50 Jahre danach: Kunst und Kirche


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Böser Kitsch, Fame Hooker

Maria Magdalena, Jady Gaga und Judas

Andreas Mertin

1950 erscheint Richard Egenters Buch „Kitsch und Christenleben“, erlebt mehrere Auflagen und kommt 1962 noch einmal als Taschenbuchausgabe heraus. Der Klappentext beschreibt Inhalt und Intention so:

„Kitsch und Christenleben? Was hat der Kitsch mit dem religiösen Leben des Christen zu tun? Ist er nicht ausschließlich eine Frage des guten Geschmacks und der Ästhetik? … Egenter geht in dem hier vorliegenden Buch diesen Fragen nach. Dabei erweist es sich, daß der Kitsch eben doch keine rein ästhetische Angelegenheit ist, sondern daß er in viele Lebensbereiche des Menschen — auch in sein religiöses Leben — hineinwirkt. Der Kitsch trübt den Blick des Menschen für das wirklich Schöne und Erhabene, verbildet das Gefühlsleben und gibt ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Nicht minder gefährlich als der profane Kitsch wirkt sich der religiöse Kitsch aus. Eben weil das religiöse Leben nicht einen Teil, sondern den ganzen Menschen meint und umfaßt, ist es notwendig, um den Kitsch und seine Auswirkungen auf den Menschen zu wissen.“[1]

Das Buch ist darin untypisch für die Zeit, dass es sich nicht auf die Provokationen der zeitgenössischen Kunst fokussiert, sondern sich den wahren Ärgernissen, den „atembeklemmenden, Bakterien nährenden Staub des Kitsches“ zuwendet: „Die Herrschaft des Kitsches war im christlichen Leben der letzten hundert Jahre zeitweise eine fast totale.“

Demgegenüber sieht Egenter die Notwendigkeit, Aufklärung zu leisten und den Kitsch zu entlarven. Und das macht der Verfasser nicht einfach mit deklamatorischer Geste, sondern zeigt en Detail, wie der Kitsch funktioniert und wie er mit den Rezipienten und deren Erwartungen arbeitet. Dazu schreitet er ein imaginäres Museum ab und betrachtet die versammelten Bilder auf ihren potentiellen oder realen Kitschanteil. Er schaut sich Philipp Veits „Ruhe auf der Flucht“ an und befindet, es sei zwar hart an der Grenze, aber noch kein Kitsch. Dann schaut er sich eine Darstellung Marias als Gute Hirtin an und meint, „es handelt sich um redlichen, seiner Minderwertigkeit nicht bewussten Kitsch, aber doch Kitsch.“

Und dann wendet er sich dem zu, was er den „beabsichtigten, bösen Kitsch“ nennt. Er betrachtet eine Darstellung der büßenden Maria Magdalena, „wie sie als respektabler ‚Schinken’ von der Kopfwand zahlreicher Schlafzimmer herabgrüßt.“ Den Urheber des Bildes benennt er nicht, tatsächlich blickt er auf eine Ende des 19. Jahrhunderts beliebte Kopie des Bildes Die Büßende Maria Magdalena von Pompeo Girolamo Batoni aus dem Jahr 1760 aus der Dresdner Gemäldegalerie. Die Kopie, die das Vorbild leicht variierte, stammt aus der Zeit um 1860 und wurde von umherziehenden Händlern als Ölleinwand vertrieben.

„Der Gegenstand ‚stimmt’; es handelt sich um die aus der Legende uns geläufige heilige Büßerin in einer Höhle, vor sich ein frommes Buch und den mahnenden Totenkopf. Aber was ist daraus in der Vorstellung und dementsprechend in der Darstellung des Künstlers geworden? … Nichts mehr vom Ideal jener großen biblischen Frauengestalt, der viel vergeben wurde, weil sie eine große Liebende war. Was bleibt, ist das Weib als Geschlechtswesen, geschlechtliches Begehren weckend. Die halbentblößte Brust, das aufgelöste Goldhaar, die hingegossene Linie des Körpers, durch all dies spricht das üppige Weib eben erotisch-sexuell an. Der Ausdrucksgehalt dieser Darstellung ruft nicht nach dem Sünderheiland, sondern nach dem Mann als Geliebten und Geschlechtspartner. …

Gerade aus dem „bösen Kitsch" ist das Wesen des Kitsches besonders gut ersichtlich. Machen wir uns also noch etwas deutlicher, wie der Künstler es bewerkstelligt, um zu Geld zu kommen. Er weiß, die meisten Menschen sprechen auf sinnlicherotische Reize am leichtesten an, haben aber auch Hemmungen, das vor sich oder anderen einzugestehen. Also muß er etwas schaffen, was erotisch reizvoll ist und was zugleich einen legitimen Anlaß bietet, sich damit abzugeben. So wählt er eine zur Erotisierung besonders geeignete Frauengestalt aus der Bibel, denn ‚gegen ein Heiligenbild kann man ja nichts einwenden’. Wie stellt es der Verfasser eines solchen Machwerks nun an, damit sein Bild ‚einschlägt’? Er wird zunächst bei der Wiedergabe seines Gegenstandes von allem absehen, was den einheitlichen reizvollen Sinneseindruck stören könnte. Würde zum Beispiel die gleiche Magdalena unter dem Kreuz des sterbenden Heilands knien, so empfinge der Beschauer einen zwiespältigen Eindruck. Er könnte sich dem eingestandenen oder uneingestandenen prickelnden Behagen an der „schönen Heiligen" nicht ungehemmt und ohne Gewissensbisse hingeben. Darum diese Komposition, welche die „schöne Büßerin" in der Höhle zum eigentlichen Mittelpunkt des Bildes macht. … Es wird nur gezeigt, was um eines bestimmten Gefühls- und Trieberlebnisses willen leicht eingehen soll. … Für den Künstler ist in unserem Falle das Wichtige nicht die Heilige, sondern ihr erotischer Nimbus, genauer eben nur das erotisch reizvolle Geschlechtswesen. … Das Bildnis des lockeren Mädchens wird mit dem religiösen Büßerschicksal Magdalenas verbunden.“

Soweit der Moraltheologe Richard Egenter. Abgesehen von der heute etwas überholt wirkenden Sprache ist die Analyse höchst interessant, weil sie auf die Konstruktion des Bildes eingeht und die Leerstellen benennt, an denen die Rezipienten mit ihren Phantasien einsetzen sollen.

Andere Künstler konnten – vielleicht weil sie sich auf die Phantasie ihrer Kunden nicht verlassen mochten, vielleicht weil sie den sinnlichen Reiz noch steigern wollten – das Thema noch wesentlich direkter umsetzen. Jules Joseph Lefebvre (1836-1911) malt 1876 etwa diese Version, bei der man erst einmal darauf kommen muss, dass es sich um die büßende Maria Magdalena in der Höhle handeln soll:

Heute „funktionieren“ Bilder dieser Art nicht mehr, sie sind Teil des Alltags, sie sind zu selbstverständlich geworden und haben daher ihren Reiz des Außerordentlichen und Verbotenen verloren. Der erotische Kitsch sucht sich deshalb andere Wege, die Leerstellen für die Nutzer sind heute andere.

Aber im Arsenal des schwülstigen Kitsches spielt Maria Magdalena in ihrer spätmittelalterlichen Verknüpfung mit der ägyptischen Maria und der Sünderin aus dem Lukas-Evangelium trotzdem weiter eine bedeutsame Rolle.

Das wurde jüngst deutlich, als die Trash-Ikone Lady Gaga ankündigte, in einem Video-Clip zu ihrem neuesten Opus „Judas“ die Maria Magdalena zu geben, die sich in Judas verliebt hat. Und weil das, was sie mit Maria Magdalena verbinden will, gar nicht in der Bibel steht, bezieht sie sich auf jene katholische Gemengelage der Legenden-Überlieferung, die dann am Ende des 19. Jahrhunderts zum eben vorgestellten Schlafzimmerbild wurde.

Im Prinzip macht Lady Gaga nichts anderes, als dieses schwülstige Schlafzimmerbild des 19. Jahrhunderts neu zu zeichnen, es upzudaten. Und da die erotische Verbindung von Maria Magdalena mit Jesus im 20. Jahrhundert mehr als überstrapaziert wurde, so dass sie einem nach Herbert Achternbusch, Nikos Kazantzakis und Martin Scorsese wirklich nichts Neues mehr sagt, muss nun Judas dran glauben, dem als homme fatale ein Techtelmechtel von der femme fatale Maria Magdalena angetragen wird. So plump, so dumm, so leicht durchschaubar. Lady Gaga ist endlich da gelandet, wo sie vielleicht von Anfang an hin wollte: in der Welt des Schlagers. Wie abgrundtief peinlich. Eine Sandra des 21. Jahrhunderts, aber die hatte wenigstens noch gesungen: I'll Never Be Maria Magdalena – ich spiele nie die Maria Magdalena.

Wer sich Lady Gagas Premieren-Tanzperformance in der Ellen-DeGeneres-Show angesehen hat, fühlte sich unwillkürlich in einen Auftritt des MDR-Fernsehballetts bei der Volkstümlichen Hitparade versetzt. Lady Gaga umgeben vor allem von Tänzern mit angedeuteter Tonsur und einer Tanzperformance, die an Lächerlichkeit (und Unprofessionalität) kaum zu überbieten war. Und diese Künstlerin wagt es ernsthaft, sich mit Madonna zu vergleichen? Da könnte man auch gleich Florian Silbereisen mit Bob Dylan zusammenschmeißen.

Tatsächlich enthält der Liedtext einige Momente der Wahrheit, es sind freilich andere, als Lady Gaga es gerne hätte. Das Kokettieren mit einer Liebschaft des hingerissenen Mädchens mit dem bösen Mann (good girl meets bad boy) ist kleinbürgerlich durch und durch, spätes 19. Jahrhundert sozusagen und damit vollständig verlogen.

Wahr ist dagegen die Eigen-Etikettierung als Fame Hooker. Nein, sie ist definitiv kein Fame-Monster. Das ist zu viel der Ehre. Die Kommerzialisierung, die zur Zeit niemand im Business so durchschaubar beherrscht wie sie, macht sie zu dem, als was sie sich bezeichnet: zur am Kommerz orientierten Ruhm-Nutte, die jeden noch so trivialen Gag einsetzt, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erhaschen und den Umsatz anzukurbeln. Und deren Accessoires von mal zu mal berechenbarer werden: schon wieder Religion, schon wieder Kreuze, schon wieder der Heilige-und-Hure-Komplex. Da helfen auch keine schnell veröffentlichten ostentativen Gebete (die sie doch nur bei „In Bed with Madonna“ abgekupfert hat), die vielleicht die Catholic League ein wenig beruhigen mögen, in der Sache aber nur ein weiterer billiger Gag sind. Es ist einfach nur böser, um nicht zu sagen blöder Kitsch. Da kann man nicht einmal auf eine Bekehrung hoffen.

Der Video-Clip, ursprünglich für den Ostersonntag angekündigt, verzögerte sich dann bis in die erste Mai-Woche. Besser wurde er damit nicht.

Das Video eröffnet mit einem halbminütigem Prolog so, wie wir uns Jesu Jüngerschar schon immer in den kühnsten (Alp)Träumen vorgestellt hatten: als Hells-Angels-Rocker auf dem Motorrad, jeder mit seinem genieteten Namen über dem Totenkopf auf der Lederjacke. Und Christus, hervorgehoben durch seine Dornenkrone(?), hat noch (s)ein Mädchen auf dem Rücksitz, eben besagte Maria Magdalena, gespielt von Lady Gaga, die nun eine goldene Krone ziert. Man landet vor eine Kneipe und führt dort ein Tänzchen auf. Maria Magdalene hat das Outfit gewechselt und tanzt im orientalischen Bauchtanzkostüm (Salome?) mit großen Kreuzen vor den Brüsten. Zwischendurch wechselt man ins Innere der Kneipe, die passender Weise „Electric Chapel“ heißt [weil das ein Titel auf ihrem aktuellen Album ist] und für eine vage angedeutete Abendmahlsszene Platz bietet. Da geraten dann die Jünger etwas in Ekstase, jeder macht ein wenig mit jedem rum, dann zieht Maria Magdalena eine Knarre und zielt auf Judas. Statt einer Kugel kommt aber ein Lippenstift aus der Pistole und verschmiert das Gesicht von Judas. Es folgt der so genannte Judaskuss. Und schwups … sitzen Maria Magdalena, Jesus und Judas in der Badewanne und kippen Bier (oder Paris-Hilton-Sekt in Dosen) aus. Das soll wohl die Salbungsszene der ungenannten Frau nach Johannes 12 darstellen. Dann springen wir wieder zur „Kreuzige ihn“-Szene, die mit einer skurrilen Steinigungs-Szene der Maria Magdalena im glänzenden Kostüm abgeschlossen wird.

Und so wirr und bizarr wie sich das Ganze anhört, ist es auch inszeniert. Da helfen wirklich keine noch so bemühten Deutungsversuche zur Rettung, es ist und bleibt Schund. Und es ist ein künstlerischer Offenbarungseid für die Sängerin als Mit-Regisseurin. Man sollte Regie-Arbeit Profis überlassen. Hauptsache schrill ist noch lange kein Konzept.

Mir ist es ehrlich gesagt gleich, wie pubertär manche mit komplexen biblischen Figurenkonstellationen meinen umgehen zu müssen. Jeder blamiert sich, so gut er es kann. Wer sich ansatzweise einmal mit der Figur des Judas auseinandergesetzt hat, der in manchen christlichen Traditionen ja als Heiliger verehrt wurde, weil er Werkzeug der Heilsgeschichte war, der kann über Lady Gagas Beerbung nur müde den Kopf schütteln (oder einen Schreikrampf kriegen).

Aber selbst das Stückwerk an Renovierung, das Lady Gaga dem ganzen Geschehen meint angedeihen lassen zu müssen, ist seinerseits nur ein Klon anderer Inszenierungen. Ich glaube, viele erinnern sich noch an die Re-Inszenierung der neutestamentlichen Geschichte durch die Fotografin Bettina Rheims unter dem Titel „I.N.R.I.“. Sie hatte ja die konventionelle christliche Ikonographie mit Bildern der Werbeästhetik unterfüttert und schon dabei die Jüngerschar auf eine jugendlich bewegte Jungmänner-Truppe aufgepeppt. Maria Magdalena packte sie zu Jesus in die Badewanne und zeigte sie später mit den entsprechenden Attributen als Büßerin. Und Judas zeigte sie mit Knarre in der Hand. Bettina Rheims hatte sich aber wenigsten noch die Mühe gemacht, die christliche Ikonographie zu bedenken, bevor sie sie der Welt der Werbeästhetik anverwandelte. Und sie hatte immer auch noch bestimmte Brechungselemente eingebaut, die verschiedene Lesarten und Deutungen des Ganzen ermöglichten.

Lady Gaga, die Inszenierungen wie die von Bettina Rheims zu klonen sucht, macht sich diese Mühe nicht mehr. Es ist einfach nur ‚irgendwie’ assoziativ verknüpft. Jesus auf dem Weg nach Jerusalem – muss natürlich eine Dornenkrone tragen, hatte er doch immer auf. Die Jünger – eine coole Gang mit Totenkopfemblem, die die Gesellschaft gehörig aufgemischt hat. Die Salbung in Bethanien – eine ménage à trois in der Badewanne. Das Abendmahl – eine Stehtischszene in der Kneipe. Maria Magdalena – eine Odaliske mit Knarre und wilden Phantasien, die hinterher bitter dafür büßen muss. Alles in allem: Eine Kombination von Trash, Broadway Musical und Slapstick.

Jemand schrieb im Internet, er fühle sich an das Video zu "Crucified" von "Army Of Lovers" erinnert. Tatsächlich geht diese Annahme wohl nicht fehl. Nur war „Crucified“ von Anfang an als übersteigerte Travestie inszeniert und quoll vor Ironie nur so über. Und „Army of Lovers“ hat sich ganz gewiss nicht treuherzig als vor dem Konzert betende Musikgruppe ausgegeben, sondern sich als quer zur etablierten Gesellschaft dargestellt. Davon ist Lady Gaga leider meilenweit entfernt.

Lady Gaga produziert Schlager-Trash mit Bildinszenierungen, bei denen nur Verklemmte meinen können, das sei irgendwie provokativ. Oops i did it again! Vielleicht ist es mit Lady Gaga so wie mit den orthodoxen Bildikonen, die ja auch einmal durch einen Bildfindungsprozess zustande kamen und insofern originell waren und nun seit Jahrhunderten einem Erstarrungsprozess unterliegen. Bei Lady Gaga hat es dafür nur nicht hunderte von Jahren bedurft, schon seit „Born this way“ sehen wir nur geronnene Bilder allenthalben.

Lady Gaga reklamiert für sich, das Ganze sei eine Metapher und habe als solche etwas mit dem elementaren Konflikt von Gut und Böse zu tun. Das ist ja schön und gut, aber muss man nicht fordern, dass es sich dann auch wirklich um eine Metapher handelt? Müsste man den Videoclip dann nicht konsequenterweise sprachlich umformulieren können in eine Aussage wie: Mit unserem Verhältnis zum Guten und zum Bösen verhält es sich wie mit einem Mädchen, das mit einem guten Jungen zusammen war und sich zum bösen Jungen hingezogen fühlte? Aber das ist noch keine Metapher (denn die Worte gut und böse stehen auf beiden Seiten der Gleichung), eher ist es eine Schmonzette. Was ist denn da die Ähnlichkeitsbeziehung? 

Selbst wenn man die Inszenierung und den Liedtext, wie es ein Video bei Youtube subtil ironisch vorgeschlagen hat, als untergründige Metapher für Lady Gagas Wunsch interpretiert, eine gute Künstlerin zu sein, und der ernüchternden Einsicht, sich dem bösen Kommerz bedingungslos ausgeliefert zu haben, wird das Ganze nicht wirklich stimmig. Zu konfus ist das assoziative Netz verknüpft.

Und nicht einmal die Deutungsvariante Richtung Satanismus macht Sinn, dazu bleibt Lady Gaga wiederum zu brav. Es mag ja sein, dass sie wie in Born this way meint, es sei gleich ob man him oder HIM (= His Infernal Majesty) liebt, Hauptsache man liebe überhaupt. Dann möchten wir das aber auch sehen! Der Morgenstern, der auch als Symbol Luzifers gilt, ist da doch zu wenig. Wenn schon Provokation, dann bitte doch nicht im Biedermeierstil. Und ja – Rockerinszenierungen mit Chopper oder Harley sind heute Biedermeier. Sie waren es eigentlich schon zu Zeiten ihres Revivals in den 60er-Jahren, aber heute ist es augenfällig.

 

Maria Magdalena ist immer eine Projektionsfläche gewesen – das zeigt ihre verworrene Rezeptionsgeschichte. Am Ende des Clips aber Maria Magdalena durch die Bevölkerung steinigen zu lassen – was im vorliegenden religiösen Kontext Gotteslästerung oder Ehebruch als Grund voraussetzen würde – ist allein Lady Gagas nicht zu stoppenden Hang zur Überdramatisierung geschuldet. Zudem ist es schauspielerisch der Gipfelpunkt der Peinlichkeit. Über die potentiell antijudaistischen Implikationen will ich erst gar nicht reden. Maria Magdalena wird gesteinigt. Selbst wenn man die biblische Geschichte der durch Jesus verhinderten Steinigung der Ehebrecherin mit hinzu zieht, ergibt das Ganze keinen Sinnzusammenhang.

Die legendarische Maria Magdalena zieht sich nach ihrer missionarischen Tätigkeit in Marseille für 30 Jahre als Einsiedlerin in eine Höhle zurück, wird dort von Engeln genährt und stirbt schließlich. Vielleicht sollte sich Lady Gaga mehr an ihr legendarisches Vorbild halten, statt wild herumzuphantasieren.

Epilog

Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sind Berufs-Apologeten des populärkulturellen Umgangs mit religiösem Material in der Gegenwart. Sie meinen, die Aneignung der religiöse Bildwelten durch die Populärkultur helfe der religiösen Kommunikation über biblische Texte. Lady Gaga ist ein gutes Beispiel dafür, dass man das nicht überbewerten sollte. Wer solcher Hilfestellung bedarf, hat die Bibel längst schon aufgegeben.

Dirk Käsler, Professor für allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg, schrieb schon vor über 15 Jahren in seiner Kolumne für die Zeitschrift MAX über die Folgen eines derartigen kulturellen Umgangs mit Religion. Er berichtete von einer Aufführung eines mittelalterlichen Musikstückes an der ‘School of Music’ der Indiana University. Dort inszenierte eine Laiengruppe parallel zur musikalischen Aufführung zum besseren Verständnis derselben ‘eine künstlerische Gestaltung eines historischen Rituals’.

‘Der Vorhang öffnete sich. Rechts hatte sich ein Kreis von elf jungen Menschen gebildet, alle gehüllt in weiße, kuttenähnliche Gewänder, um die jeweilige Leibesmitte wand sich eine Kordel. Links standen fünf Männer in bestickten Gewändern und bunten Schärpen, als Priester und Meßdiener verkleidet. In der Mitte der Bühne war eine Art Altar errichtet worden, dekoriert mit flackernden Kerzen, dicken Büchern und einem goldglänzenden Kreuz. Noch bevor ich so recht fassen konnte, was das alles zu bedeuten habe, ging es los. Rechts wurde gesungen, und links starte die angetretene Laienschar ein Theaterstück. Gegeben wurde: die katholische Messe. Die Schauspieler hatten keine wirkliche Ahnung: Der ‘Priester’ grinste ständig, ein zweiter spazierte wie ein Pfau mit dem baumelnden Weihrauchkessel umher, ein dritter bekreuzigte sich ständig. Das Kreuz war aus Plastik, die ‘Meßdiener’ trugen Kardinalskostüme, unter allen Kutten lugten eigenwillige Lederschlappen hervor. Unverdrossen ging es vorwärts, vom Introitus zum Kyrie, Gloria, Halleluja bis zum Credo, Pater Noster und zur Kommunion ... Als die Zuschauer am Ende dieses grotesken Kasperltheaters in einer der renommiertesten Musikuniversitäten der Welt klatschten, war mir klar, daß ich Zeuge eines echten Menetekels geworden war’.

Käsler schloss seine Schilderung damals mit den Worten ab:

‘Wer unbekanntes und unpraktiziertes Christentum zur Theaterkulisse für harmonische Abendunterhaltung verkommen läßt, dem droht religiöser Analphabetismus, er wird Opfer der völligen Entsakralisierung des Lebens. Genau wie diejenigen, die Karneval und Fasching als Dauerparty mißverstehen und nicht um den inneren Zusammenhang von Aschermittwoch und Fastenzeit wissen. Den Preis dafür zahlen wir, nicht die Religion’. [2]

Und das ist wahr. Es geht überhaupt nicht darum, dass Religion in den visuellen Kommunikationen der Populärkultur nicht vorkommen darf, sondern darum, dass, wenn sie vorkommt, sie auch den Standards der Populärkultur entsprechen muss, d.h. einem künstlerischen Ethos und einer künstlerischen Logik unterliegen muss. Mit Madonnas „Like a prayer“, R.E.M.s „Losing my religion“, Metallicas „Until it sleeps“, aber auch Mylene Farmers „Je te rends ton amour“ sind die Standards inzwischen sehr hoch angesetzt. Wer damit konkurrieren will, muss sich schon anstrengen. Das hat Lady Gaga definitiv nicht getan.

Und deshalb sollten Theologen, solche zumal, die sich mit der Popkultur beschäftigen, Lady Gags Judas auch kritisch behandeln. Denn es kann ja nicht angehen, dass wir als Theologen, wie Adorno vermutete, schon aufatmen, wenn unsere Sache überhaupt nur verhandelt wird.[3]

Anmerkungen

[1]    Egenter, Richard (1962): Kitsch und Christenleben: Arena-Taschenbuch.

[2]    Käsler, Dirk (1995): Menetekel. In: MAX, S. 185.

[3]    Adorno, Theodor W. (2005): Ästhetische Theorie. Frankfurt M.: Suhrkamp. S. 230.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/am356.htm
© Andreas Mertin, 2011