50 Jahre danach: Kunst und Kirche


Heft 71 | Home | Heft 1-70 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Befreiung der Künste zur Profanität

Kunsthistorische und theologische Neubewertungen I

Eveline Valtink

Bahnbrechend für die theologische Neubegründung des Verhältnisses von Kunst und Kirche nach 1955 war ein Aufsatz des Kunsthistorikers Wolfgang Schöne unter dem Titel „Die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst“, der im Jahr 1957 erschienen ist.[1] Darin formuliert Schöne die These, dass die christlichen Gottesgestalten und die christliche Thematik überhaupt mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ihre Macht über die abendländische Kunst eingebüßt hätten. Nach Schöne lässt sich – aus der Sicht der Kunstgeschichte - zum Christusbild sagen: „1. Gott hat im Abendland eine Bildgeschichte gehabt. 2. Diese Bildgeschichte ist abgelaufen.“ (7)

Im Jahr 1958 erscheint in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ ein Aufsatz des Schweizer Theologen Kurt Marti unter dem Titel „Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität“, in dem er die Kunstindifferenz des Neuen Testamentes als Freigabe der bildenden Kunst zur Weltlichkeit deutet. „Weil es seit Christus keine heiligen Räume und Gegenstände mehr gibt, gibt es auch keine heilige Kunst mehr. Die Unterscheidung zwischen sakraler und profaner Kunst, zwischen heiliger und weltlicher Kunst wird damit grundsätzlich hinfällig und theologisch irrelevant“.[2]

Inwiefern authentische Christusbilder aus der Sicht der Kunstgeschichte nicht mehr möglich sind und inwiefern aus Sicht der (reformierten) Theologie religiöse Kunst nicht mehr nötig ist, soll im folgenden anhand der beiden genannten Aufsätze nachgezeichnet werden.


Wolfgang Schöne beschreibt die Geschichte der christlichen Gottesgestalten im Abendland als eine in künstlerischer und kunstwissenschaftlicher Hinsicht großartige und äußerst dynamische Bildgeschichte, die einen Zeitraum von rund 1500 Jahren umfasst. Die christliche Kunst ist dabei jeweils als die Hochkunst der jeweiligen Epoche und als deren Ausdrucks-bzw. Gestaltungsform zu charakterisieren – auf der Höhe der Zeit - ganz entsprechend dem jeweiligen Weltbild, das bis zur Renaissance als christliches zu sehen ist.

Schöne unternimmt den nach seinen eigenen Aussagen kühnen Versuch, die Geschichte der christlichen Gottesgestalten als die Bildgeschichte des christlichen Gottes selbst zu begreifen, die hier zum Vor-schein komme, sie also gleichsam von Gott her zu lesen. Bei den entsprechenden Werken handle es sich demnach zwar um von Menschenhand gemachte Werke, aber um jeweils inspirierte, um Kunstwerke, die einem „Vorgang der Transzendenz, das heißt der Grenzüberschreitung des eigenen Wesens, um ein neues Wesen zu gewinnen, ohne des alten verlustig zu gehen“ (18) entspringen.

Schöne stellt seiner Untersuchung die Überlegung voran, dass das Christentum auf dem Hintergrund der nahezu bildlosen Welt des Judentums zunächst als eine bildlose Religion entstanden sei, indem sie das Bilderverbot aus Ex 20, 4 auch für sich übernommen hatte. Dass allerdings das Bilderverbot das Judentum nicht völlig bestimmte, macht Schöne am Wort des Schöpfergottes Gen 1, 26 f. fest, in dem es heißt: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei … Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ Im Rückschluss könne man aus diesem Schöpferwort schließen, dass Gott als menschengestaltig und somit grundsätzlich darstellbar vorzustellen sei. Die Spannung zwischen Bilderverbot und dem Schöpferwort der Gottebenbildlchkeit des Menschen komme aber vollends in der Rede Gottes an Mose in Ex 33, 20 zum Vorschein: „Kein Mensch bleibt am Leben, wenn er mich sieht“. „Mit dem Christentum trat ein neues Moment in diesen Zusammenhang ein: die Lehre, dass Gott selbst in Jesus auf Erden erschienen sei, dass der geschichtliche Jesus als Sohn Gottes wahrer Gott und wahrer Mensch sei. Da der Mensch ja anders als Gott in den Bereich des unmittelbar Darstellbaren fällt, war damit die Möglichkeit, Christus im Bilde darzustellen in der christlichen Theologie von vornherein angelegt … im 4. und 5. Jahrhundert erscheinen auch die ersten eigentlichen Christusbilder, und es beginnt die christliche Kunst. Die theologische Rechtfertigung beschränkte sich aber auf die Bilder Christi. Gottvater blieb nach theologischer Meinung undarstellbar. Und die Kunst ist diesem Gebot bis ins hohe Mittelalter hinein gefolgt, indem sie Gottvater als Figur nicht darstellte, sondern allenfalls als bloßes Handzeichen … So hat die christliche Theologie also die frühe christliche Bildkunst freigegeben.“ (19)

Schöne weist darauf hin, dass die östliche Kirche die Entwicklung der Darstellung Christi in seiner menschlichen Natur zur Darstellung seiner Doppelnatur bis ins frühe Mittelalter zustimmend begleitet habe. Den Umgang mit Christusbildern der Ostkirche, in der sich eine regelrechte Bildertheologie entwickelt hat, die die Darstellbarkeit Christi in seiner gottmenschlichen Natur lehrt und schließlich die Verehrung und faktische Anbetung der Bilder erlaubt, streift Schöne nur am Rande. Sie ist für ihn deshalb uninteressant, weil sich in der Ostkirche keine Bildgeschichte wie im Westen entwickelt hat, vielmehr wurde hier der Bildtypus der Ikone vom 6. Jahrhundert bis heute als starr festgelegt durchgehalten.

Wie reich, dynamisch und wechselvoll dagegen die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten im Bereich des Westens, die allerdings - so Schöne - in ihrer künstlerischen und theologischen Entwicklung von der abendländischen Kirche eigentümlich aus den Augen verloren worden sei. (20) Wenn man sieht, „dass die Kirche in allen diesen Jahrhunderten eine Kunst größten Umgangs und höchster Macht in ihren Dienst gestellt hat, die, theologisch gesprochen, den Gläubigen mit allen Mitteln künstlerischer Magie berückte und ihn geradezu zur Verehrung des bildlich Figurierten zu zwingen scheint, also gerade zu dem, was die abendländische Theologie entschieden nicht wollte - : wenn man dies und anderes zusammenhält, dann wird einem klar, dass die abendländische Theologie die Entwicklung der abendländischen christlichen Kunst innerlich nicht begleitet, sondern eben sozusagen aus den Augen verloren hat.“ (20) Schöne sieht nicht nur in der Tendenz, die Christusbilder zu verehren und ihnen Kultbildstatus zu verleihen einen Beleg dafür, dass die westliche Kirche die Kunstentwicklung nicht wirklich begleitet habe, sondern sie habe auch „weder gegen die theologisch unerlaubte Darstellung Gottvaters ihre Stimme erhoben noch sei ernstlich dagegen eingeschritten, das die Kunst offenkundig von dem Wort Genesis 1, 27 im Sinne des Rückschlusses Gebrauch machte.“ (20) Ebenso vermisse er eine Reflexion oder Interpretation des geschichtlichen Ganzen und des Ablaufs der abendländischen christlichen Kunst.

Der Theologe Horst Schwebel sieht dies in seiner Beschreibung der Anfänge der christlichen Kunst bis zum Barock jedoch anders: „Die heute kaum mehr vorstellbare Wirkungsmacht der spätmittelalterlichen Bilderwelt wurden von den Humanisten und Reformtheologen vehement attackiert. Doch schon weit früher, nämlich im Jahr 1124 hatte sich der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux in einem Pamphlet gegen die Bildwerke der Benediktinerabtei Cluny“ äußerst kritisch geäußert. Und auch seine Darstellung des Bilderstreits in der Alten Kirche zeichnet ein anderes Bild der theologischen Auseinandersetzungen um den rechten Bildgebrauch als es Schöne vermittelt.[3]

Vermutlich geht es Schöne aber um etwas anderes: Er habe nämlich die Erfahrung gemacht, „dass mir auf die aus der Geschichte der christlichen Kunst gewonnene Feststellung, der christliche Gott – und darunter ist, wie wir sehen werden, zuerst Christus selbst zu verstehen – sei undarstellbar geworden, von theologischer Seite deutlich zu verstehen gegeben wurde, das könne nicht zutreffen, das widerspreche der Tatsache der Inkarnation. Wer mit einem derartigen Einwand auf der Zunge vor die Geschichte der christlichen Kunst des Abendlandes tritt, begibt sich von vornherein der Möglichkeit, erst einmal selbst zu sehen, was sich da eigentlich abgespielt hat. Er kann dann gar nicht anders verfahren, als weite Strecken dieser Geschichte mehr oder weniger entschieden auszuklammern, sich also das Passende aus dieser Geschichte auszusuchen. Unter diesen Vorbedingungen kann schwerlich ein fruchtbares Gespräch zwischen Theologie und Kunstgeschichtswissenschaft zu Stande kommen.“ (21)

Es geht Schöne also darum, dass die Theologie das Ganze der christlichen Kunst als Kunst und im Horizont der Kunstgeschichte wahrnimmt , es theologisch reflektiert und interpretiert – im Gespräch mit der Kunstwissenschaft.

Bevor Schöne sich nun seinem Gegenstand der Entwicklung der Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten zuwendet, weist er darauf hin, dass die christliche Theologie zwar die christliche Bildkunst anfangs freigegeben und sie auch ein Stück weit begleitet, sie aber dennoch nicht an der Wiege der christlichen Kunst gestanden habe. Seit dem 3. Jahrhundert habe sich die Struktur der antiken Kunst schrittweise zersetzt und zwar nicht unter christlichem Einfluss, sondern aus sich selbst heraus. Es bildete sich eine Kunstsprache, die allererst die Mittel und die Möglichkeit bot, „Christus so darzustellen, dass in seiner Erscheinung seine Doppelnatur als wahrer Gott und wahrer Mensch künstlerisch aufleuchtete“ (22)

Ist die Ausdruckssprache, die zum Beispiel an der Marmorstatuette des lehrenden Christus im Thermenmuseum in Rom (um 360) zu beobachten ist und die als Darstellung eines erleuchteten, von einer geistigen Ahnung ergriffenen Menschen gelten kann, aber gleichzeitig noch an die antike Formensprache der Bilder Apollons erinnert, an die antikische Leibhaftigkeit, so mutet es „umso geheimnisvoller an, wenn wir nun in einem etwa gleichzeitig entstandenen Portraitkopf (…), der vermutlich den Kaiser Arkadius darstellt, einem Ausdruck begegnen, der sich zwar an den des Kopfes der Christusstatuette aus dem Themenmuseum (…) anschließt, ihn aber gerade darin übertrifft, dass er sich erheblich weiter von einer Ausdruckssprache entfernt hat, die vom Menschen als Person gesteuert wird … Gleiches lehrt der große Goldschild Theodosius des Großen aus dem Jahre 388 (…) – eine Ehrengabe des Kaisers, der mit seinen Mitherrschern dargestellt ist. Er enthält viel schärfer als die gleichzeitigen Bilder Christi bestimmte Züge, die auf wesentliche Elemente der christlichen Kunst des Mittelalters vorausweisen: so etwa einen Ausdruck der Erhabenheit und der Menschheitsferne, die beide nicht unmittelbare Eigenschaften der dargestellten Kaiser als Personen sind. In der Bildkunst mit christlichen Inhalten bilden sich diese ´christlichen´ Züge erst allmählich aus. Erst ein Mosaik wie das der Apsis von San Vitale in Ravenna aus der Mitte des 6. Jahrhunderts (…) zeigt sie etwa auf der Ausdrucksstufe, die im Theodosiusschild bereits 150 Jahre früher erreicht war. Christus als Herr des Weltganzen, auf der Kugel des Kosmos thronend, zwischen zwei Engeln und zwei Heiligen. Hinter ihm der goldene Grund“, aus dem Nähe und Weltlichkeit immer mehr entschwinden (27f).

Die so skizzierte Anfangsgeschichte der christlichen Kunst vom 4.-6. Jahrhundert lässt sich nach Schöne als „Entweltlichung“ bezeichnen. Und dann stellt er die Frage, wie diese Entweltlichung benannt werden dürfe, wenn man sie gleichsam vom Christengott her, sub specie Die, zu sehen versuchte. Unter dem Vorbehalt und in den Grenzen eines Als-Ob werde man da zu „der Formulierung gezogen, dass diese Entwicklung der Kunst, die vom Weltlichen und Menschlichen ausgehend allmählich ein schlechthin Außermenschliches und Übermenschliches in sich aufleuchten lässt, in einer geistigen Parallele stehe zu den neutestamentlichen Vorgängen von der Inkarnation Christi in Jesus bis zu seiner Verklärung“. (28)

In der christlichen Kunst des frühen Mittelalters entfernt sich dann nach Schöne die Erscheinungsweise Christi noch viel weiter von der „antikischen Leibhaftigkeit“ als in Ravenna. Den Höhepunkt dieser Entfernung macht Schöne an der ottonischen Kunst Deutschlands um die Jahrtausendwende fest, zum Beispiel an der „Himmelfahrt Christi“ aus dem Perikopenbuch Heinrichs II. (München, um 1010). „Ganz augenscheinlich liegt hier der Akzent nicht auf der menschlichen, sondern auf der göttlichen Natur Christi – sie wird im Mittel der Gebärdenhaftigkeit, der Zeichenhaftigkeit, kurz der Überweltlichkeit der Bildsprache als die das Wesen dieser Christuserscheinung bestimmende sichtbar.“ (29) Im Medium der Bildsprache dringt aber eine geistige Ferne in „die unmittelbare Nähe unserer Sichtmöglichkeiten, so dass unser Auge sie geradezu als etwas Nahes auffassen kann“. (29) Die Erscheinungsweise Christi in diesem Bild bezeichnet Schöne als eine ´theophane´, als eine Erscheinungsweise, „in der die göttliche Natur Christi unmittelbar aufleuchtet“ – „wie aus dem Bereich Gottes zu uns herübergespiegelt“. (30)

Für den weiteren Verlauf des Mittelalters, besonders am Beginn der Gotik als größte Wandlung, die die Kunstgeschichte erfahren hat, vollzieht sich in den Christusdarstellungen eine gewisse Verleiblichung, eine „größere geistige Nähe zu menschlichen Wesen, zu uns“ (31) zum Beispiel am Portal der Westfassade von Chartres (1150). Ein halbes Jahrhundert später sieht man am Mittelportal der südlichen Querschiff-Fassade von Chartres einen Christus, der seine Wundmale zeigt und inmitten seiner Apostel steht. „Der Schritt von Chartres-West zu Chartres-Süd könnte folgendermaßen beschrieben werden: Es sieht so aus, als ob der Christus des Tympanons von Chartres-West in die Gewändezone hinabgestiegen sei … Wir dürfen wirklich sagen, dass im Vollzuge seiner Bildgeschichte Christus hier in die Nähe des Menschen hinabgestiegen ist, ebenso wie er und die Gewändefiguren der Apostel leiblicher geworden sind und ihre Maßstabslosigkeit abzulegen beginnen: sie treten nämlich in Kontakt mit dem Längenmaß des Menschen“ (31).

Wieder ein halbes Jahrhundert später, so zeigt Schöne am Westlettner in Naumburg (um 1260) anhand der Kreuzigungsgruppe auf, verringert sich der Abstand der Christusdarstellung zum menschlichen Maß weiter. Wer in den Chor eintreten möchte, muss nämlich unter den Armen Christi hineingehen. „Wenn er das tut, nimmt er einen Augenblick lang die Stelle ein, an der in den Kreuzigungsbildern des Mittelalters gemeinhin Maria und Johannes stehen. Hier in Naumburg sind Maria und Johannes nach den Seiten hin und nach oben in Gewändenischen gerückt (sie haben Platz gemacht). Für diejenigen, die den damaligen Bildtypus der Kreuzigungsdarstellung kennen (und das dürften im 13. Jahrhundert die meisten Gläubigen gewesen sein), wird die an diesem Portal künstlerisch gestaltete Nähe Christi noch stärker als ohnehin schon für uns alle als eine Nähe spürbar, welche die Nähe der Christusgestalt von Chartres-Süd noch erheblich übertrifft.“ (32) Die Gesichtszüge dieses Christus, so Schöne, sind die leidenden Gesichtszüge des Christus der Passion. Das Passionsthema früherer Kruzifixdarstellungen (z.B. aus spätottonischer Zeit) wird nun nicht länger überstrahlt von einem Majestas-Ausdruck und der damit verbundenen Ferne von allem Leiden im Sinne menschlicher Passionserfahrung.

In der Kunst der Gotik bekommt also die menschliche Natur Christi in seiner theophanen Erscheinungsweise ihr Gewicht. Schöne zeigt anhand der Kunst Giottos (um 1300) und der christlichen Kunst bis weit ins 15.Jahrhundert hinein (vgl. Dieric Bouts Abendmahlsbild in Löwen von 1464-1468), dass die theophane Christusgestalt immer stärker einen Punkt äußerster Nähe zum Bereich der irdischen Welt und zum Bereich des Menschlichen erreicht und fast einer der unseren wird. Den Höhepunkt erreicht dieses Näherkommen des Christus-Anthropos etwa in der Pieta von Fouquet (um 1475 in Nouans). Die Figur Christi zeigt kaum noch etwas davon, dass sie Christus ist. Das Bild zeigt Jesus im Schoß von Maria geradezu als einen männlichen Akt. Der Kopftypus Jesu weist fast nichts Christusähnliches mehr auf. Fouquets Bild erweist sich nach Schöne als das Ende der Bildgeschichte der Christusgestalt im Mittelalter.

Umso mehr mutet es, so Schöne, wie ein Wunder an, dass sich die Geschichte der Christusgestalt nicht im Sinne der Darstellung bloßer Menschengestalten weiterentwickelt hat, sondern dass es wieder zur Bildung einer Gottesgestalt gekommen ist. Im Barock, an der Schwelle des Beginns der Neuzeit, geschieht es, dass sich am Bilde des Menschen (Jesus) das Bild Gottes neu formt, „und zwar nicht als eine Schauspielergestalt, sondern als eine Gottesgestalt“. Die „Richtung, die bis dahin von Gott ausging auf den Menschen hin, schlägt jetzt um in eine Richtung, die vom Menschen ausgeht auf Gott hin. Dem descensus folgt ein ascensus.“ (37)

Dies zeigt Schöne an Raphael und Michelangelo auf: Bildet Raphael seine Madonnenbilder zunächst noch als ganz von der Menschlichkeit Marias und des Kindes bestimmt, erscheinen in der Sixtinischen Madonna (um 1512) Maria und Jesus als Gottesgestalten gleichsam vom Himmel herab im Sinne einer echten göttlichen Epiphanie.

Fast gleichzeitig malt Michelangelo an der Decke der Sixtina die Erschaffung Adams (um 1510). Beide Gestalten, Gottes und Adams, stehen in einem Spiegelverhältnis zueinander und „zwar so, dass die Dominanz innerhalb dieses Verhältnisses … auf die Menschengestalt übergegangen ist … Von Adam aus ist nun die Erscheinungsweise Gottes geformt, als eine Adam ebenbildliche.“ (40) Hier ist Gen 1, 27 im Hinblick auf die Bildevidenz umgesetzt: Gottvater tritt als Bild in Erscheinung. Sowohl im Bild des Jesuskindes der Sixtinischen Madonna wie auch im Bild Gottvaters von Michelangelo ist nach Schöne die Bildgeburt einer neuen – anthropophanen, und gleichwohl geist- und wirkmächtigen – Gottesgestalt vollzogen.

Als Rückschluss aus dem Bilde des Menschen entstehen nun die christlichen Gottesgestalten neu, nun in anthropophaner , aber nicht minder göttlicher Erscheinungsweise. Als Kulminationspunkt kann Pontormos Auferstehungsfresko (Certosa di Val d´Ema bei Florenz, 1522-1530) gesehen werden, das als eine leibseelische Veranschaulichung des Phänomens der Auferstehung gelten kann, „dasjenigen Vorgangs also, den die Kunst des Mittelalters nicht in einer eigentlichen Weise veranschaulichen konnte. Denn das Faktum der Auferstehung kann sich im Bereich der Bildkunst nur an einer anthropophanen, nicht jedoch an einer theophanen Gottesgestalt vollziehen. Auch bei Rembrandt wird der Auferstandene (Emmausbild von 1648) durch das Licht als künstlerische Realität vor Augen gestellt.

„Der weitere Verlauf der Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der zweiten Hälfte des 17. Und 18. Jahrhunderts ist am einfachsten dadurch zu demonstrieren, dass man auf den Ort aufmerksam macht, an dem die Gestalten erscheinen. Im ganzen genommen, darf man sagen, dass dieser Erscheinungsort sich mehr und mehr an die Gewölbe der Kirchen verlagert, also in die Höhe.“(44) Das Chorgewölbe der der römischen Kirche Sta. Maria in Vallicella zum Beispiel, die Pietro da Cortona um 1650 ausgemalt hat, wird zum Ziel der Himmelfahrt Marias und die Zentralkuppel zeigt sich als Aufenthaltsort Gottvaters, Christi und der lichtumflossenen Taube des Heiligen Geistes. Auch die Altarbilder des 17. und 18. Jahrhunderts zeigen Himmelfahrten und göttliche Gestalten, die sich in die Lüfte aufmachen.

Mit dem Ende der Barockkunst Ende des 18. Jahrhunderts ist nach Schöne auch das Ende der Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst erreicht. „Was folgt, ist nur noch Epilog. Thorwaldsens berühmter Christus in der Frauenkirche zu Kopenhagen (um 1820/30) … bezeichnet das Ende genau (…). Die Gestalt schließt sich eng an Raphaels Christus an. Aber nur dessen Umriss ist erhalten geblieben, seines Inhalts und Gehalts entleert. Göttlicher Geist, göttliche Handlungsmacht sind verflogen. An die Stelle anthropophaner Erscheinungsweise ist eine schemenhafte getreten.“(45)

Schöne legt dar, dass das 19. und 20. Jahrhundert „keine lebens- und geistkräftigen und damit künstlerisch verbindlichen christlichen Gottesgestalten mehr hervorgebracht“ (45f.) hat, obwohl die Produktion christlich-kultischer Bilder in den nachfolgenden Jahren kaum abnahm.

Schöne zeigt dann an Bildern wie Overbecks „Beweinung Christi“ (1841/45, Lübeck), der Kreuzabnahme von Chasseriau (um 1850, St. Etienne sur Loire) oder des „Christus „ von Holman Hunt (1845, Oxford), dass Christus hier jeweils nicht mehr Herr des Bildes sei wie noch bei Rubens u.a. , sondern zur bloßen Hülle geworden und nicht mehr nur dem Motiv nach, sondern auch künstlerisch tot sei, er wirke schwach und kraftlos. Nazarenische Züge in englisch-praeraffaelitischer Brechung regierten in diesen Bildern und die Christusgestalt erwecke den Eindruck des Schauspielerischen. „Schwäche erhebt den Anspruch, Gnadenkräfte auszuteilen. Darin liegt das Unerträgliche der gesamten religiösen Kunst des 19. Jahrhunderts. Ich kenne keine Gegenbeispiele.“ (46)

Und das 20. Jahrhundert? „Gewiss gibt es ab und an einmal eine packende persönliche Formulierung. Zu diesen gehört neben einigen Bildern von Corinth, Nolde, Schmidt-Rottluff, Rouault und anderen vor allem die Christus-Thomas-Gruppe von Barlach 1936, Holz; Hamburg …)“ (47). Was Schöne über diese Christusgestalt sagt, kann in der Tendenz vermutlich auch für die anderen Bilder gelten, nämlich dass sie nur noch als Hinweise gelten können, Hinweis darauf, „dass das, worauf es für den Menschen, sofern er Gott sucht, ankommt, nicht mehr in den Gefäßen solcher Gestalten selbst gefasst werden kann (…), - zum anderen aber ein rückwärtsgewandter Hinweis auf die theophanen Christusfiguren der mittelalterlichen Kunst“ (47). Aber, so Schöne, auch mit mittelalterlichen Mitteln ist Gott heute nicht mehr darstellbar. Bei den genannten Künstlern mag es sich zweifellos um gute Kunst handeln, nur - so muss man wohl schließen: Es sind Christusbilder mehr, sondern Menschenbilder.

Für die landläufige religiöse Kunst gilt aber noch nicht einmal dies, dass sie Kunst ist, sondern sie fällt nach Schöne unter das Verdikt, mittelalterliche Kunst umrisshaft und entleert nachzuahmen, mithin oberflächlich und epigonal zu sein oder sich der Pneumatisierung zu bedienen. Für letztere führt er das Beispiel eines Flügelaltars von Klahn und Dose (1950) an, hinter dem durchaus ernste theologische Bemühung und die Förderung durch die evangelische Kirche stehe. Dennoch fällt das Urteil Schönes über dieses Werk vernichtend aus. Über das dargestellte Abendmahl und die Auferstehung im bildnerischen Innenteil des Altars schreibt er: „Das Abendmahlsbild zeigt Christus und die Apostel um einen runden weißen Tisch. Vergeistigung soll ausgedrückt werden. Was aber wirklich dargestellt ist, ist nur als Kraftlosigkeit und Schwäche zu bezeichnen, nicht als Geist. Man hat den Eindruck, Insassen eines Siechenhauses vor sich zu sehen. Und das Auferstehungsbild ist fast noch schlimmer. Was hilft es, dass der Leib Christi aetherisch geformt ist und vor unseren Augen die Figur des Kreuzes annimmt, wenn das Resultat solcher Bemühung auf die Erscheinungsweise eines Schemens hinausläuft, der lediglich in der Art Geist ist, wie man das von einem Gespenst sagen kann.“ (48)

Schöne sagt selbst, dass dieses „bittere Bemerkungen“ seien, die aber in ihrer Härte notwendig seien; ja die Werke (wie zum Beispiel das von Klahn und Dose) leisteten uns allen einen schmerzlichen Dienst, den nämlich zu zeigen, dass wir in dieser Linie nicht weiterkommen. In der Kunst sei nun einmal das Ende der Abbildlichkeit angebrochen, ein Faktum, das den meisten Zeitgenossen, weil sie in künstlerischen Dingen unkundig seien, noch nicht klar geworden sei.

Dass die christlichen Gottesgestalten seit dem Ende des 18.Jahrhunderts ihre Macht über die abendländische Kunst eingebüßt haben, werde nun aber oftmals der Kunst und deren „Verlusts der Mitte“ (Sedlmayr) zugeschrieben; die Kunst habe sich säkularisiert und sei von Gott abgefallen, so heißt es. „Die so sprechen, erblicken folgerichtig in der Kunst der Gegenwart nur negative Phänomene, nämlich die Zeichen der Zertrümmerung alles Heiligen und Heilen. Sie sehen also etwa in einem Stilleben Picassos (1924 …), das mit den Mitteln expressiver Gegenstandszeichen ein neues, die Weltsicht des heutigen Menschen förderndes, aperspektivisches Wirklichkeitsbild schafft, lediglich die Zerstörung der Wirklichkeit, weil sie nicht von der Gewohnheit lassen können, das abgelebte zentralperspektivische Wirklichkeitsbild, welches das abendländische Sehen seit der Renaissance bestimmt hatte, für das schlechthin richtige, sozusagen gottgegebene und damit für alle Zeiten verbindliche zu betrachten … Die so sprechen huldigen damit einer letztlich romantischen Haltung, die sich nach dem goldenen Zeitalter des Alten Abendlandes zurücksehnt und darüber die Forderungen des Tages vergisst.“ (50)

Zwischen der modernen bzw. zeitgenössischen Kunstentwicklung und der Tatsache, dass Gott künstlerisch undarstellbar geworden ist, besteht nach Schöne zweifellos ein Zirkelverhältnis. „Aber daraus darf weder vonseiten der Theologie geschlossen werden, dass die neuen Gehalte der Kunst negativer Art seien, noch von Seiten der Kunstwissenschaft, dass Gott tot sei. Die Tatsache jedoch, dass er undarstellbar geworden ist, sollte nicht nur erkannt werden, sondern auch anerkannt werden, damit die positive Möglichkeit ergriffen werden kann, welche für das Verhältnis des heutigen Menschen zu Gott in der neuen Unsichtbarkeit Gottes bereitgestellt ist.“ (50f.)

Die neue Unsichtbarkeit Gottes sieht Schöne in einem Bild von Wilhelm Leibl überzeugend umgesetzt (Drei Frauen in der Kirche, 1881). Leibls Malerei – so sagt Schöne - sei weit entfernt von religiösen Themen und hat nichts malen wollen als Menschen und Gegenstände im Einklang, damit werde das Gewicht des Bildes aber umso größer: „Es zeigt als Raum nicht die Kirche, sondern lediglich zwei Bänke des Gestühls. Der Bildausschnitt ist so eng, dass der künstlerische Eindruck nicht auf ´Kirche´hinausläuft, sondern auf ´Kämmerlein´. Die Frauen darin vergegenwärtigen drei Stufen des Umgangs mit dem unsichtbaren (Hervorhebung von mir) Gott: das junge Mädchen das Anheben der Andacht, die sitzende Alte das tiefe Verharren in ihr und die Knieende endlich, betont vor dem hellen Wandstück, das Gebet.“ (51f.) Nur in dieser vermittelten Art, in dieser sich widerspiegelnden Ausdrucksweise, so ist zu schließen, kann die durch nichts mehr rückgängig zu machende Unsichtbarkeit Gottes noch in einer künstlerischen Gestaltung Ausdruck finden.

Schließlich greift Schöne, um seine Sicht ein weiteres Mal zu verdeutlichen, auf zwei künstlerische Darstellungen des Gekreuzigten zurück: auf Velazquez´ Bild Christi am Kreuz (um 1630, Madrid) und Goyas Bild Christi am Kreuz (1780, Madrid, einer Zeit, die Schöne kunstgeschichtlich schon zum 19. Jh. gehörend zählt). Zum ersteren schreibt er: „Der Sohn Gottes steht vor uns, kein Zweifel! Beschienen von einem Lichte wie aus dem Himmel Gottvaters“. Dagegen Goya: „ein bloßer nackter Mensch, in der Stellung des Gekreuzigten, deshalb vom Motiv her als Christus erkennbar, aber keine Gottesgestalt mehr, sondern ein männlicher Akt!“ (52) Vom Christusbild zum Menschenbild geht also die Bewegung in Neuzeit, Moderne und Gegenwart. Dahinter gibt es offen sichtlich kein Zurück mehr.

Zusammengefasst kann gesagt werden: Die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten beginnt in der Spätantike des 4.-6. Jahrhunderts. Im Sinne eines Als-Ob inkarniert sich Gott zunächst in der Gestalt des spätantiken Menschenbildes und gelangt darin langsam zu wirkmächtiger Sichtbarkeit. Um die Jahrtausendwende erreicht diese theophane Erscheinungsweise der christlichen Gottesgestalten ihren Höhepunkt. Dann wandelt sich diese ferne Figur des Christus-Logos und kommt immer näher und wird zum Christus-Anthropos. Diese Bildgeschichte der Annäherung der Gottesgestalt an den Menschen wird bis zum Ende durchschritten. Ihr Endpunkt wird im 15. Jahrhundert erreicht und genau hier schlägt die Geschichte um: „Im buchstäblichen bildlichen Vollzuge der christlichen Heilslehre von der Erschaffung des Menschen als des Ebenbildes Gottes entstehen jetzt die christlichen Gottesgestalten als Rückschluß aus dem Bilde des Menschen neu, in nun anthropophaner, aber nicht minder göttlicher Erscheinungsweise. Nachdem sie sich in der Kunst der Hochrenaissance ausgebildet haben und in der Anschauungsform der Epiphanie in Erscheinung getreten sind, handeln sie auf der Erde, unter den Menschen, in der Welt – ja sie erstehen auf, wie der auferstandene Christus Rembrandts … Und nachdem dies alles geschehen ist, begeben sie sich in die Lüfte, ja man kann sagen: sie fahren zum Himmel.“ (53)

Diese Bildgeschichte Gottes in der abendländischen Kunst (vom 4.-18. Jahrhundert) kann auch – in kühner Weise (so Schöne) - heilsgeschichtlich interpretiert werden, entsprechend der Abläufe, wie sie im Neuen Testament berichtet werden: Inkarnation Gottes im Menschen Jesus – Sichtbarwerden Gottes in Jesus (Verklärung) – öffentliches Wirken du Passion Jesu-Christi – Auferstehung – Himmelfahrt.

Die Bildgeschichte Gottes im Abendland hat einen Anfang und Ende. „Das Ende ist nicht nur durch die ´Himmelfahrt´ der christlichen Gottesgestalten in der Kunst des 18. Jahrhunderts deutlich als Ende bezeichnet, sondern auch dadurch, dass der Epilog der Bildgeschichte Christi im 19. Und 20. Jahrhundert keine Geschichte mehr enthält (sondern nur noch epigonal ist, Hervorhebung von mir), obwohl die Kunst selbst weiterhin eine sehr lebendige Geschichte vollzogen hat. Die Folgerung, die wir Heutigen, die wir diese Bildgeschichte zu sehen vermögen (vielleicht erstmals), aus ihr zu ziehen haben, lautet meines Erachtens auf jeden Fall: Gott ist undarstellbar geworden. Positiv gewendet: Gott ist für heute und morgen unsichtbar.“ (54)

Anmerkungen

[1]    Schöne, Wolfgang (1957): Die Bildgeschichten der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst. In: Wolfgang Schöne, Johannes Kollwitz und Hans von Campenhausen (Hg.): Das Gottesbild im Abendland. Witten [u.a.]: Eckart-Verl. (Glaube und Forschung, 15), S. 7–56. [Alle Zitate aus dfiesem Text werden im Folgenden in Klammern angegeben).

[2]    Marti, Kurt (1958): Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität. In: Evangelische Theologie (8), S. 371–375, hier S. 374.

[3]    Schwebel, Horst (1980): Das Christusbild in der Bildenden Kunst der Gegenwart: Schmitz, Wilhelm; insbes., S. 11f.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/ev05.htm
© Eveline Valtink, 2011