Ars gratia artis

Warum ich nicht am Kulturkongress der EKD teilgenommen habe

Andreas Mertin

Ich könnte sagen: Weil er absehbar langweilig werden würde und langweilig konzipiert war. Oder: Weil er erkennbar eine Propagandaveranstaltung der Kirche sein sollte, die keinesfalls der Erkundung der Kultur dient. Oder: Weil Kongresse dieser Art Kultur eher verhindern als fördern.

An einer Veranstaltung teilzunehmen, der jeder Funke von Auseinandersetzung, von Differenz und Dissidenz fehlt, eine Veranstaltung, die nicht einmal sagen kann, was sie aus der Gegenwartskultur für die theologische Reflexion der Zeit lernt, die – um überhaupt in der Kultur vorzukommen – Werke in Auftrag gibt, um dann stolz verkünden zu können, man sei noch Teil der Kultur, eine solche Veranstaltung ist eine zu große Beleidigung für den Intellekt. Nähme man daran Teil, würde man so tun, als wäre das in Ordnung.

Die Wahrheit ist aber viel trivialer: Ich war nicht eingeladen und auch nicht erwünscht. Und das zu Recht. Kritisches Denken ist dem Protestantismus inzwischen inkompatibel geworden. Der institutionalisierte Protestantismus beherrscht nun brillant die Kunst der Kleinkunst und ist damit ganz zufrieden. Wenn überhaupt Kunst ins Blickfeld gerät, dann muss es ein Event sein, dann muss die Kunst die Botschaft der Kirche künstlerisch vermitteln und sich in die Strategien von kirchlichen Institutionen einbinden lassen. Ein Paulus-Stück etwa zum Kulturkongress der EKD. Oder etwas über die 10 Gebote zur Kulturhauptstadt Ruhrbiet. Oder etwas über Paul Gerhardt anlässlich seines Jubiläums. Jedenfalls etwas Eigenes, Kirchliches, leicht künstlerisch bearbeitet, so dass man zufrieden sagen kann, man verspüre eine gewisse künstlerische Relevanz des Ganzen. Und das eigene Thema (der Glaube, die Bibel, die kirchliche Binnenkultur) werde in der säkularen Kultur als bedeutungsvoll wahrgenommen, auch wenn es sicher keinen Erkenntnisgewinn hervorruft. Allenfalls solche, dass man sich mit Literaten hinsetzt und über die Neuformulierung von Krippenspielen nachdenkt. Das stelle ich mir allenfalls interessant vor, wenn Charlotte Roche dabei mitarbeitet.

Mediatisierung – Konventionalisierung – Utilitarisierung beschreiben stichwortartig einige der funktionalen Aspekte, unter denen die Künste heute (nicht nur in den Kirchen) wahrgenommen und trivialisiert werden. Insofern Kunst aber vom Nicht-Nützlichen, Nicht-Konventionellen, Nicht-Mediatisierbaren lebt, steht damit die gesamte Kultur in Frage. Glanz oder gar nicht beschreibt die beiden Seiten ein und desselben gesellschaftlichen Prozesses, es beschreibt die Bedingungen, unter denen Kultur im emphatischen Sinne eines lebensnotwendigen Erkenntnisgewinns heute nicht mehr zustande kommt. Und dafür ist der Kulturkongress, zumindest im Blick auf den Bereich, in dem ich tätig bin, durchaus repräsentativ.

Die Konzeption des Kulturkongresses machte deutlich, dass niemand erkunden wollte, was in der Kultur der Gegenwart passiert und wie dies etwa kulturtheologisch zu begreifen und zu deuten wäre. Sie machte auch deutlich, dass man den Rückzug, den die Evangelische Kirche seit 15 Jahren aus der Kultur vollzieht, nicht zu thematisieren gedachte. Man lobt sich selbst für seine Filmarbeit, verschweigt aber, wie viele Ressourcen in diesem Gebiet zwischenzeitlich gekürzt wurden. Man redet über bildende Kunst, verschweigt aber, dass die Aushängeschilder der Evangelischen Kirche in Sachen Bildender Kunst inzwischen jegliches Gefühl für Qualitätsmaßstäbe verloren haben, so dass man inzwischen gut ökumenisch Papstmaler als Kunst der Gegenwart präsentiert.

Das alles macht deutlich, dass es am kirchlichen Willen fehlt, sich in Sachen Kultur wirklich auf Augenhöhe zu engagieren. Es gehört deshalb meines Erachtens zu den grundsätzlichen Aufgaben eines aufgeklärten Individuums in der heutigen Zeit, für das, was Kultur sein soll, selbst Sorge zu tragen. Es geht nicht zuletzt darum, zu streiten, was im Blick auf die kommenden Generationen kulturell vermittelt werden soll, ob tatsächlich das Epigonale triumphieren soll. Es geht um die Frage, ob das, was seit Platon zur kulturellen Überlieferung gehört, dass nämlich jede Generation der nächsten vermittelt, was von dem auf sie Gekommenen noch tradierbar ist, heute noch eine wahrgenommene Sorge ist.

Kulturelle Bildung hieße dabei gerade nicht, Einübung in die Kultur im Sinne einer affirmativen Übernahme. Wenn es eine Lehre aus den ästhetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts gibt, dann lautet sie: was wir vermitteln müssen, ist nicht Einverständnis, nicht Nützlichkeit, sondern Differenz oder auch Dissidenz im Sinne der Genese dieses Begriffs im 16. Jahrhundert, als er jene charakterisierte, die nicht der Staatsreligion angehörten. Wenn die staatstragende Kultur, wenn die Kirchen und Verbände zu solchen Rahmensetzungen nicht mehr bereit oder nicht mehr fähig sind, weil sie sich mit der medialen Grundversorgung begnügen, dann müssen wir eben Parallelkulturen im Sinne eines kulturellen Pluralismus schaffen.

Was heißt das? Meines Erachtens kann man heute nicht mehr darauf vertrauen, dass sich Institutionen wie die Kirche oder die kommunale Kulturbehörden für die Kultur im emphatischen Sinne einsetzen. Stattdessen unterliegt auch die kulturelle Landschaft einer Individualisierung, die es erzwingt, dass der einzelne Kulturinteressierte die Tradierung der Kultur zu seiner Sache macht, d.h. für sie Sorge trägt. Wenn auch in den Kirchen inzwischen die Mediatisierung nahezu vollständig abgeschlossen ist, dann gilt es durch überzeugende individuelle Initiativen Gegenkulturen zu schaffen, von denen man nur hoffen kann, dass sie die Situation nachhaltig beeinflussen. Ulrich Beck hat in seinem Buch „Der eigene Gott“ die Konsequenzen der Entwicklung zur Individualisierung am Beispiel der Religion und des Religiösen nachgezeichnet. Vieles von seinen Beschreibungen kann man auf die Kunst und die Kultur übertragen.

Künftig geht es nicht mehr um den Appell an die Institutionen, sich um die Kultur zu kümmern. Diese Institutionen werden gesellschaftlich weiterhin an Bedeutung verlieren. Kulturkongresse der Evangelischen Kirche in Deutschland sind deshalb bedeutungslos, weil die Institution der Evangelischen Kirche an kultureller Bedeutung verliert – freilich nicht zuletzt aufgrund kultureller Inkompetenz, eben weil sie nichts mehr zu sagen hat und keine Erkenntnisse aus der sie umgebenden Kultur zu ziehen vermag. Es hat Zeiten gegeben, in denen es für Musiker essentiell und biographisch bedeutsam war, an Klaus Martin Zieglers Kasseler Musiktagen unter dem Titel „Neue Musik in der Kirche“ teilzunehmen. Es war ein kulturelles Muss. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Es hat Zeiten gegeben, in denen jeder wichtigere Künstler in Deutschland den Namen des Nestors der Begegnung von Kunst und Kirche in der zweiten Hälfte des 20, Jahrhunderts, Paul Gräb, kannte. Die Evangelische Kirche hat es nicht vermocht, eine entsprechende Persönlichkeit aus ihren Reihen für die jüngere Künstlergeneration zu etablieren. Sie war mehr an Kulturfunktionären, als an Kunstkennern interessiert. Es gibt punktuelle Ausnahmen von der Regel. Ich sehe, dass sich in den Aktivitäten des Kunstreferats der bayrischen Landeskirche so etwas abzeichnet, wie die klare Orientierung an den Regeln des Kunstbetriebs.

Heute gehört es daher zu den Pflichten des einzelnen Individuums, das sich für die kulturelle Tradition und für kulturelle Innovationen interessiert, in der Verbindung mit anderen Individuen für die Kultur Sorge zu tragen, sie zur eigenen Kultur zu machen – jenseits aller nationalen, religiösen oder gesellschaftlichen Grenzziehungen. Ob das gelingen kann, kann nicht vorhergesehen werden. Ich würde aber auch nicht sagen, dass es ein aussichtsloses Projekt ist. Deutlich ist es aber, dass es nicht mehr reicht, die Gesellschaft, die Kirche, allgemeiner: die Institutionen in die Pflicht zu nehmen. Dafür ist die Entwicklung der Funktionalisierung schon zu weit voran geschritten. Insbesondere in den Kirchen unterliegt die Kultur in den letzten Jahren einer dramatischen Instrumentalisierung. Die Eigenbedeutung der Künste wird hier weder wahrgenommen noch geachtet, ja demonstrativ bestritten. Zeichen setzen kann und muss man, indem man es anders macht, indem man wieder in punktuellen Durchbrechungen etwas von dem aufscheinen lässt, was die Kunst in unserer Kultur sein könnte: realer Ort der Freiheit zu sein. Also nicht weitere Kongresse, sondern Kunstausstellungen, Konzerte, Literaturlesungen – und bitte keine Vereinsveranstaltungen mit Vorstandskundgebungen aus dem Ghetto kirchlichen Kultur(miß)verständnisses.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/73/am368.htm
© Andreas Mertin, 2011