50 Jahre danach: Kunst und Kirche


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Expressionismus als religiöser Stil?

Paul Tillich und die Bildende Kunst

Andreas Mertin

Man könnte es eine Form von heiliger Einseitigkeit nennen, jene Art und Weise, in der der Theologe und Philosoph Paul Tillich Mitte der 50er-Jahre den Expressionismus zur exemplarischen evangelischen Kunst ausruft. In dieser Zeit hat Paul Tillich in mehreren Vorträgen und Texten das Thema „Bildende Kunst und Religion“ wieder aufgegriffen, nachdem er schon in den 20er-Jahren sich programmatisch zu Kirche und Kultur geäußert hatte.[1]

Der zentrale uns interessierende Text, 1955/56 in der Zeitschrift Quatember erschienen[2], verweist zunächst darauf, dass es einen engeren und einen weiteren Begriff von Religion gibt: Religion im Sinne der unmittelbaren Betroffenheit und Religion im Sinne konkreter Symbolik. Über beide gilt es zu reden, wenn über Religion und Kunst gesprochen wird. Denn es gibt sowohl religiöse Kunst im Sinne der konkreten Symbolik wie religiöse Kunst im Sinne des Ausdrucks einer letzten Betroffenheit. Davon ausgehend entwickelt Tillich „vier Stufen der Beziehung zwischen Kunst und Religion“, die jeweils unterschiedliche Kombinationen von religiösen / nicht-religiösem Stil und religiösen / nicht-religiösem Inhalt darstellen.

  1. Ohne religiösen Inhalt und ohne ‚religiösen’ Stil.
    Hierunter fasst Tillich „Landschaften, menschliche Szenen, Porträts, Ereignisse, alle Arten von Dingen innerhalb der säkularen menschlichen Existenz.“[3]
  2. Ohne religiösen Inhalt aber mit religiösem Stil.
    Unter letzterem versteht Tillich „dass da etwas aus den Tiefen an die Oberfläche durchbricht.“
  3. Religiöse Inhalte aber ohne religiösem Stil.
    Darunter versteht Tillich säkulare Kunst die religiöse Topoi aufgreift ohne selbst durch einen spezifischen religiösen Stil ausgezeichnet zu sein. Als Beispiel nennt er die Kunst der Hochrenaissance.
  4. Religiöse Inhalt mit religiösem Stil.
    Hier stellt sich Tillich die Frage, ob es das heute überhaupt noch gibt.

Alle vier unterschiedlichen Stufen im Verhältnis von Kunst und Religion sucht Tillich im folgenden mit Beispielen zu belegen.

Für die erste Stufe wählt er ein Bild von Jan Steen (1626-1679), das sich aber heute nicht mehr ganz so einfach verifizieren lässt. Er nennt es „Die Welt auf der Düne“ und will es in der National Gallery gesehen haben. Von Jan Steen gibt es in der National Gallery aber keine Dünenbilder, wohl aber welche von Jan Wijnants (1632-1684), der auch eher ein Spezialist für Dünenbilder war. Aber es gibt ein Bild von Jan Steen mit dem Titel „Die verkehrte Welt“, das freilich im Kunsthistorischen Museum in Wien hängt. Jedenfalls wird es sich um ein Genrebild aus der Mitte des 17. Jahrhunderts handeln. Und was Tillich in der Sache meint, ist, dass diese Bilder das Leben als Leben, die Wirklichkeit als Wirklichkeit zeigen, ohne dazu einen expressiven Gestus zu verwenden.

Für die zweite Stufe, die ihn vor allen anderen interessiert, benennt Tillich Werke von Paul Cezanne, Vincent van Gogh, Edvard Munch, Pablo Picasso, Georges Braque und schließlich Marc Chagall. Das ist ein ziemlich breites Spektrum und man wird nicht sagen können, dass alle diese Künstler sich wirklich durch einen gemeinsamen Stil auszeichnen würden. Aber das behauptet Tillich auch nicht. Vielmehr sieht er bei ihnen so etwas Verbindendes wie einen existentiell-expressiven Ausdruck.

Für die dritte Stufe benennt Tillich Madonnenbilder von Raffael, Fouquet und Peter Paul Rubens. Sie alle „haben religiösen Inhalt, aber keinen religiösen Stil. In diesem Sinne sind sie gefährlich gottlos und etwas, gegen das jeder, der die Situation unserer Zeit versteht, kämpfen muss.“ Da wird ihm die Volksfrömmigkeit, wie inzwischen aber auch die Fachwissenschaft widersprechen. Für Fouquet ist die Argumentation, die Tillich anführt, zwischenzeitlich widerlegt. Tillich meint zum nebenstehenden Bild: „Die Frau ist eine Hofdame von nicht allzu gutem Ruf. Wir wissen, wer sie war, doch hier ist sie die Madonna. Das beweist (sic!), dass das religiöse Symbol in der Madonna und dem Kind hier nicht mit dem religiösen Stil verbunden ist, sondern auf die Mutter-Kind-Beziehung einer großen Frau am französischen Hof reduziert wird.“ Diese Argumentation wirkt heute peinlich moralisierend. Zudem konnte Claude Schaefer zeigen, dass es sich dabei höchstwahrscheinlich um eine Legende handelt.[4] Stattdessen folge die Darstellung der Madonna einem unpersönlichen Schönheitsideal der Zeit.

Für die vierte Stufe benennt Tillich El Grecos Kreuzigung, Mathias Grünewalds Kreuzigung im Isenheimer Altar und für die Moderne Graham Sutherlands Kreuzigung, Emil Noldes Arbeiten sowie George Rouaults „Christus von den Soldaten verspottet“. Alle sind wiederum durch einen expressiven Stil charakterisiert. 

Das alles klingt ein wenig klingt wie eine Inversion der Argumente, die andere zuvor über Kunst und Religion vertreten haben. Wo diese die Abwendung von Gott und die Hinwendung zum Menschen sahen und verdammten, erkennt Tillich nun die wahre menschliche Betroffenheit und Tiefe. Das hat ebenso seinen Charme (und eine lange Wirkungsgeschichte bis ins 21. Jahrhundert), wie es doch auch deutlich Grenzen hat. Schon die Stufenschematik ist ja mehr als problematisch. Man wird ja das Gefühl nicht los, eigentlich wäre es Tillich am liebsten, es gäbe mehr Kunstwerke auf der vierten Stufe, also der Kombination von religiösem Inhalt und religiösem Stil. Man hat den Eindruck, in theologischer bzw. religiöser Perspektive wäre das besser.

Aber warum eigentlich? Warum reichen nicht die Werke der ersten Stufe vollkommen (und ich meine hier wirklich: vollkommen) aus? Warum können nicht die Werke der anderen Stufen in die erste Stufe eingegliedert werden? Das religiöse Sujet ist bloß das außerästhetische Material, das der Künstler für sein Werk bearbeitet. Es könnte auch ein nichtreligiöses Sujet sein, ein Flaschentrockner oder ein Pissoir. Für die theologische Auseinandersetzung sollte das gleichgültig, d.h. gleich gültig sein. Spätestens bei der gegenstandsfreien bzw. abstrakten Kunst, die zur Zeit des Vortrags von Tillich ja auch schon bald ein halbes Jahrhundert alt ist, helfen die dargestellten Stufen nicht weiter. Nun wird man auch bei Werken wie denen von Barnett Newman oder Mark Rothko kaum vertreten können, diese wären in theologischer und religiöser Perspektive nicht außerordentlich bedeutsam und ertragreich. Ähnliches gilt für die Fixierung des „religiösen“ Stils. Es gibt keine Notwendigkeit, eine derartige Begrenzung vorzunehmen. Denn wenn die theologische Konstruktion sich so eng an einen Stil bzw. ein Stilelement (das expressive) bindet, verschließt sie zahlreiche andere Perspektiven.

Es gehört zu den besonderen Leistungen Tillichs, den expressiven Stil als religiös adaptionsfähig aufgewiesen zu haben. Das ist wichtig angesichts einer Zeit, die dies nicht zuletzt gewaltsam bestritten hatte. Ein grundsätzliches Modell der Begegnung von Kunst und Religion, das darüber hinaus tragfähig wäre, liefert Tillich meines Erachtens aber nicht. Er fügt einen Stil dem Ausdrucks- und Deutungsarsenal des Christentums hinzu, scheitert aber (notwendig) darin, diesen als den christlichen Stil zu erweisen. Letztlich bleibt Tillich einer historisch überholten Form der Ausdrucksästhetik verhaftet.

Man könnte mit Heinrich Lützeler sagen: „All das ist gut – an seinem  Ort und zu seiner Zeit. Wir streichen nichts davon durch und möchten nichts davon missen. Ja, es gehört zu unserem dauernden geistigen Besitz. Aber warum sollten wir unsere Künstler an die Vorstellungswelt der Vergangenheit binden, als wenn sie die einzig wahre sei, wo wir doch in einer völlig anderen Vorstellungswelt leben? Warum sollen sie nicht ihre eigenen Wege gehen – berührt von einer Wirklichkeit, die viel weiter reicht als die Kraft unserer Augen, unseres Ohres unserer Stimme, die voller Mysterien die Grenzen unserer Sinne endlos übersteigt.“[5]

Die Generation nach Tillich wird diese Öffnung dann vornehmen und – durchaus auf ihm aufbauend – ihre eigenen Wege gehen.[6]

Anmerkungen

[1]    Tillich, Paul (1924): Kirche und Kultur. Vortrag gehalten vor dem Tübinger Jugendring im Juli 1924. Tübingen: Mohr.

[2]    Tillich, Paul (1955/56): Religion und Bildende Kunst. In: Quatember (20), S. 198–203.

[3]    Ebd., S.

[4]    Claude Schaefer (1994): Jean Fouquet. An der Schwelle zur Renaissance. Verlag der Kunst, Dresden

[5]    Lützeler, Heinrich (1967): Abstrakte Malerei. Bedeutung und Grenze (Erstveröffentlichung 1961). Gütersloh: Bertelsmann, S. 63.

[6]    Schwebel, Horst (1968): Autonome Kunst im Raum der Kirche. Hamburg: Furche-Verl.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/am344.htm
© Andreas Mertin, 2011