Krankheit und Gesundheit


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Wie kann man über sein Leiden lachen?

Die Verarbeitung von Krankheit und Endlichkeit mit Humor: Beispiele aus dem Werk Robert Gernhardts[1]

Hans Martin Dober

„Die Heiterkeit nämlich … ist ein Lohn … für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht jedermanns Sache ist.“[2]   Friedrich Nietzsche

Sind der Ernst der Krankheit und die spielerische Leichtigkeit des Humors nicht unversöhnliche Gegensätze? So scheint es, in der Tat. Deshalb liegt es nahe zu sagen: Wenn die Krankheit kommt, hat man nichts mehr zu lachen. Dann verschlägt es einem die Sprache. Dann liegt man im Bett und fiebert, oder man beißt die Zähne zusammen und humpelt, oder man bekommt eine schlechte Diagnose und bläst Trübsal. Wie also passen Krankheit und Humor zusammen?

Es fällt leichter, diesen unversöhnlichen Gegensatz einzuklammern oder ihn gar aufzuheben, wenn man Menschen kennt, die ihre Krankheit mit Humor getragen haben. Es ist das menschliche Zeugnis, das dazu ermutigt, die Verarbeitung von Krankheit und Endlichkeit mit Humor für möglich zu halten. Man kann die menschlichen Zeugnisse aber auch in der Kunst suchen – und finden. Zu denken ist an die Malerei (im komme nachher auf ein paar Beispiele) oder auch an den Film (ein besonders sprechendes Beispiel scheint mir der Film „Das Beste kommt zum Schluss“ zu sein[3]). Ich möchte mich auf den Bereich der Literatur beschränken, und hier insbesondere auf die Dichtung. Im „unüberschaubar riesigen“ „Haus der Poesie“[4] aber wende ich mich dem Werk Robert Gernhardts zu, und aus diesem wähle ich einige wenige Gedichte aus. Zu ihrer Interpretation nehme ich zudem einige Texte des Dichters zu Hilfe, die der Theorie der Komik und des Lachens, sowie der Poetik gewidmet sind.

1. Die Bedeutung Heines für Gernhardt

Gernhardt hat Ende der 90er Jahre des vergangenen Jh.s begonnen, den späten Heine zu lesen, der unter vielen Krankheiten zu leiden hatte und in den letzten Jahren ans Bett – seine „Matratzengruft“ (201) – gefesselt war: Auch das ist Zeugnis eines andern. Im „linken Flügel“ der „Gedichte aus Klappaltar“ aus dem Jahr 1998 hat der selbst herzkrank Gewordene das Ergebnis seiner Recherchen festgehalten. Ein „Prolog im Himmel“ lässt Gott und seinen Gegenspieler darüber diskutieren, wen man denn – im ausgehenden 18. Jh. – dem „deutschen Michel“ schicken könnte, „um Michels Ungeist zu erleuchten“.[5] Gottes Gegenspieler rät folgendes:

„Schick dem über allem schweren / Michel einen, der ihm beibringt, / Dass der Ernst der Erdenschwere / recht betrachtet nur ein Witz ist.“ (618)

Damit sind die Bedenken in Frage gestellt (noch nicht aber zerstreut), ob, wer krank wird und wer die Nähe seines Todes erlebt, überhaupt noch etwas zu lachen haben wird. Dem „Ernst der Erdenschwere“ soll mit „Witz“ begegnet werden: d.i. an Heine nicht nur in der Fülle seiner Jahre zu lernen, sondern auch dann noch, als „das jahrelange Sterben“ seinen „Witz nicht konnt‘ verderben.“ (631) Der Abschnitt, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit richten möchte, trägt die Überschrift: „Er [Gernhardt] liest den späten Heine“. Darin heißt es weiter, nach einem Zitat:

„So was auf des Todes Schwelle / Hinzuschreiben auf die Schnelle / Ist so herzerwärmend dreist, / Weil es zweierlei beweist: / Erstens: Vor der letzten Nacht / hat sich’s noch nicht ausgelacht./ Zweitens: Wahrer Dichtermund / Tut noch sterbend Wahrheit kund … (632)

… So wie er lebte, / Jauchzte, liebte, haßte, bebte, / Lachend litt und schreibend fühlte, / Also starb er. Nie erkühlte / Trotz der jahrelangen Leiden / Heines Doppelliebe. Beiden / Hielt er unbeirrt die Treue / Ohne Zweifel, ohne Reue: / Den Geschwistern Witz und Wahrheit / Alias Helligkeit und Klarheit. / Heines Witz erhellt noch heute. / Heines Wahrheit klärt noch. Leute! / Diesen Mann zu ehren heißt, / dass man eignen Witz beweist.“ (633)

Gernhardts späte Lektüre Heines legt die Spur zu einer Antwort, wie man über sein Leiden lachen kann. Auf die befreiende Wirkung kommt es an, und die hängt – wenn denn Gedichte sie hervorrufen sollen – auch an den poetischen Formen. Baudelaire etwa hat dem Gedicht, ja der Kunst überhaupt das „Vorrecht“ zugesprochen, „dass das Schreckliche, kunstvoll ausgedrückt, zur Schönheit wird, und dass der rhythmisierte, gegliederte Schmerz den Geist mit einer ruhigen Freude erfüllt.“[6] Dieser das Leid veredelnden, sublimierenden Funktion der Kunst, die vielleicht nicht jedermanns Sache ist, steht Heiner Müllers Lob der „strengen Formen“ zur Seite, die „gut gegen Schmerzen“ seien (206) – die Poesie wäre, weniger anspruchsvoll als bei Baudelaire, so etwas wie ein geistiges Gegenmittel gegen den Schmerz.

Die sich hier ergebenden poetologischen Fragen nach der spezifischen Rolle und Funktion etwa des Reims im Gedicht lasse ich auf sich beruhen – Gernhardt hat sie in seinen späten Vorlesungen behandelt. Denn meine Perspektive ist (in weitem Sinne) praktisch-theologisch. D.h. es geht mir darum, die Leitfrage, wie man über sein Leiden lachen kann, in einem Horizont zu fassen, in dem die menschliche Erfahrung die großen Themen der Religion berührt. Dem Gedicht kommt dabei seine spezifische Bedeutung zu, weil es die Erfahrung in Formen der Sprache verdichtet. Es ist der gedanklich ausgewiesenen Beschreibung von Erfahrung gegenüber, als welche die – auf die Phänomene bezogene – Philosophie verstanden werden kann, die ältere, ursprünglichere Form. Beide – die auf Phänomene bezogene philosophische Reflexion und die Dichtung – sind aber wechselseitig aufeinander zu beziehen. Denn das Gedicht bedarf zu seiner Deutung der Mittel des Denkens. Zugleich vermag aber auch die Erfahrung mit dem philosophischen Gedanken als Teil der Erfahrung überhaupt im Gedicht seine Verdichtung zu finden. Gernhardt hat sich der Form des Gedichts bedient, um Aporien des Denkens und Grenzen der Philosophie zu benennen. Eines der K-Gedichte ist hier einschlägig, in dem es heißt:

„Vor dem Tod versagt das Denken. / Ist der Denker in der Lage, / nichts zu denken? Diese Frage / sollte sich ein Denker schenken. – Viele, die das nicht ertrugen. / Keiner, der die Frage löste, / nicht einmal der allergrößte: / Sind wir nach dem Tod die Klugen?“[7]

Nach diesen Bemerkungen zu meiner Perspektive und Methode komme ich auf die Frage nach der befreienden Funktion des Lachens zurück. Befreien kann das Lachen sowohl von innerem Zwang als auch von den nieder drückenden Wirkungen der „Erdenschwere“ überhaupt. Doch dies ist nur eine Funktion des Lachens unter anderen.

2. Eine kleine Phänomenologie des Lachens

Es gibt viele Formen dieses kurzen, mehr oder weniger kultivierten, mehr oder weniger gesellschaftlich gestatteten oder politisch korrekten Exzesses der Seele. Nicht jedes Lachen nämlich befreit. Es kann einem auch im Halse stecken bleiben. Und manch einer mag fragen, ob der Ernst des Lebens das Lachen nicht immer wieder einholt, ja einholen muss, weil es – so Gernhardt – sich spätestens „im Augenblick des Sterbens … naturgemäß ausgelacht“ hat.[8]

Karl Barth hat einmal auf die Frage geantwortet, was den Menschen denn vom Affen unterscheide: dass er lachen und Pfeife rauchen kann. Dadurch, in der Tat, unterscheidet sich der Mensch vom Tier: in dieser Feststellung stimmen Philosophen wie Hermann Cohen (in seiner Ästhetik) und Humoristen wie Robert Gernhardt (in seiner „Feldtheorie der Komik“) überein: „Kein Tier lacht, geschweige denn eine Maschine.“ (554)

Damit ist ein wichtiger Punkt berührt: Lachen hat mit Freiheit zu tun. Es gibt Menschen, die sich partout nicht zum Lachen bringen lassen wollen. Sie sind zur Selbstdistanz nicht fähig oder sie verbleiben aufgrund ihrer Disposition in „tierischem Ernst“, oder es ist ihnen – gerade heute, im Moment – überhaupt nicht zum Lachen zumute. Ihr Lebensgefühl ist dunkel, erdenschwer.

Andere wieder lachen entweder zu laut oder – wie man meinen könnte – an der falschen Stelle. Dieses so bekannte wie unscharfe Phänomen (denn wer dürfte sagen, was nun die richtige Stelle wäre – die meine?) lässt sich dadurch erklären, dass Lachen – so Gernhardt – immer auch einen „Kontrollverlust“ (538) bedeutet, ein wenn auch kleiner, so doch immerhin ein Exzess, wie gesagt, an der Zensur des Bewusstseins und der normativen Kontrolle vorbei. Befreiend kann solcher Kontrollverlust sein, wenn er das Schwarz-Sehen, diesen melancholischen Zwang, umgeht und Lichtblicke erschließt, wenn er die Aussichtslosigkeit eines gesundheitlichen Zustands (oder anderer Zustände) durch Verfremdung (oder Übertreibung) auf einen neuen Horizont hin öffnet, kurz: wenn der Kontrollverlust den „tierischen Ernst“ in menschliche „Weltoffenheit“ verwandelt. Auf Freiheit verweist solches Lachen, und sei es nur ein Lächeln, Schmunzeln, indem der Betreffende, der Betroffene sich hat zu solcher Freiheit herausrufen lassen. Insofern es sich hierbei auch um eine Freiheit von sich selbst handelt, ist das ein durchaus evangelischer Vorgang.

Die Freiheit zu lachen (oder es bleiben zu lassen) kann sich aber auch als Widerstand gegen den Zwang einer Gruppe richten, mitlachen zu sollen, um Teil eines Spiels zu bleiben. Es kommt dann auf die Regeln an, die dieses Spiel erkennen lässt. Eine dieser Regeln leitet sich von der integrierenden Funktion des Lachens ab. Lachen kann anstecken, so dass die anderen einstimmen, oder auch abstoßen. Abstoßend ist es, wenn das Lachen der integrierenden Funktion widerspricht, indem es andere – die Ausgelachten – ausschließt dadurch, dass es sich über sie lustig macht.[9]

Integrierend ist das Lachen aber, wenn es auf Gemeinsames der conditio humana verweist: eben auf die Erdenschwere, die im Lachen leicht werden kann. Das Lachen ist dann eine Form des Umgangs mit dem „Riss, der durch die Welt, und also auch durch ihn [den Spaßmacher] geht“, so Gernhardt. Dieser Riss ist „einfach nicht heilbar“, und der Humorist kann ihn „nur aushalten …, indem er ihn nicht mit Macht leugnet oder zuschüttet oder überbrückt, sondern indem er in ihm herumbohrt, ihn erweitert, ihm auf den komischen Grund geht, so wie die Zunge fortwährend den pochenden Zahn sucht, sich lauernd in ihn schmiegt, in der Hoffnung, den Schmerz, da er nun mal nicht zu betäuben ist, wenigstens so weit zu reizen, dass er sich ganz und gar zu erkennen gibt und zugleich seine Grenzen offenbart: die Schmerzgrenze, die Grenze des Komischen“ (536).

Neben der integrierenden Funktion ist aber auch eine Regel zu nennen, der sich der zu unterwerfen hat, der Witze macht, wenn er denn den Zusammenhang von Lachen und Freiheit nicht zerbrechen will. Als subjektive Elementarforderung an den Spaßmacher hat Gernhardt die Formel „Klarheit und Wahrheit“ geprägt: sie ist ein wesentliches Kriterium seiner eigenen Kritik der Komiker und der Komik (311). Es kommt also auch beim Lachen auf klare Unterscheidungen an. Man muss – so Hermann Cohen in seiner Ästhetik – unterscheiden „zwischen dem Lachen der Selbstgefälligkeit, der Sattheit, der Überhebung, der Schadenfreude, des Hohnes und dem Lächeln, das von der himmlischen Heimat der menschlichen Seele ausgeht.“[10] Das Lächeln gilt diesem jüdischen Philosophen der Moderne als „Wetterscheide zwischen Himmel und Hölle“: es spiegelt sich in ihm das „untrügliche Sonnenlicht der Güte“ (305). In besinnlichem Schmunzeln und in sich versunkenem Lächeln, zu dem die von Cohen besprochenen Künstler mit ihren Werken anleiten oder das sie zeigen, kommt Menschenliebe zum Ausdruck. In diesem Sinne deutet Cohen u.a. die Portraits Rembrandts, aber auch Details in den großen Werken von Rubens, Michelangelo, Raffael, Leonardos und vieler anderer mehr; auch in den Werken der Musik hat Cohen Humor entdeckt, bei Beethoven etwa[11]. Letztlich ist die Menschenliebe das Kriterium des guten, angemessenen Humors. Und wenn es stimmt, dass man an die Menschenliebe zu glauben lernen müsse (vgl. 306), dann kommt der Kunst die Aufgabe zu, zu solchem Lernen den Weg zu bereiten – der Kunst jedenfalls, in der „der Geist des Humors die Seele … [der] Menschenliebe“ des Künstlers ist.[12]

Dass es in der Phänomenologie des Lachens auf klare Unterscheidungen ankommt, wird auch für die Frage gelten können, aus welchen Quellen sich das Lachen speist, ebenso wie Witz, Ironie und Humor als seine Anlässe. In der Tat scheint der Witz eine Beziehung zum Unbewussten zu haben, wie Freud wusste.[13] Doch welcher der beiden menschlichen Grundtriebe drängt hier an die Oberfläche: der Trieb zu leben oder der Trieb zu zerstören? Was zeigt sich in Witz und Lachen? Der Lebenstrieb wirkte sich hier aus, wenn die Verschiebung und Verfremdung von etwas Unangenehmem, Schmerzhaften gelingt – und es tut im Augenblick des Lachens nicht mehr so weh. Libido-Energie, wie Freud sagen würde, verschafft sich somit auf seelischen Umwegen einen Durchbruch, und ein Stück Lebensfreude bricht sich auch mitten im Leiden Bahn. Möglich ist aber auch, dass destruktive Triebe und Neigungen sich in Witz und Lachen (weniger im Humor und im Lächeln[14]) zum Ausdruck und zur Darstellung bringen. Auch sie realisieren sich auf einem Umweg. Zu bestätigen ist diese Möglichkeit etwa durch die Vermutung Georg Christoph Lichtenbergs, „die erste Satire … [sei] sicher aus Rache gemacht“ worden.[15] Im Sozialen, Geselligen kann solcher Witz aus den Quellen des Ressentiments zur Beleidigung geraten, in der Kunst kann er agitatorische Funktion bekommen (man denke an das Flugblatt in der Reformation oder an die Karikatur im Dienste politischer Ideologien). Es mag sein, dass deswegen der Psalmist vor den Spöttern warnt: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen / noch tritt auf den Weg der Sünder / noch sitzt, da die Spötter sitzen / sondern hat Lust zum Gesetz des Herrn.“ (Ps 1, 1) Das „Auslachen“ hat hier einen anderen, zweiten Sinn – nicht ist das natürliche Ende des Lachens im Aushauchen der lebendigen Seele gemeint, sondern Lachen als Hohn und Spott, das sich über andere erhebt. An die befreiende Funktion, die auch solches Lachen in bedrückenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen haben kann, in totalitären Regimen, die ihren Bürgern den Mund verbieten, ist an dieser (biblischen) Stelle wohl nicht gedacht. Lachen über das Leiden anderer aber ist unsolidarisch, es sei denn, der Lachende vermag sich selbst in eine gemeinsame Betroffenheit einzubeziehen. Hierfür ist eine Einstellung am Ende des Films „Der Schatz der Sierra Madre“ mit Humphrey Bogart in einer Hauptrolle sprechend: Nachdem die drei Kollegen im Goldrausch alles verloren haben, lacht der übrig Gebliebene – gespielt von Walter Huston – über all die Gier und die Dummheit, von der sie sich immer stärker haben leiten lassen, sowie über die Ironie der Geschichte.[16]

Klarheit und Wahrheit ist in diesem Lachen ebenso wie es auf ein Element der conditio humana verweist. Darüber hinaus verhilft es zu einer Selbst-Distanzierung dessen, der an dem ganzen Spiel beteiligt war, nun aber neu beginnen kann. In der Selbst-Distanzierung tritt eine Lockerung ein – sie kann die starre Fixierung auf eine schlechte Diagnose oder eine herbe Enttäuschung, auch auf einen schleichenden Schmerz lösen, wenn auch nur für Augenblicke der Befreiung. Wer lacht, kann solche Befreiung erleben, wer lächelt, vermag sich auf diese Weise von einer schwierigen Situation und der Verstrickung in sie zu distanzieren. „Das genuin Komische“ findet Gernhardt zufolge immer da statt, „wo Erdenschwere nachhaltig vernichtet wird“ (546).

3. Wie macht man mit der Komik ernst?

Gernhardt macht mit der Komik ernst – das ließe sich anhand seiner Auseinandersetzung mit anderen Komikern, Kritikern, ja mit der Komik selbst zeigen.[17] Ich verzichte aus Zeitgründen darauf, um mich auf eine Auswahl von Gedichten konzentrieren zu können.

3.1. Der Umgang mit der eigenen Krankheit: Die „K-Gedichte“

Gernhardt macht mit der Komik ernst – d.i. am eindrücklichsten vielleicht mit Blick auf das lebensgeschichtliche Widerfahrnis der Krankheit zu zeigen.[18] Die „K-Gedichte 2004“ begleiten in Versen des Dichters Krebserkrankung – dessen Diagnose und Therapie, das Hoffen und Bangen während der Chemo, seine Beobachtungen im zeitgenössischen Krankenhausbetrieb, sowie seine Reflexionen über Krankheit und Endlichkeit. 3 Beispiele der in Gedichten verdichteten Erfahrung habe ich ausgewählt:

„Seiltänzer“
„Ich ging auf einem Seil dahin / Mir schien es eine Straße / Mit frohem Mut und heitrem Sinn: / Ich bin auf guter Straße!
Was dann geschah? Ich weiß es nicht / Wuchs ich? Verging die Straße? / Die Jahre änderten die Sicht: / Doch reichlich eng, die Straße!
Auf schmalem Steg geht’s nicht so gut / Ist der noch eine Straße? / Bei jedem Schritt sinkt mir der Mut: / Das ist doch keine Straße!
Ich geh auf einem Seil dahin / Das wird nie wieder Straße / Wirkt wie ein Faden licht und dünn: / Wann lieg ich auf der Nase?“[19]

Die Lebensbahn gleicht einem Seiltanz – d.i. ein altes Motiv, dargestellt etwa auch in dem Chaplin-Film „Der Zirkus“.[20] Doch man merkt das nicht immer. In guten, unproblematischen Zeiten erscheint das Seil als Straße. Man hält das Gleichgewicht und schreitet sicher fort „mit frohem Mut und heitrem Sinn“. Erst in schwieriger Zeit, in Krankheit und im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit erscheint der Lebensweg als ein Seiltanz. Darauf – als einem „Faden licht und dünn“ – im Gleichgewicht bleiben zu können, ist zweifelhaft.

„Habenichts“
„Habe nichts gegen das Altern. / Wie sollt ich da etwas / gegen den Tod haben? / hat ja auch sonst niemand etwas / gegen das Altern. / Hat ja auch sonst niemand etwas / gegen den Tod. / Alterten sie sonst alle? / Stürben sie sonst alle? / Da werde ich doch wohl keine / Ausnahme machen: / Habe gar nichts gegen das Altern. / Habe schon gar nichts gegen den Tod.“ (878)

Leitend ist hier das Wortspiel mit dem „nichts haben“ im Sinne von keine Einwände, nichts dagegen haben einerseits, und nicht vermögend sein im Widerstand gegen etwas andererseits. Solange der Tod fern ist, muss man nichts dagegen haben. Man kann dann mit Epikur spotten: „Das schauerliche Übel, der Tod, geht uns nichts an. Denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da; und wenn er da ist, sind wir nicht da.“[21] Oder man kann distanziert, auch humorvoll konstatieren: Alle Menschen müssen eben sterben. Gernhardt selbst hat in diesem Sinne das Gedicht „Ach“ geschrieben, und nach seiner Veröffentlichung in der F.A.Z. einem befremdeten Freund auf die Frage, was denn „diese unverstellte … Todesthematik“ bedeute, geantwortet: „das seien doch alles Humoreken – kein Grund zur Aufregung also.“[22] Später erst erfuhr er mit der Diagnose seiner Herzkrankheit einen „Augenblick der Wahrheit, der … [ihn] regelrecht umhaute“ (196). Und der zweite Sinn des „Habenichts“ gewann Gewicht: Gegen den Tod ist niemand vermögend. Solange das Altern nicht weh tut, kann man es gelassen hinnehmen. Erst in der Nähe des Todes als Endpunkt des Alterungsprozesses wird der andere Wortsinn unausweichlich: Wir verfügen über kein Gegenmittel.

„Von der Gewissheit“
„Hier bröselt es, da bröckelt es, / schon dräut ein Holterdipolter:
Aus all der Scheiße Honig ziehn, / das plante er, das wollt er. / Das gäb der Sache Sinn und Form, / das hoffte er, das dacht er.
Jetzt ahnt er: Also denkt das Kalb / auf seinem Weg zum Schlachter.“[23]

„Krankheit als Schangse“ – so lautet die ironisch verfremdete Überschrift dieser Gedichte, die dem Jazz-Gitarristen Volker Kriegel gewidmet ist, dessen Frankfurter Dialekt wiedergebend. Deutlicher als in diesem Gedicht kann man die Redensart von der „Krankheit als Schangse“ nicht ad absurdum führen. Sie ist nichts anderes als ein Trick des Bewusstseins, das sich nicht eingestehen will: die Endlichkeit des Menschen ist Konsequenz seiner natürlichen Existenz, der Tod erscheint aber wie ein „Schlachter“ (früher als „Schnitter“).

Insgesamt bestätigen diese Gedichte also die alte Einsicht, dass der Mensch nicht sterben, sondern leben will. Das ist’s, so ein anderes K-Gedicht, „wonach alles Leben strebt, / nämlich: dass es weiter lebt.“[24] Diese Einsicht ist allerdings immer wieder gern verdrängt worden. „Die Dichter seit Homer“, so Gernhardt in seiner Poetik-Vorlesung, haben „den Tod der andern, zumal in der Schlacht … glorifiziert und poetisiert“. Dass die Dichtung hier keineswegs immun gegen Ideologien gewesen ist, zeigen die beigebrachten Beispiele bis hin zu Hermann Hesses Gedicht „Sterbender Soldat“.[25] Doch auch die philosophische Kontingenzbewältigung auf dem Wege des Denkens, das sich über das Sein erhebt, und alle fromme Bewältigung des Leidens, die vielleicht eine Form der Verdrängung ist, stoßen im Angesicht des Todes an eine Grenze. Das lässt sich durch Erfahrung bestätigen. Doch wir machen keine Erfahrungen, ohne dass wir sie nicht in Worte gefasst hätten. Und unsere Worte entsprechen der Erfahrung dann am besten, wenn sie diese präzis beschreiben. Vom Tod selbst als der letzten Grenze kann allerdings auch der Dichter nichts mehr berichten.[26]

Auf dem Hintergrund der zitierten Gedichte Gernhardts lässt sich sagen: Über sein Leiden kann man nur dann lachen, wenn man mit diesem Lachen dem Leiden nicht ausweicht, und nur so, dass die Angst vor dem Tode zugestanden wird, ehe sie dann in Schach gehalten werden kann durch die Distanznahme, die die witzig-verfremdende Beschreibung im Gedicht Gernhardts möglich macht. Es geht hier nota bene noch nicht um eine Verwindung der leidvollen Erfahrung, sondern um die Gegenkräfte gegen die Angst, die Verzweiflung, die Resignation – man könnte auch im Sinne Franz Rosenzweigs – sagen: gegen das Schweigen, in das das Leiden leicht führt. Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ zufolge steht das Schweigen des Helden am Ende der antiken Tragödie.[27] Noch nicht ist hier das stumme Selbst zur sprechenden Seele geworden wie etwa in den Worten der biblischen Väter Adam, Abraham und Mose oder in den Psalmen.[28] Wie diese Gestalten der Bibel geben sich auch Witz und Humor mit dem Schweigen angesichts des Leidens nicht, noch nicht ab. Sie sind Ausdruck dafür, dass die Seele sprechen gelernt hat, und ihr Inneres mitteilen will, solange sie lebt.[29] Ja, eben dieses Sprechen ist das deutlichste Zeichen für ihre Lebendigkeit auch noch in der Gewärtigung des Todes – in einer Gewärtigung, die noch nicht die nächste Nähe ist.

In diesem Sinne ist eine Bedingung für die humoreske Verarbeitung von Krankheit und Tod ein Spagat zwischen der Erfahrung, die mich ergreift (d.i. der genaue Sinn eines Widerfahrnisses), und dem Distanzgewinn, den erst die Darstellung und dann auch die Deutung dieser Erfahrung ermöglicht. Wie ist dieser Distanzgewinn aber mit Blick auf den Tod des andern zu erreichen?

3.2. Der Tod des anderen: Wie ist damit zu leben?

Ich folge den Spuren, welche in den Gedichten aus dem Jahr 1994 gelegt sind, die die Erfahrung des Todes von Gernhardts Frau verarbeiten. Sie tragen den Titel „In Trauer“.[30] Der Zusammenhang (und die Differenz) zwischen dem eigenen Tod und dem Tod der andern wird hier thematisch. Die sprachliche Prägnanz, in der das geschieht, lässt sich gedanklich mit Hans Blumenberg so präzisieren: Um einzusehen, was der am Grabe viel zitierte 90. Psalm in Worte gefasst hat – „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden“ – , bedarf es einer „intersubjektiven Erfahrung“ oder einer „Fremderfahrung“.[31] Zugleich muss der Sterbende all das, was die Individualität eines zu Ende gekommenen Lebens ausgemacht hat, der Erinnerung, dem Gedenken und der Verantwortung der Hinterbliebenen anvertrauen.[32] Doch diese komplexen Herausforderungen müssen erst als solche erkannt werden.

„Trauer“:
„Trauer ist schrecklich. / Jeder glaubt, dir nah zu sein: / Ich habe mal getrauert, du trauerst jetzt, / das gebietet mir, für dich da zu sein.
(Sieht der Mitfühlende einen Trauernden, / muss er ihn gleich umarmen. / In seinem Bestreben, barmherzig zu sein, / kennt er kein Erbarmen.)
Trauer ist wirklich. / Der Trauernde ist wirklich gebrochen. / Die Trauer drückt ihn wirklich zu Boden. / Er durchlebt wirklich harte Wochen.
(Aber da bleibt ein Stachel:
Wie, wenn meine Trauer nicht ausreicht? / Wenn ihre Tiefe nicht derart ist, / dass sie die Größe des Verlusts ausgleicht?)
Trauer ist endlich. / Und jeder Trauernde ein Verräter, / der sich fügt und Vernunft annimmt, / früher oder später.
(Irgendwann hat es sich / jedenfalls ausgetrauert. / Cosima glaubte, nach Richards Tod vergehen zu müssen. / Sie hat ihn dann siebenundvierzig Jahre überdauert.)“

Trauer ist schrecklich – sie macht keinen Spaß, wirklich – weder kann man ihr entfliehen noch ist sie eine Einbildung, und endlich – irgendwann hört sie auf, denn das Leben will weiter gelebt sein. Die in Klammern gesetzten Teile des Gedichts reflektieren die zwiespältig erfahrenen Reaktionen der anderen, die ambivalente Kritik des eigenen Gewissens und die Einsicht: Trauer ist eine Erfahrung der Lebenden, und insofern von der Erfahrung der eigenen Todesnähe zu unterscheiden. Nota bene bestätigt der Stachel des Gewissens im mittleren Teil eine These von Nietzsches „Genealogie der Moral“, dass die Trauer als eine „Gegenzahlung“ verstanden werden kann, und sei es aus einem unbewussten Impuls des Seelenlebens, das auch Freud im Modell einer spezifischen Form der Ökonomie gedeutet hat.[33]

Zu den möglichen Reaktionen auf einen so schmerzhaften Verlust wie den Tod der (geliebten) andern gehört, dass man das furchtbare Ereignis erst einmal nicht wahrhaben möchte. Diese Verweigerung kommt in dem Gedicht „Trotz“ zum Ausdruck:

„Ich geh zu deinem Grabe nicht / Ich steh an deinem Grabe nicht / Ich knie vor deinem Grabe nicht / Ich flieh vor deinem Grabe nicht - / Du kommst ja auch nicht / zu meinem / Am Ende liegt jeder in seinem.“

Doch der Tod der andern zwingt den Hinterbliebenen zur Erinnerung – dieser nächste Schritt ist unvermeidbar als Folge einer Verantwortung, die nicht delegiert werden kann. Wann aber ist das „Gedächtnis der Verstorbenen gesegnet“ (sichrono livracha), wie es im Judentum heißt? Leicht ist dieser Segen nicht zu erfahren. Man muss unterscheiden: Wie kann das Gedächtnis an die Verstorbene gerecht sein und bleiben – bei aller Vergesslichkeit, zu der der Hinterbliebene um seines eigenen Lebens willen tendiert? Und was bewirkt dieser Anspruch einer wahren Erinnerung in dem, auf dem diese Verantwortung lastet? Nicht nur darauf, aber auch auf diese zweite Frage antwortet das mit „Wettlauf“ überschriebene Gedicht:

„Da ist eine tot, / und da ist einer lebendig. / Je länger sie schweigt, / desto mehr gibt er sich geständig.
Die Tote wird nie wieder sprechen. / Eher verstummt er, der Lebendige. / Die eine ist die Unbewegte, / der andere daher der Wendige.
Dieser Wendige schlägt Haken um Haken. / Er läuft ganz einfach um sein Leben. / Solange da solch ein Igel ist, / muss es solche Hasen geben.
Wie er sich abmüht, der Hase! / Gehetzt blickt er in den Spiegel. / Doch wie hoffnungsvoll er auch hineinschaut, / heraus schaut immer der Igel.
Ihr, die ihr diese Zeilen lest, / ergreift Partei für den Hasen! / Wir Verlierer müssen zusammenhalten, / bis unter den Rasen.“

„Verloren“ hat hier der übrig Gebliebene, der Trauernde, der einen geliebten Menschen verlor. Die Herausforderungen der Trauerarbeit sprengen allerdings nicht die Kreise des „Selben“, sondern intensivieren sie erst einmal: der Trauernde „schlägt Haken um Haken / Er läuft ganz einfach um sein Leben“, und „gehetzt“ von diesem Lauf „blickt er in den Spiegel“, um zu sehen: Mich wird einmal das gleiche Schicksal ereilen – im Spiegel erblickt der überlebende Hase den verstorbenen Igel als sein memento mori.

In anderen Phasen seiner Erinnerungsarbeit möchte der Trauernde an die Orte zurückkehren, die er gemeinsam mit der Verstorbenen besucht hat. Und das Eingedenken setzt insbesondere an Stellen im Kalender ein, die an gemeinsame Erlebnisse erinnern. Walter Benjamin handelte in seiner 2. Baudelaire-Studie von Korrespondenzen im Gedächtnis.

„Jahrestag“
„Als du starbst, weißt du, / war so tolles Wetter, / Sonne von Schweden bis Sizilien. / Auf halber Strecke du, der die Luft wegblieb / und der das Herz brach, / unter dem wolkenlosen Himmel, / der Europa überspannte.
Zwei Jahre später: / Es schüttet und schüttet. / Kein Wetter fürn Friedhof, du musst schon entschuldigen. / Auf halber Strecke ich, der es aufgab, / mich vor dir zu verneigen, / heute, unter dem tiefgrauen Himmel, / der uns hier das Leben schwer macht.“

Doch der Tod bleibt ein Fremdes, etwas, das sich nicht gänzlich fassen und verstehen lässt, so sehr das Bedürfnis nach Sinn sich auch an dieser Erfahrung abarbeitet. Dass das Bedürfnis nach Sinn und die Formen seiner Stiftung ambivalent bleiben wie alles Menschliche, bringt das Gedicht „Hyänen“ zum Ausdruck:

„Das unterscheidet den Menschen von den Tieren: / Er kann selbst den Tod instrumentalisieren.
Das Tier verreckt, der Mensch geht dahin / Das Tier stirbt sinnlos, beim Menschen macht es Sinn.
Der Tod des Menschen ernährt Interpreten / In Form von Gedichten oder Gebeten:
Die Dichter, die Priester - / Sinngeile Biester.
Die Priester, die Dichter - / Feiles Gelichter.“

Das Bedürfnis nach Sinn stellt das durch den Tod des andern in Frage gestellte Selbst zufrieden – es kann eine Bedürfnisbefriedigung für „sinngeile Biester“ sein. Wenn der Tod aber die Kreise des Selben sprengt, dann vermag er auch in allzu glatte Interpretationen und Verstehensbemühungen einen Keil zu treiben, um diese zu spalten wie einen Holzklotz.

4. Gernhardt und das Christentum, oder: Humor und Gebet

Ist Gernhardt ein christlicher Dichter? Nein. Aber er ist Dichter in dem wesentlichen Sinn, dass er die gegenwärtige Erfahrung – und d.h. immer auch: seine Erfahrung – in wohl gewählten Worten und nach den Regeln der Dichtkunst verdichtet. Zu dieser Erfahrung gehört die Fremdheit des christlichen Liedgutes, das sich nur in der Verfremdung noch anverwandeln lässt – durch die Kritik etwa eines Glaubens an die Vorsehung hindurch.[34] Zu dieser Erfahrung gehört dann auch die Art und Weise, wie das Christentum sich gegenwärtig darstellt, konkret in Gestalt der Kirchen. Diese hat er kritisch betrachtet, doch die Kritik Gernhardts setzt eine interessierte Wahrnehmung voraus, die – in einem Vertrauensvorschuss gewissermaßen – der Kirche auch einiges zutraut. Aus dem Werk Gernhardts habe ich drei Beispiele ausgewählt - im Ausgang vom dritten werde ich am Ende eine Grenze humoresker Verarbeitung von Krankheit und Endlichkeit berühren.

Der Patient Gernhardt ist bedürftig nach Trost wie jeder Kranke – vor dem Krebs hatte ihn ein Herzinfarkt betroffen. Es gibt keinen, der in vergleichbarer Situation nicht fragen müsste: Wie komme ich zurecht mit all dem Negativen, das mir widerfahren ist? Und in solcher Aufmerksamkeit ist das Gedicht „Sonntagmorgenandacht“ entstanden:

„‚Bis hierher hat uns / Gott gebracht in / seiner großen / Güte‘ – vielleicht sollte / mal jemand dem Chor / im Haus-Sender stecken, / dass er vor Krankenhausinsassen singt.“[35]

Verständlich, allzu verständlich ist diese Abwehrreaktion gegen einen (vielleicht) allzu leichten Trost aus den Quellen des christlichen Gottesverständnisses. Ein Trotz des Selbst kommt in Gernhardts Gedicht zum Ausdruck: So leicht werde ich mich nicht trösten lassen, dass die Krankheit eine mir von Gott geschickte Prüfung sei. Wer diese Deutung vorschlägt, hat sich nicht tief genug auf die wirkliche Erfahrung eingelassen. Doch ist dieser Trotz nicht vielleicht erst der Anfang eines Trostes, der dann auch greifen kann? Franz Rosenzweig hat davon gesprochen, dass der Trotz des Selbst in eine Demut umgekehrt werden kann, ohne die auch das „stolze Dennoch“ etwa des 73. Psalms nicht zureichend verstanden werden könnte („Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand“).[36] Jedenfalls ist das trotzige Selbst hier zu einer sprechenden Seele verwandelt – und nur so kann das Gesangbuchzitat in Gernhardts Gedicht auch Sinn machen, dass es als Bekenntnis einer Seele zu nehmen ist, keineswegs aber als missionarische Botschaft an die „Krankenhausinsassen“ – in diesem (letztgenannten) Fall ruft es verständlicherweise eine trotzige Abwehr hervor.

„Ich über mich“
„Ich sprach nachts: Es werde Licht! / Aber heller wurd‘ es nicht.
Ich sprach: Wasser werde Wein! / Doch das Wasser ließ dies sein.
Ich sprach: Lahmer, du kannst gehen! / Doch er blieb auf Krücken stehn.
Da ward auch dem Dümmsten klar, / dass ich nicht der Heiland war.“[37]

Ich lese diesen mittleren Teil des Gedichts „Ich über mich …“ als ein Plädoyer für die trotzig, ironisch, humorvoll angenommene menschliche Endlichkeit, die eben nicht nur zeitliche Begrenztheit ist, sondern auch Endlichkeit unseres Vermögens. Alle messianische Überhöhung auch und gerade starker Persönlichkeiten – seien es Dichter, Denker, Künstler überhaupt, Politiker – wird hier abgelehnt, als könnten sie es dem christlichen Erlöser gleichtun, wie er durch die Evangelien bekannt ist. In der Tat hört das Bedürfnis vieler nicht auf, ihre unerfüllten Wünsche auf andere zu projizieren, die sich als Gegenstand solcher Projektionen anbieten: stars der Medienkultur in den Künsten, talk shows und in der Politik – der Wunsch nach charismatischen Führungs-Gestalten wird nicht alt. Auch Pfarrer müssen mit solchen Projektionen leben.

Wer könnte den anderen zum Heiland werden? Keiner, wenn er ehrlich ist und den eigenen Narzissmus überwindet, der sich in solchem „Gebrauchtwerden“ zum Ausdruck bringt, ja ausleben kann. Und dennoch: Führen die Transformationen der messianischen Idee (auch im Judentum) nicht dazu, dass es auf den einzelnen ankommt, auf die in Freiheit angenommene Verantwortung, auf Barmherzigkeit und Güte auch unter den Menschen? Die phänomenologischen Analysen von Lévinas lassen sich als Kehrseite der in Gernhardts Gedicht bezeichneten Endlichkeit menschlichen Vermögens lesen: Der Mensch ist zugleich ein Wesen, das auch die Grenzen seines Selbst noch zu überschreiten vermag – auf den andern zu. Eben das scheint der Sinn der späten Transformation der messianischen Idee im Talmud zu sein, die Lévinas in einem wunderbaren Essay nachgezeichnet hat.[38]

Mein drittes Beispiel betrifft die Sprachform, die in der Frömmigkeit die Erfahrung der eigenen Endlichkeit reflektiert, erzählt und situiert[39], das „Gebet“:

„Lieber Gott, nimm es hin, / dass ich was Besond’res bin. / Und gib ruhig einmal zu, / dass ich klüger bin als du. / Preise künftig meinen Namen, / denn sonst setzt es etwas. Amen.“[40]

Bis auf die Schwelle der Blasphemie lässt sich Gernhardt hier auf die hoch ambivalente Quelle des Gebets ein – den Wunsch. Freud zufolge ist er einer der stärksten Triebkräfte der Seele: zuerst und vor allem der Wunsch danach, dass es mir selbst gut geht, der Wunsch nach Lust und Spaß, nach Freude und Glück, kurz: der den Lebenstrieb tragende Wunsch. Er geht auf Selbstverwirklichung und -entfaltung, und er kommt immer wieder bei sich selbst an, wenn er denn aus sich herausgegangen ist zum anderen und in die weite Welt, um – wie Odysseus – zu sich selbst zurückzukehren. Zugleich ist es der Wunsch nicht nur nach Anerkennung (wie man mit Hegel sagen könnte), sondern auch nach Macht (um mit Nietzsche zu sprechen) – nach Größe (mit Blick auf die Ideale ebenso wie im Vergleich mit den anderen): es ist das kindliche Seelenleben, an dem das genau studiert werden kann.

Mit diesen Realitäten des menschlichen Seelenlebens nimmt Gernhardt es in diesem Gedicht auf. Es ist ein „Gebet“, in dem die Wünsche ungebrochen, ohne innere Umkehr sich auf das Andere ihrer selbst richten. Ironisch spricht das Gedicht vom „lieben Gott“, der eben dann „lieb“ ist, wenn er diesen Wünschen keinen Widerstand entgegen setzt. Die ironische Verfremdung eines allzu sanften, weichen, schnuckeligen Gottesbildes ist das – als „Übergangsobjekt“, wenn man so will, als „Teddybär“, der alles mitmacht, was man ihm zumutet: wortlos, ohne eigene Reaktion.

Es ist völlig zutreffend, das Gebet aus dem Wunsch hervorgehen zu lassen. Als konkrete Gestalt der Sehnsucht ist er dessen Quelle. Zu einem echten Gebet wird es aber erst in einem Differenzverhältnis, das Gott mehr zutraut, als der höchste Erfüllungsgehilfe der eigenen Wünsche zu sein.[41] Was ist dieses „mehr als“? Um mich an eine Antwort auf diese Frage heran zu tasten, berufe ich mich auf das Kapitel zum „Gebet“ in Hermann Cohens Spätwerk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“. Hier findet sich eine Theorie des Gebets, die im Angesicht der vielfältigen Kritik dieser religiösen Sprachform entwickelt worden ist und bis heute überzeugende Argumente beibringt. Was ist also das „mehr“, das das echte Gebet vom Wunsch hinsichtlich seiner subjektiven Quelle, und vom Gedicht hinsichtlich seiner objektiven Form unterscheidet? Mit den Begriffen der überlieferten theologischen Lehre gesprochen, begrenzt zum einen die Macht Gottes die menschliche, zum andern befähigt die göttliche Liebe den Menschen zur Liebe. Für Cohen sind beide Aussagen über Gott Hypothesen, durch die der Mensch die Religion hervorbringt.[42]

Zum Ausdruck kommt diese Hervorbringung aber im Psalm als der „legitimen Stilform des Gebetes“ (ebd.). Auch der Psalm ist eine poetische Form, Lyrik. Wie unterscheidet er sich von den anderen Gedichten? Auch der Psalm verdichtet Erfahrung in festen Formen der Sprache. Aber sein historischer Sitz im Leben ist der Gesang im Kultus, im Gottesdienst. Seine differentia specifica gegenüber dem Gedicht gewinnt er dadurch, dass das aktuelle Sprechen in der vorliegenden Form zu Gott (a-dieu) geschieht. Es ist die im Sprachvollzug wirkliche Korrelation mit Gott, in der – als einer für die Rezeption von Gedichten nicht notwendigen Voraussetzung – der Psalm als Gebet mehr ist als eine lyrische Form. Zugleich wirkt sich dieses „mehr als“ aber auch auf den Sprecher als Ich-Sager aus, und dieses Zugleich, diese Wechselseitigkeit ist eine Folge aus der Voraussetzung der Korrelation, wie Cohen sagt; Rosenzweig bevorzugt den alttestamentlichen Terminus „Bund“.[43]

Mit Cohen interpretiert weist Gernhardts frühe Parodie des Gebets auf eine Grenze des Gedichts hin, die nur dann überschritten werden kann, wenn das Gedicht – wie am Beispiel des Psalms zu sehen – als Gebet verstanden wird. Denn auf diese Weise wird das Ich ein anderes, das sich mit all seiner Sehnsucht, seinen Wünschen, seiner Kritik und seinem Leid auf Gott ausrichtet, indem es A-dieu sagt. Dies scheint dann auch die äußerste Grenze humoresker Verarbeitung von Krankheit und Endlichkeit zu sein. Der Witz als Widerstand des Selbst gegen sein Leid macht an dieser Grenze der Ergebung Platz, die – mit Bonhoeffer zu sprechen – das Eigene „getrost in stärkere Hände legt“ und sich zufrieden gibt.[44] Auch der Witz noch kann im Abschied von diesem Leben zur Ruhe finden.

So steht das Gebet am Ende einer Bewegung, einer Entwicklung, eines Wachstums der lebendigen Seele. Sie begann mit der tragischen Erfahrung, unterbrochen zu sein im Wollen und Vollbringen, endlich zu sein und sterben zu müssen, sei es aus eigenem Verschulden, sei es infolge der Länge der Zeit oder infolge eines Widerfahrnisses. Doch das Schweigen des Helden der Tragödie[45] war nicht das Ende. Sein stummes Selbst fand in innerer Umkehr zu neuem Leben als sprechende Seele. Der Humor ist eine der Sprachformen, die diese Umkehr voraussetzen. Er scheint aber nicht die einzige, und auch nicht die letzte zu sein. Den zwei Einsichten, die Gernhardt aus Heine gewann, ist eine dritte hinzuzufügen. Die erste war: „vor der letzten Nacht / hat sich’s noch nicht ausgelacht“, die zweite: „Wahrer Dichtermund / tut noch sterbend Wahrheit kund“. Drittens kann diese Wahrheit aber durch „Neugründung des Ich“ in der „Nähe Gottes“ zum Gebet führen.[46] Cohen zufolge kann sich „der Mensch, der nicht beten kann, … nicht seiner Endlichkeit mit allen ihren Schlacken und Ängsten entlasten“ (463). Das Gebet wäre also nicht nur eine dem humorvollen Gedicht entsprechende, sondern es auch begünstigende Sprachform, die von Endlichkeit und Krankheit zu distanzieren vermag.

Anmerkungen

[1]    Der vorliegende Text ist die Grundlage des Vortrags, den ich im Rahmen der Tagung „Krankheit und Gesundheit in populären Medien“, veranstaltet vom Arbeitskreis Populäre Kultur und der Evangelischen Akademie Hofgeismar, am 26.2.2011 gehalten habe. Benjamin Dober danke ich für wertvolle Literaturhinweise und Gespräche.

[2]    Nietzsche, Genealogie der Moral, Stuttgart [Kröner Taschenbuchausgabe Bd. 76] 1976, 247.

[3]    Vgl. Dober, Film-Predigten, Göttingen 2010, 128-133.

[4]    Gernhardt, Schmerz lass nach, in: Ders., Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik, hg. v. L. Hagestedt und J. Möller, Frankfurt a.M. 2010, 190-222, 211.

[5]    Gernhardt, Gesammelte Gedichte 1954-2006, Frankfurt a.M. 2008, 616.

[6]    Gernhardt, Schmerz lass nach (s.o. Anm. 4), 200.

[7]    Gernhardt, Gesammelte Gedichte 1954-2006, 892 [K-Gedichte; „Vor und Nach“, 3. Abschnitt].

[8]    Gernhardt, Was gibt’s denn da zu lachen? Kritik der Komiker. Kritik der Kritiker. Kritik der Komik, Frankfurt a.M. 2008, 539. Mit der Polyvalenz des „Auslachens“ spielt Gernhardt an nicht wenigen Stellen. So heißt es etwa in der späten Poetik-Vorlesung: „Dass es sich früher oder später ausgelacht habe, halten die Ernstmachern den Spaßmachern gern mahnend vor“ (Gernhardt, Schmerz lass nach [s.o. Anm. 4], 203).

[9]    Als ein Beispiel aus dem Film sei das Lachen des Bösewichts Crimes in dem Western-Klassiker „Man nannte ihn Hombre“ (USA 1966; Regie: M. Ritt) genannt.

[10]   H. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls [Cohen Werke Bd. 8], Hildesheim / Zürich / New York 2005, 306.

[11]   A.a.O., 326-330.

[12]   A.a.O., 302.

[13]   Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten [1905], in: Ders., Studienausgabe, Frankfurt a.M. 1982, Bd. IV, 9-219. Vgl. Ders., Der Humor [1927], a.a.O., 275-282.

[14]   Vgl. aber den im Film „Inglorious Bastards“ (USA / D 2009; Regie: Q. Tarantino) von Chr. Waltz gespielten Nazi – er lächelt ein Theaterlächeln, das mit seiner Destruktivität überein kommt.

[15]   Zit. in: Gernhardt, Was gibt’s denn da zu lachen, 317.

[16]   Vgl. Dober, Film-Predigten (s.o. Anm. 3), 110-115.

[17]   Vgl. Gernhardt, Was gibt’s denn da zu lachen? (s.o. Anm. 8)

[18]   Möglich ist das schon anhand von „Herz in Not. Tagebuch eines Eingriffs in 100 Tagen“, in: Gernhardt, Gedichte 1954-1997, Zürich 1999, 621-657.

[19]   Gernhardt, Gesammelte Gedichte 1954-2006, 877.

[20]   Vgl. Dober, Film-Predigten (s.o. Anm. 3), 84-88.

[21]   Zit. nach E. Jüngel , Tod, Gütersloh ³1985, 18.

[22]   Gernhardt, Schmerz lass nach (s.o. Anm. 4), 195.

[23]   Gernhardt, Gesammelte Gedichte 1954-2006, 903.

[24]   AaO, 912.

[25]   Gernhardt, Schmerz lass nach (s.o. Anm. 4), 192.

[26]   Vgl. „Dichterlos“: „Es hat der Tod / einen Stachel für jeden / und einen speziell / für jene, die schreiben: / Zu wissen, man wird / was erleben und kann / ums Verrecken nicht mehr darüber berichten“ (Gernhardt, Gedichte 1954-1997, 644).

[27]   Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M. 1988 [seitenidentische Ausgabe der 1976 erschienenen 4. Auflage, die den Text der Erstauflage 1921 wiedergibt], 83-87 [Stern I].

[28]   „Hier bin ich“ antworten Adam und Abraham auf den Ruf „Wo bist du?“, und Mose fragt am Dornbusch „Wer bist du? Was ist dein Name?“

[29]   Hierfür ist auch die biblische Spruchweisheit beispielhaft.

[30]   Gernhardt, Gedichte 1954-1997, 414-421.

[31]   Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 2001, 90f.

[32]   In diesem Sinne ließe sich das Gedicht „Abschied“ aus dem „Späten Spagat“ aufnehmen. Vgl. aber auch „Dichterlos“ (s.o. Anm. 26).

[33]   Vgl. Nietzsche, Genealogie (s.o. Anm. 2), 324 [„Schuld“, „Schlechtes Gewissen“ und Verwandtes]. Dieser seelische Impuls ist allerdings zwanghaft – er verweist auf einen schicksalhaften Zusammenhang. Aus diesem Zwang kann nur die Rückkehr ins Leben befreien, in ein Leben jedoch, das nicht mehr nur durch die Selbsterhaltung und –verwirklichung zu definieren ist, sondern als Gabe, verliehener Möglichkeitsraum, wobei nicht das Selbst der Geber und Ermöglichungsgrund ist, jedenfalls nicht allein; dieser Möglichkeitsraum ist in der Polarität zwischen mir und dem andern zu denken.

[34]   Vgl. etwa: „Geh aus mein Herz, oder: Robert Gernhardt liest Paul Gerhardt während der Chemotherapie“, in: Gernhardt, Später Spagat. Gedichte, Frankfurt a.M. 42006, 17-19. Prägnanter noch: „Frage und Antwort“, a.a.O., 19.

[35]   Gernhardt, Gedichte 1954-1997, 634.

[36]   Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (s.o. Anm. 27), 186-188 [Stern II].

[37]   Gernhardt, Gedichte 1954-1997, 52.

[38]   Lévinas, Messianische Texte, in: Ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum [1963], Frankfurt a.M. 1992, 58-103, bes. 89-96. Lévinas schreibt: „Der Messias ist Ich, Ich-Sein heißt Messias sein […] Gerade die Tatsache, sich der Last, die das Leid der anderen auferlegt, nicht zu entziehen, definiert die Selbstheit […] Das Ich ist derjenige, der sich selbst dazu ernannt hat, alle Verantwortung der Welt zu tragen […] Der Messianismus ist also nicht die Gewissheit der Ankunft eines Menschen, der die Geschichte anhält. Er ist meine Fähigkeit, das Leid anderer zu tragen“ (a.a.O., 94f.).

[39]   Vgl. H. Holzhey, Gebet. Zu einem Buch von Walter Bernet, in: Neue Zürcher Zeitung „Literatur und Kunst“, 20. Dezember 1970. „Das Reflektieren vollzieht sich als Erzählen und dieses wiederum weist in die Situation der menschlichen Endlichkeit ein, der sich die Reflexion entringt.“

[40]   Gernhardt, Gedichte 1954-1997, 37.

[41]   „Die Sehnsucht nach Gott ist die Sehnsucht nach Erlösung, nach Befreiung von der beengenden Last des Schuldgefühls … [sie entspricht] dem Naturtriebe des Menschen, nicht an sich selbst zu verzweifeln, den Ankergrund seines Selbstbewusstseins zu umklammern, um nicht in Verzweiflung und Selbstaufgabe zugrunde zu gehen“ (H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums [1919], Wiesbaden 1978, 436).

[42]   Cohen, Religion der Vernunft (s.o. Anm. 41), 435.

[43]    Vgl. B. Casper, Korrelation oder ereignetes Ereignis? In: S. Moses / H. Wiedebach (Hg.), Hermann Cohen’s Philosophy of Religion. International Conference in Jerusalem 1996, Hildesheim / Zürich / New York 1997, 51-69. – Der „Sänger“ (= Sprecher) bringt das Subjekt in diesem Vollzug „erst aus sich selbst hervor“: „Der Schatten des eigenen Inneren muss ausgegraben werden, wenn das Ich in einer neuen freien Selbständigkeit und Reinheit erstehen soll. Dazu aber wird das Zwiegespräch mit Gott notwendig. Und dieses Zwiegespräch bildet der Monolog des Gebets“ (Cohen, Religion der Vernunft [s.o. Anm. 41], 433), wie Cohen in einer paradoxen Formulierung sagt. Das Ich erfährt im Gebet eine „stete Neugründung“ (a.a.O., 436).

[44]   D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1951, 185. Dies wäre dann auch die Antwort auf die Frage, die die Gedichte „Später Spagat“ (s.o. Anm. 34) aufwerfen. Sie sind von der fortgeschrittenen Krankheit gezeichnet. Lässt die Wahrheit, dass wir sterben müssen, und dass dieser Zeitpunkt sehr nahe herbei gekommen ist, den Witz noch zu? Oder schrumpft der Distanzgewinn, den er ermöglicht, und den er zugleich voraussetzt, in der Nähe des Todes? Der Witz geht aus der Spannung hervor, aus der Unruhe. Und er beruhigt diese Spannung nur für den Augenblick seiner Pointe. Im Abschied von diesem Leben kann der Witz nicht aus eigener Kraft zur Ruhe finden. Möglich ist das in dem Seelenfrieden, in den das Gebet zu führen vermag. Vgl. A. Poma, Humour in Religion: Peace and Contentment, in: S. Moses / H. Wiedebach (Hg.), Hermann Cohen’s Philosophy of Religion (s.o. Anm. 43), 183-204.

[45]   Vgl. Cohen, Religion der Vernunft (s.o. Anm. 41), 436.

[46]   Vgl. Cohen, Religion der Vernunft, 435.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/72/hmd01.htm
© Hans Martin Dober, 2011