50 Jahre danach: Kunst und Kirche


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Antijudaismus praktisch

Vom Wuchern eines Stereotyps

Andreas Mertin

Selten habe ich das Wort „alttestamentarisch“ so oft gelesen wie in der Woche nach dem Tod von Osama Bin Laden. Ob man nun für die Kommandoaktion der US-Militärs war oder dagegen, einig war man, dass hier irgendwelche „alttestamentarischen“ Gefühle im Spiel waren – sei es bei der Beauftragung, sei es bei dem anschließenden Jubel über den Erfolg der Aktion.

Und selten wurde so ungeschminkt antijudaistisch argumentiert. Im Kern lief es immer wieder auf dasselbe hinaus: ob denn eine christliche Nation wirklich stolz darauf sein könne sich so zu verhalten wie die Juden. Gesagt hat man das natürlich nicht. Statt dessen fragte man, ob denn Christen das „alttestamentarische“ Auge um Auge, Zahn um Zahn befolgen dürften.

Dass der SPIEGEL sich gleich mehrfach[1] dieses Klischees bedient, verwundert nicht, ist er doch ein Meister der Verachtung des Religiösen, insbesondere der jüdisch-christlichen Variante. Stefan Kuzmany trägt noch einmal seine ganzen Vorurteile zusammen, wenn er schreibt:

„Viel bildet sich der christlich geprägte Westen ein auf seine zivilisatorische Überlegenheit den islamischen Ländern gegenüber. Doch das, was gerade in den USA geschieht, vermittelt einen anderen Eindruck. Wenn US-Amerikaner den Tod Bin Ladens mit Tänzen und Sprechchören feiern, graust es den hiesigen Betrachter - der Jubel wirkt befremdlich, weil er uns zeigt, dass die US-Gesellschaft uns fremder ist, als es scheinen mag. ‚In God we trust’ steht auf jeder US-Dollar-Note, doch dieser Gott ist nicht der verzeihende, neutestamentarische Gott - sondern der rachsüchtige aus dem Alten Testament. Hierzulande gilt Resozialisierung als Ziel von staatlicher Strafe - in den USA ist es die Vergeltung, bis hin zur Todesstrafe. Dass die Todesstrafe, wie bei Bin Laden, auch ohne Prozess verhängt werden darf, wenn nur das Verbrechen und der Zorn darüber groß genug sind, und dass ihr Vollzug euphorisch gefeiert wird, belegt, wie tief die "Auge um Auge"-Ideologie in der US-amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist. Die Rachsucht mag mächtig sein - moralisch überlegen ist sie nicht.“

Kann man von einem Autoren, der beim führenden Magazin Deutschlands schreibt, nicht einen Funken Bildung und Wissen voraussetzen? Dass es neutestamentlich heißen muss? Dass das biblische „Auge um  Auge, Zahn um Zahn“ zum ius talionis gehört und ein bedeutsamer Schritt in der menschlichen Entwicklung des Rechts darstellt, indem es das maßlose Strafen und die Blutrache begrenzt? Sollte ein Autor beim Spiegel nicht wissen, dass die Rede vom „rachsüchtigen Gott des Alten Testaments“ zum Standardvokabular der Antisemiten seit über 100 Jahren gehört? Ja, er sollte das alles wissen, aber dem Spiegel ist ein anti-religiöser Reflex allemal wichtiger als historisch korrektes Wissen. Dieser sprachliche Antijudaismus leistet dem realen Antisemitismus Vorschub.

Dass aber auch Redakteure der EKD-Plattform evangelisch.de diesen antijudaistischen Jargon pflegen, verwundert schon mehr. In einem Kommentar schreibt Hanno Terbuyken:

„Es ist die alttestamentarische Rache für die Anschläge vom 11. September, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Für die Amerikaner war bin Laden die Personifizierung des Bösen, ebenso wie die USA für bin Laden immer der große Satan waren. Diese Feindschaft zwischen dem Land und dem Mann ist jetzt vorbei, die Amerikaner haben bin Laden mit seinen eigenen Mitteln geschlagen: mit Gewalt.“[2]

Nun könnte man Terbuyken fragen: Was wäre nach dem ius talionis die angemessene Kompensation „für die Anschläge des 11. September“? Und was wäre seiner Ansicht nach der angemessene Umgang mit dem Anstifter der 11. September? Aber darum geht es gar nicht, es geht darum, dass reflexartig der Rachegedanke der jüdischen Religion zugewiesen wird.

Den Gipfel aber bildete Radio Vatikan, deren Redakteurin Anne Preckel im Interview mit  Heinz-Gerhard Justenhoven sich zu folgenden Äußerungen hinreißen lässt:

„Das lässt einen fast an die alttestamentarische Weisung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24) denken, die für unbedingte und maßlose Vergeltung steht. Ist dieses Vorgehen einer modernen demokratischen und christlichen (Welt-) Gesellschaft überhaupt noch angemessen?“[3]

Ja so sind/waren die Juden: unbedingte und maßlose Vergeltung, wie man ja an der Formel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sieht. Offenkundig hat sie keine Ahnung, wovon sie spricht. Warum dürfen dann solche Leute an der öffentlichen Meinungsbildung mitarbeiten? Leute die ernsthaft vertreten, dass die Kompensationsregel nach dem ius talionis maßlos sei, obwohl die sechs Worte doch gerade in einem Maß bestehen? Wenn nach einem Mordanschlag, dem mehr als 3000 Menschen zum Opfer fielen, der Verantwortliche getötet wird, dann ist das „maßlos“? Was wäre denn dann das rechte Maß? Wer nicht einmal eine Sekunde lang darüber nachdenkt, wie schwierig die Rechtssprechung gegenüber einen tausendfachen Mörder ist, der sollte lieber schweigen. Und schon gar nicht andere Religionen denunzieren. Denn sie kann auf keinen einzigen historischen Fall verweisen, indem das Recht nach Ex 21. 24  außerhalb eines Rechtsprozesses (denn es setzt in der hebräischen Bibel einen Prozess voraus!) zur Anwendung gekommen wäre. Hätte sie nicht sagen müssen, anders als im Alten Testament, anders als in den rabbinischen Diskussionen, die immer in derartigen Fällen einen Rechtsprozess vorsehen, haben die sich auf das Christentum berufenden Akteure einen solchen nicht für nötig gehalten? Es ist also – wenn man überhaupt pauschalieren will - das Charakteristikum der Christen, kurzen bzw. keinen Prozess zu machen. Dies dem jüdischen Glauben zu unterschieben, setzt schlicht einen 2000-jährigen Antijudaismus fort.

Aber Christen sind ja friedlich wie die Redakteurin betont.

„Habt keine Angst“ – dieses Motto des seit Sonntag seligen Papstes Johannes Paul II. sollte eine grundlegende Maßnahme auch der Terrorismusbekämpfung sein – und zwar in der Sicht der Beziehungen der Völker untereinander, also im Sinne von „Habt keine Angst voreinander“.

Und doch stellt sich ihr die Frage:

„Gießt der Schlag gegen Bin Laden jetzt Öl ins Feuer der radikalen Moslems?“

Denn wenn nicht die Juden, dann sind die Moslems radikal. Und diese Behauptung speist sich natürlich nicht aus der Angst vor einer fremden Religion, sondern aus der Friedlichkeit des Christentums. Denn nur die Christen, die sind friedlich. Und wenn sie es nicht sind, folgen sie „alttestamentarischen“ Gesichtspunkten, also eigentlich jüdischen. Und wenn sie das tun, stacheln sie radikale Moslems an. Wie verquer muss ein Weltbild sein, in dem so etwas Platz hat?

Welche Auswirkungen das dann auf die Bevölkerung hat, kann man einem Leserbrief eines „Christen“ an die Online-Ausgabe des Focus entnehmen, der unter der Überschrift „Alttestamentarisches Denken“[4] schreibt:

Hier haben wir noch einmal gebündelt alle Stereotypen beisammen, die den ganz alltäglichen Antijudaismus und christlichen Chauvinismus in der Bundesrepublik Deutschland charakterisieren. Denn zum einen wird das, was man für den Maßstab christlichen Handelns (und eben nicht humanitären Handelns) hält, zum Maßstab für alle gemacht, egal ob sie nun in einer muslimischen oder in einer multikulturellen Gesellschaft leben. „Seit Jesus“ ist eben die christliche Ethik für alle verbindlich. „Wer das negiert … schließt sich selber von der aufgeklärten westlichen Gesellschaft aus“. Da fragt man sich, ob nicht jeder sofort den impliziten Widerspruch von „aufgeklärt“ und „christlich“ verspüren muss. Bis auf den heutigen Tag bemüht sich der aktuelle Papst die Aufklärung für alle möglichen Übel verantwortlich zu machen und sieht keinesfalls irgendeine genuine Verbindung von Christentum und Aufklärung.

Was aber meint man, wenn man sagt, wer diese Ansicht nicht teile, „schließt sich selber aus“? Spürt man hier nicht schon den Terror, der Andersdenkende aktiv ausschließt? Denn, wie der Schreiber fortführt, wer das ius talionis befolgt, der „hat in der heutigen Zeit nichts mehr verloren“. Und das heißt? Aber freilich gibt es nach Ansicht des Leserbriefschreibers nur wenige, die so aus der Gesellschaft und der heutigen Zeit ausgeschlossen werden müssten, nämlich die mit dem „alttestamentarischen Gehabe“. Und schon sind wir mitten drin im Antisemitismus.

Inzwischen halte ich die fortgesetzte Rede vom „alttestamentarischen“ und vom „Rachegott des Alten Testaments“ für ein deutliches Symptom eines manifest gewordenen Antisemitismus in Deutschland. Es ist kein kognitiver Antisemitismus wie vor 100 Jahren, eher ein sich zur Aggressivität wandelndes Ressentiment, das sich Anlässe wie diesen sucht, um öffentlich konsensuell zu werden. Auf Ressentiments gestützte sprachliche Schlamperei zeugt aber von einem Verlust des Problembewusstseins. „Ach, darüber habe ich gar nicht nachgedacht“ – als ob das eine Entschuldigung und eben nicht nur eine Erklärung wäre.

Wir haben darüber hinaus auch einen klar sich artikulierenden Antisemitismus in Deutschland, der zum Beispiel Tag für Tag auf der nationalsozialistisch-‚katholischen’ Plattform kreuz.net sein Propaganda-Unwesen treibt. Dort tummelt sich eine braune Meute, die im Rechtskatholizismus Stimmung macht gegen Juden (und Amerikaner). Bei ihnen gehört die Leugnung der Dimensionen des Holocaust zum Standardrepertoire und die Verharmlosung des Holocaust durch Vergleiche mit Abtreibungen zur gezielten Strategie.

Und ich meine beobachten zu können, dass diese menschen- und religionsverachtende Ideologie ins Normale wuchert. Daran arbeiten auch Bischöfe mit, die wiederholt einen Konnex von Holocaust und Abtreibung herstellen, daran arbeiten christliche Plattformen und Radioanstalten mit, die die antisemitische Redeform vom „alttestamentarischen Rachegott“ bewusstlos oder – was noch schlimmer wäre – bewusst weitertragen.

Die Leserinnen und Leser möchte ich bitten, sobald Sie in ihrer Tageszeitung oder in anderen Kontexten auf solche Formulierungen stoßen, protestieren Sie, verlangen Sie die Änderung der Wortwahl und auch, dass die Verantwortlichen doch bitte einmal darüber nachdenken, was sie da anrichten. Dass das manchmal funktioniert, sehen Sie hier: Irgendwie apokryph.[5]

Anmerkungen

[1]    http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,760334,00.html
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,760090,00.html

[2]    http://www.evangelisch.de/themen/politik/eine-erschiessung-ist-kein-grund-zum-feiern40035

[3]    http://www.oecumene.radiovaticana.org/ted/articolo.asp?c=483425

[4]    http://www.focus.de/panorama/welt/alttestamentarischen-denken-iran-kommentar_3521781.html

[5]    http://www.sueddeutsche.de/service/sprachlabor-irgendwie-apokryph-1.1076800

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/am357.htm
© Andreas Mertin, 2011