieden geben und offenkundig ist die evangelische Kirche in der aktuellen Verfasstheit damit auch zufrieden.

Trotzdem bleibt es unbefriedigend, denn das Verhältnis reduziert sich auf zwei bloß nebeneinander existierende kulturelle Sphären. Dabei nutzt man nicht einmal ansatzweise die Möglichkeiten, die religiös wie ästhetisch in diesen Begegnungen von Kunst und Religion stecken. Oftmals ist es nur fehlende religiöse wie ästhetische Fantasie, die einem produktiveren Geschehen im Wege steht. Wenn Dichte nicht nur eine Eigenschaft des Kunstwerks ist, sondern ein komplexes Geschehen, das sich aus der Interaktion von Werk und Betrachter/Nutzer ergibt, dann geht es also künftig darum, diese Verdichtungen von Erfahrung auch möglich zu machen. Dabei liegt die Bringeschuld einseitig auf Seiten der Veranstalter. Sie müssen durch einen neuartigen (und ganz und gar nicht konventionellen) Umgang mit der Kunst deren Dichte ausloten. ... Veranstalter und gerade auch kirchliche Veranstalter müssten so ein Programm auflegen, dass eine Vielzahl von Besuchern für das je Spezifische der Situation wahrnehmungsfähig macht. Nicht die Vorstellung des Kunstwerks als Solitär steht dabei im Vordergrund, nicht die Erläuterung des kuratorischen Konzepts, sondern die Erfahrung des Werkes im jeweils neu generierten Kontext von Raum und Betrachter. Im religiösen Raum teilt sich die Erfahrung dann in eine ästhetische und eine religiöse Erfahrung (deren Möglichkeit zwar beide simultan in uns liegen, aber unterschiedlich aktualisiert werden). Deren produktives Spannungsverhältnis wäre dann in der Performance geltend zu machen. Das ist die Herausforderung für die Zukunft.“[9]

Soweit die von mir im Rückblick auf die bisherigen Ausstellungen formulierten Erwartungen an die Fortsetzung der Ausstellungsreihe.

Was aber ist nun de facto vor Ort geschehen? Wenn man den Verlautbarungen glaubt, dann haben die genannten kirchliche Gremien drei Jahre lang getagt, haben sich lange mit der Frage aufgehalten, ob man überhaupt professionelle Kunstausstellungen braucht und ob es nicht auch eine Nummer kleiner geht, haben Kunstprojekte erörtert, sind – weil sie offensiv in den öffentlichen Raum vordringen wollten – auf den Widerspruch der Documenta-Leitung und der Documenta-Geschäftsführung gestoßen, haben dann alles abgesagt und sich mit einem Minimum (in der Mode würde man sagen: einem Hauch von NICHTS) begnügt. Dieses NICHTS ist ein Symposion als Ausdruck der (gescheiterten) Liebe zur Kunst. Ich bin mir nicht sicher, ob man das überhaupt noch Liebe nennen kann, wenn man so schnell aufgibt, aber sei es drum.

Das Symposion

Dieses NICHTS wird nun zelebriert und es lohnt sich, das genauer zu betrachten. Drei Dinge sind dabei getrennt voneinander in den Blick zu nehmen:

  1. die verschwurbelte Begründung
  2. die merkwürdige Inszenierung und
  3. die bemühte Reminiszenz an Plato.
Die verschwurbelte Begründung: verschmähte Liebe

Auf der mit Goldprägung versehenen Einladungskarte zur Veranstaltung konnte man unter anderem Folgendes lesen: „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. - Kunst und Religion haben seit jeher ein Auge füreinander und buhlen in wechselnden Rollen um die Gunst der jeweils anderen. Und dies umso mehr, wenn die Schönste im ganzen Land - die dOCUMENTA 13 - in der Stadt ist. Doch was geschieht, wenn diese das Werben jener nicht erhört? Dann entspinnt sich ein vertracktes Beziehungsspiel zwischen Kunst und Religion, Kirche und dOCUMENTA 13, dem die Evangelische Kirche in Kurhessen-Waldeck gemeinsam mit dem Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem Kulturbüro der EKD und der Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche "Artheon" ein Symposion ausrichtet: Das FEST der LIEBE zur KUNST - mit einem festlichen Auftakt in der Evangelischen Akademie Hofgeismar, einem Besuch auf der dOCUMENTA und einer Neuauflage des ältesten erkenntnisfördernden Liebesspiels überhaupt: dem platonischen "Gastmahl" in der Alten Brüderkirche mit glühenden und verprellten, jugendlichen und reiferen LiebhaberInnen der Kunst ...“

So verschwurbelt kommt tatsächlich der Begründungs- und Beschreibungstext zu der einzig verbliebenen Aktivität der Evangelischen Kirche zur dOCUMENTA 13 daher. Ehrlich gesagt finde ich diese Art von Texten, um nicht zu sagen Ergüssen, zum Erbrechen eklig. Das hat etwas von missratener Backfisch-Poesiealben-Lyrik. Schon allein die verwendete Sprache! „Ein Auge füreinander haben“ – „um die Gunst des anderen buhlen“ – „die Schönste im ganzen Lande“ – „das Werben nicht erhören“. Das stammt nun alles aus wirklich überholter und durch und durch verstaubter Vergangenheit und atmet nicht einen Hauch von Geistesgegenwart. Von Esprit ganz zu schweigen. Die älteste und zugleich überaus entlarvende Quelle für diese Formulierungen ist die biblische Geschichte von Susanna im Bade, bei der zwei geile alte Böcke (Institutionenvertreter zumal) ein Auge auf die Schöne werfen und in zudringlichster Weise um ihre Gunst buhlen, aber die unsittlich Bedrängte ihr Werben nicht erhört. Ja, so selbstironisch könnte man das Verhältnis der Kirche zur Kunst durch die Jahrhunderte metaphorisch durchaus benennen. Denn die Schöne war schon verheiratet, als die beiden Alten ihr Auge auf sie warfen und zu Recht wurden sie für ihr erpresserisches Begehren abgestraft. Das könnte man durchaus auf das historische Verhältnis von Kirche und Kunst übertragen, aber das lag den Veranstaltern des Symposions ganz offensichtlich nicht im Sinn.

Aber auch die Verwendung des Wortes buhlen im Sinne der Buhlschaft hat in der sprachlichen Tradition etwas ebenso Antiquiertes wie Ambivalentes. Denn schon dem Grimmschen Wörterbuch[10] ist nicht klar, ob buhlen in der Sache nicht eigentlich das Werben um eine bereits vergebene Frau meint (und die Kirche ist nach eigenem Bekenntnis ja durchaus schon vergeben, wenn man vom Bild der Kirche als Braut Christi ausgeht). Aber auch der Verweis auf die Teufelsbuhlschaft sollte an dieser Stelle nicht fehlen, vor allem wenn man mit Niklas Luhmann davon spricht, dass jede religiöse Perspektivierung der Kunst notwendig beim Teufel landet.[11] In der Sache von Kunst und Kirche gibt es aber kein gegenseitiges Buhlen, so etwas spielt sich allenfalls auf der Ebene des religiösen Kunsthandwerks ab.

Bleibt der lyrische Hinweis auf die Schönste im Lande, die ab und an angeblich in der hässlichsten Stadt westlich Sibiriens[12] in Form der Documenta residiert. Sicher eine pittoreske Anspielung auf das Grimmsche Jubiläum in Hessen, aber was sagt das zur Sache? Auch hier kommt die Ambivalenz zum Tragen: Wer fragt im Märchen eigentlich nach der Schönsten im Lande? Ist es nicht die Stiefmutter, die sich selber für die wahre Schönste hält? Und ist das nicht so, dass wir landauf, landab hören und lesen, dass die Kunst ohne religiöse Grundierung vor die Hunde geht, also wortwörtlich zynisch wird? Darin sind sich doch Hans Sedlmayr und seine Adepten einig: der Verlust der Mitte[13] ist der Kunst nicht zuträglich. Und auch die gegenwärtige Kurie in Rom wird nicht müde zu wiederholen, dass ohne den Glauben die Kunst ihre wahre Schönheit verliere.[14] Will man daran anknüpfen? Das doch wohl hoffentlich nicht!

In der Sache argumentiert der Text mit dem Bild des verschmähten Liebhabers. Aber das ist ein unzutreffendes Bild! Weder trifft er auf die Kunst noch auf die documenta zu, sondern allenfalls und ausnahmsweise auf die jetzige Leiterin der documenta, die darin aber nicht repräsentativ für das Betriebssystem Kunst und schon gar nicht für die Kunst an sich ist.  Es handelt sich mit anderen Worten nicht um ein Problem von Kunst und Kirche bzw. Kunst und Religion, sondern um ein Spezifikum dieser documenta 13. Für die Idiosynkrasien der documenta-Leitung können die Künstler und die Kunst aber nichts. Wer einen Raum nur deshalb zu verlassen droht, weil er irgendwo ein Kreuz an die Wand genagelt sieht, steht in einem merkwürdigen Verhältnis zur abendländischen Kulturgeschichte, zumindest ist er ausgesprochen unsouverän. Die letzte Biennale in Venedig hat gezeigt, dass es auch ganz anders geht. Deren Leiterin hatte ein barockes Abendmahlsbild von Tintoretto ins Zentrum(!) der Ausstellung gestellt[15] (ganz so wie Roger Buergel den „Engel der Geschichte“ von Paul Klee bei der letzten documenta ins heimliche Zentrum gehängt hatte). Von verschmähter Liebe also keine Rede.

Wenn man das lyrische Bild schon (satirisch) ernst nimmt, ist es keine verschmähte Liebe, sondern eher eine den Liebenden verschmähende Schwiegermutter, um die sich hier der Konflikt dreht. Und von einer/m wirklich Liebenden oder zumindest Verliebten hätte man erwartet, dass er/sie diesen Konflikt durchfechtet. So jedenfalls wird die Kirche kein gutes und lebensdienliches Vorbild für die glühenden und verprellten, jugendlichen und reiferen LiebhaberInnen.

Die merkwürdige Inszenierung: die Reste vom Mahl der Neureichen

Eingeladen wird zum Symposion mit einer Karte, die die gerade skizzierte Ambivalenz fortsetzt und steigert. Man könnte das Design als Parvenü- oder Geiss-Stil charakterisieren, als Ausdruck einer neureichen Familie, die ihren Reichtum nun endlich zur Schau stellen will, wobei das aber zur aufgedonnerten Betonästhetik verunglückt. Oder aber als goldtrunkenes Rollback von der aufgeklärten florentinischen Kunst zur religionsdurchtränkten und goldgesättigten und unter byzantinischem Einfluss stehenden sienesischen Malerei. Vermutlich ist es aber nur Gedankenlosigkeit (was wieder zur Ästhetik der Geissens passt).

Ralf Schmerberg, Dirty DishesAls visuelle Grundlage dient ein leicht angeschnittenes Foto von Ralf Schmerberg aus dessen Serie „Dirty Dishes“ von einem Brunch auf dem Film Festival in Cannes.[16] Es zeigt einen Kellner, der gerade das Dessert abträgt. Das ist insofern interessant, weil Schmerberg mit seinen Arbeiten auf die Dekadenz der Reichen und Neureichen und der zivilisatorischen Entwicklung der Gegenwart zielt. Anders etwa als bei den Fallenbildern von Daniel Spoerri, die eine Tischsituation nach einem gemeinsamen Essen fixieren, geht es bei Ralf Schmerberg durchaus kritisch um die Büffets und Banketts dieser Welt bis hin zum Event-Catering. Insofern ist seine Bildvorlage wahr, wenn deren Verwendung als (Selbst-) Kritik gemeint war. Denn so geht es beim heutigen kirchlichen Gespräch über Kunst zu: man hätte gerne allenthalben „Austernschalen auf Silbertabletts“ und findet freilich in der Regel „ketchupbefleckte Pommes-Pappschälchen“.

Über die beschnittene Vorlage wurde nun in „güldenen Lettern“ der Titel der Veranstaltung gesetzt sowie die Namen der veranstaltenden Institutionen und die Veranstaltungsorte.

Damit gerät die künstlerische Vorlage in einen merkwürdigen Kontrast zur gewählten Inszenierung. Sie wird, da nur teilweise sichtbar, um ihres kritischen Impulses kupiert. Anders als beim oben abgebildeten Katalog kann bei der Einladungspostkarte nicht unmittelbar und nur sehr bedingt realisiert werden, dass es sich um die Hinterlassenschaften eines Mahls handelt, also den zum Abwasch bestimmten Teil des Festes. Der ikonographisch korrekte Titel der Veranstaltung müsste daher eigentlich „Post festum“ lauten und würde dann ebenso auf Plato anspielen wie auf die beendete Geschichte von Kunst und Kirche. So aber will mir die Logik des Ganzen nicht recht einleuchten. Entweder besteht ein Widerspruch zwischen Bildbotschaft und der Intention der Veranstaltung (dann will man gar kein Fest feiern oder doch nur zynisch) oder man hat in der Inszenierung geschludert.

Die bemühte Reminiszenz: Plato und die Künste

Bleibt der Rekurs auf das Gastmahl des Plato. Wie viel Sinn macht es, sich im Rahmen der einzigen Kunst-Aktivität der Evangelischen Kirche zur dOCUMENTA (13) auf das Gastmahl zu beziehen? Spielt dieser Text in der evangelisch-theologischen Theoriebildung zur Kunst eine besondere Rolle? Oder ist es nur eine Art feuilletonistisches Aperçu, das sich bei näherer Betrachtung ins NICHTS auflöst? [Banal wäre die Erklärung, man wollte nur ein Fest feiern, das aber geistreich. Und da kam man auf das Vorbild bei Plato. Und da die Feier etwas mit Kunst zu tun haben sollte, nannte man sie Ein Fest der Liebe zur Kunst. Liebe natürlich, weil im Gastmahl der Eros das treibende Motiv ist. Aber solche banalen Erklärungen schenken wir uns, die Veranstalter werden sich schon was Sinnvolles dabei gedacht haben.] Kunsttheoretisch müsste man freilich eher auf Platons Staat rekurrieren als auf das Gastmahl.[17] Dann aber fände man sich in einem weitgehenden Gegensatz zu den Kunstauffassungen der documenta: „Rettung der Polis bedeutet für Platon Rettung der auf Einsicht, Wissenschaft, Arbeitsteilung und vernunftgeleitetes Handeln und Herstellen gegründeten Polis sowie Verbannung alles dessen, was den von der Vernunft geleiteten Lebens- und Handlungszusammenhang bedroht. Das traditionelle Enthusiasmusverständnis der Dichter und Rhapsoden weist Platon daher als Bedrohung der Polis zurück ... Der traditionelle Anspruch der Dichter und Maler, gottbegeistert Übermenschliches zu vermitteln, wird im ‚Staat’ als Täuschung und Gaukelei abgewiesen. Wer, wie der nachahmende Maler, nichts von einem einzigen Handwerk versteht und darüber auch keine Rechenschaft abgeben kann, ist von der Wahrheit weiter entfernt als der Handwerker. Während Gott die unwandelbare Idee des Stuhls schafft, der Handwerker im Blick auf diese Idee einen bestimmten Stuhl, kann der Maler nach Platon nur im Blick auf diesen bestimmten Stuhl einen vortäuschenden Scheinstuhl schaffen.“[18] Wenn ich es recht sehe, sind eigentlich alle bisherigen Veranstaltungen der  documenta gegen dieses Verständnis von Kunst entwickelt worden.

Aber mit dem Wechsel des Bezugstextes und dem Rekurs auf das Gastmahl wird es nicht besser. Auch dessen Ideal hat mit der Gegenwartskunst wenig, mit den Vorstellungen eines Benedikt XVI. aber schon viel mehr zu tun. Wie heißt es doch in der von Plato referierten Rede der Diotima: „Was glauben wir erst, sagte sie, wenn es einem zuteil würde, das Schöne selbst lauter, rein und unvermischt zu sehen, nicht voll von menschlichen Fleisch und von Farben und von all dem anderen sterblichen Flitter, sondern wenn er das göttliche Schöne selbst in seiner Eingestaltigkeit zu sehen vermöchte? Glaubst Du, sagte sie, es werde ein Mensch ein schlechtes Leben führen, der dorthin schaut und das anblickt und mit ihm zusammen ist? Oder denkst du dir nicht, sagte sie, dass dort und dort allein, wenn er das Schöne schaut durch das, wodurch es sichtbar wird, ihm das zuteil wird, dass er nicht nur Schattenbilder der Tüchtigkeit zeugt, da er ja auch nicht ein Schattenbild berührt, sondern das Wahre, weil er das Wahre berührt. Und wenn er die wahre Tüchtigkeit erzeugt und aufgezogen hat, ist ihm vergönnt, gottgeliebt zu werden, und dann kann, wenn überhaupt ein Mensch, auch er unsterblich sein.[19]

Ich sehe in der sich hier äußernden Idee der Kalokagathia wenig Berührungspunkte mit der philosophischen Reflexion der Gegenwartskunst. Man muss die grundsätzliche Differenz dieses Denkens zur Moderne im Blick behalten: „Der Begriff des Schönen hatte in der griechischen und römischen Antike und bis zur Renaissance keine primär ästhetische, sondern eine primär ethisch-praktische bzw. ontologische Bedeutung ... (Für Platon) dient der Begriff des Schönen nicht, wie im neuzeitlichen Sinne, zur deutenden Ordnung alles dessen, was man im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung schöne Kunst und Naturschönes nennt. Er bezeichnet vielmehr das, was im Tiefsten die Einheit und Ordnung, die Schönheit und den Glanz des Kosmos begründet. Der göttliche Logos, dessen Licht und Glanz in der Gestalt der Schönheit aufleuchtet, verleiht der Materie, dem Gestaltlosen und dem Formlosen, Gestalt und Form ...“[20]

In diesem Sinne ist der Rekurs auf Plato nicht zuletzt eine Steilvorlage für re-katholisierende Tendenzen in der evangelischen Kunstdeutung. Platon paraphrasierend und ihm zustimmend kann Kardinal Walter Brandmüller schreiben: „Gäbe es auch keinen anderen Beweis für die Wahrheit dieser Philosophie – es genügte die nach Jahrhunderten noch von uns bewunderte Schönheit jener Kunst, die auf dem Boden solcher Philosophie errichtet ist, um uns von ihrer Gültigkeit zu überzeugen. Es war aber niemand anderer als die Kirche, in deren Schoß diese Wahrheit gedacht und gelehrt, und für deren Gottesdienst diese Kunst vor allem andern geschaffen wurde.“[21] Denn: „Schönheit ist in metaphysischer Wahrheit verankert“. Ich bin mir nicht sicher, wie weit die Veranstalter des Symposions von diesen Gedanken entfernt sind und ob sie nicht doch letztlich damit sympathisieren. Überraschen würde es mich nicht. Formulierungen wie „Kunst und Religion haben seit jeher ein Auge füreinander“ deuten an, dass sie von einer konstitutiven, historisch verankerten Beziehung beider Bereiche ausgehen – eine Perspektive, die mit der Moderne, eigentlich aber schon mit der Renaissance aufgehoben wurde. Protestantismus sollte sich zur Profanität der Kunst[22] bekennen und keine metaphysischen Träume kultivieren.

Epilog

In Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Schrift „Das wunderbarliche Vogelnest“ gibt es eine beiläufige Reflexion darüber, was passiert, wenn man ins NICHTS verschwindet und nicht mehr wahrnehmbar ist. Zwar wird das Verschwinden durchaus bemerkt, aber letztlich bewirkt es NICHTS: „Da hörte ich, wie sehr mein Verschwinden sie verwunderte, wie unterschiedlich sie darüber dachten und sprachen, wo ich hingeraten sein könnte - woraus ich wiederum ersah, dass die Verwunderung aus der Unwissenheit entsteht und wie leicht man aus einer Mücke einen Elefanten macht, solange man nicht weiß, dass der kreißende Berg nur eine Maus gebären wird.“[23]

Anmerkungen

[1]    La Fontaine (2003): Fabeln: Die Bibliothek der Weltliteratur. Berlin: Directmedia Publ (Digitale Bibliothek, 89).

[2]    La Fontaine, Jean de (2003): Sämtliche Fabeln. Mit den Illustrationen von Grandville. Unter Mitarbeit von Ernst Dohm. Düsseldorf: Albatros.

[3]    Keller, Gottfried (1966): Das Sinngedicht. In: Gottfried Keller: Werke. in fünf Bänden, Bd. 3. Hg. v. Hans Richter. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag (Bibliothek deutscher Klassiker), S. 5–283, S. 134.

[4]    Schwebel, Horst (2007): Kunstausstellungen in Kirchenräumen. Am Beispiel der documenta Begleitausstellungen. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 9, H. 47. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/47/hs7.htm.

[5]    und in der Konsequenz: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

[6]    Barth, Karl (1928): Die Kirche und die Kultur. In: Barth, Karl (Hg.): Die Theologie und die Kirche. München: Kaiser (Gesammelte Vorträge / Karl Barth, 2), S. 364–391, S. 368.

[7]    Schleiermacher, Friedrich Daniel; Twesten, August (1841): Friedrich Schleiermachers Grundriß der philosophischen Ethik. Berlin: Reimer: “so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.”

[8]    Tillich, Paul (1975): Zur Theologie der Bildenden Kunst und Architektur. In: Tillich, Paul: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur. Gesammelte Werke Band 9. 2 Aufl. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, S. 345–355. Eine Theologie der bildenden Kunst setzt voraus, daß in Bildern und Skulpturen - und mit einem spezifischen Unterschied auch in Werken der Architektur - die Manifestation letzter Wirklichkeit erkennbar ist.

[9]    Mertin, Andreas (2007): VISION und AUDITION. Ein Rückblick. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 9, H. 49. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/49/am223.htm.

[10]   http://woerterbuchnetz.de/DWB/

[11]   Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk (1990): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld: Haux. S. 44f.

[12]   Vgl. Aschenputtel tanzt auf der documenta. Wunderliches und Märchenhaftes aus Kassel, NZZ 28.04.2012,  www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/aschenputtel-tanzt-auf-der-documenta_1.16656116.html

[13]   Sedlmayr, Hans (1948): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. [1. Aufl.]. Salzburg: Müller.

[14]   Brandmüller, Walter (2009): Kunst – Kult – Kirche.
Online verfügbar unter http://www.zenit.org/article-19130?l=german, zuletzt geprüft am 07.03.2012.

[15]   Vgl. Mertin, Andreas (2011): Höhlen und Lichter. Tintoretto - Drei Gemälde. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 13, H. 73. https://www.theomag.de/73/am364.htm.

[16]   Schmerberg, Ralf (2005): Ralf Schmerberg. Dirty dishes. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz.

[17]   Oelmüller, Willi; Dölle-Oelmüller, Ruth; Rath, Norbert (Hg.) (1993): Diskurs: Kunst und Schönes. 2., unveränd. Paderborn: Schöningh (Uni-Taschenbücher, 1104).

[18]   Oelmüller, Willi (1993): Einleitung I. Zu einem Diskurs über Kunst und Schönes im Spannungsfeld Kunst/Schönes und Geschichte. In: Oelmüller / Dölle-Oelmüller / Rath (Hg.): Diskurs: Kunst und Schönes. a.a.O., S. 11–62, hier S. 31.

[19]   Plato (1974): Symposion, 210 a – 212 a, in: Platon. Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400.Geb. Artemis Paperbackausg.in 8 Bdn. Unter Mitarbeit von Rudolf Rufener. München: Artemis.

[20]   Oelmüller, Willi (1993): Einleitung I, a.a.O., S. 40f.

[21]   Brandmüller, Walter (2009): Kunst – Kult – Kirche. a.a.O.

[22]   Marti, Kurt (1958): Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität. In: Evangelische Theologie, H. 8.

[23]   Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von (2012): Das wunderbarliche Vogelnest. Erster und zweiter Teil Abenteuer zweier Unsichtbarer. Berlin: AB - Die Andere Bibliothek (Die Andere Bibliothek, 328). S. 15

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/77/am389.htm
© Andreas Mertin, 2012