Holywood

Wenn die Kirche das Wohlgefühl in die Hand nimmt

Andreas Mertin

Über die Verbindung von Religion und Gefühl kann man lange nachsinnen. Intuitiv geht man heute davon aus, dass es eine unmittelbare Verbindung zwischen beidem geben müsse. Sicher ist das ganz und gar nicht. Zum einen ist über Jahrhunderte Gott als das absolute Intelligible vorgestellt worden, demgegenüber alles Sinnliche und damit auch das Fühlen und das sinnliche Wahrnehmen bloß menschlich sei.[1] Erst mit der Subjektivierung der Religion im Gefolge der Aufklärung wurde es überhaupt denkbar, das Fühlen mit Religion assoziativ zu verknüpfen.

Zum anderen ist das substantivierte Fühlen – als „das Gefühl“ – im Hochdeutschen relativ jungen Datums. Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm notiert: „das hd. wort ist eine ziemlich junge bildung, in den wbb. noch im 17. jahrh. anfangs fehlend“.[2] Erst mit dem Idealismus und mit der Romantik wird die assoziative Verknüpfung von Gefühl und Religion gesellschaftlich attraktiv und durchgesetzt, also parallel zur Transformation der Religion ins Subjektive.

Jonathan Braun kann immerhin noch 1855 in seinem Skript „Ueber Onanie, Beischlaf, männliches und weibliches Unvermögen, regelwidrige Monatsreinigung und weißen Fluß“ schreiben: „Zu den äußeren Sinnen nun gehören das Gefühl, der Geschmack, der Geruch, das Gehör und das Gesicht … Durch das Gefühl erhalten wir nur dunkle Vorstellungen … Der Nutzen und Zweck des Gefühls ist sehr wichtig. Die Seele erhält durch dasselbe eine Vorstellung vom Zustande ihres Körpers und der Außendinge und wird so zu den Wirkungen bestimmt, welche die besondere Beschaffenheit seiner Theile erfordert“.[3] Kein Wunder, dass in einem derartigen Kontext niemand eine positive Beziehung von Religion und Gefühl herstellen wollte. 

Das wurde im 20. Jahrhundert anders, als der Zusammenhang von „Gefühl“ und Fühlen verloren ging und das Gefühl sich als etwas Abstraktes etablierte. Gefühl war etwas, was man nicht aufgrund sinnlicher Eindrücke spürte, sondern eine „Regung des Herzens“, die man nur noch bekunden, aber die andere nicht überprüfen konnten. Die sich nach und nach durchsetzende Rede von der „Verletzung des religiösen Gefühls“ macht diesen Vorgang deutlich. Wenn man sieht, im Blick auf welche Vorgänge Menschen eine „Verletzung des religiösen Gefühls“ reklamieren, fragt man sich, ob es sich nicht um eine Art Leerstelle für Diffuses handelt, die je nach Bedarf ausgefüllt wird. Wenn ein Gericht in neue Räume umzieht und dann aufgrund eines höchstrichterlichen Urteils darauf verzichtet, im Neubau die alten Kruzifixe aufzuhängen, inwiefern kann das das religiöse Gefühl eines Menschen verletzen, der diesen Gerichtsraum wahrscheinlich nie in seinem Leben betritt? Und selbst wenn, wird denn jemand in seinen Gefühlen verletzt, wenn ein Prozess vor einer leeren Wand geführt wird? Und was ist mit denen, denen ihre Religion voll figurale Verdinglichungen Gottes untersagen? Werden die nicht in der Gegenwart durch Kruzifixe in ihren Gefühlen verletzt? Muss sich ein Muslim in einem Gerichtssaal der religiösen Befindlichkeit der Mehrheitsgesellschaft unterwerfen? Gerade weil das Gefühl eben nicht rational ableitbar, sondern allenfalls bekundet werden kann, ist es im öffentlichen Diskurs so schwer zu behandeln.

Und so hat die Verbindung „Religion und Gefühl“ bis heute mit den Erblasten der Bedeutungsfülle und Unschärfe von „Gefühl“ zu tun. Denn „Gefühl“ verbindet sich ja eben nicht nur mit Empfindung oder gar mit reflektierter Empfindung, wie dies in der Gefolge der Romantik denkbar wäre, sondern eben auch mit Irrationalität, mit Gegnerschaft zur Vernunft, mit erträglichen bis schwer erträglichen Herzensergießungen und vielem anderen mehr. Unter Verweis auf das unantastbare religiöse Gefühl soll man auch noch jeden Schwachsinn an Dingmagie ertragen, soll man sich jeder aufklärerischen Haltung und Handlung entäußern und im Interesse der geistlich Schwachen zurücktreten. Mir persönlich geht es bis heute jedenfalls so, dass, wenn jemand „Religion und Gefühl“ sagt, ich zunächst an Herz-Jesu-Bilder, an schier unerträglichen Kitsch und an die Verehrung irgendwelcher obskurer Wundererscheinungen denke. Und natürlich daran, dass für mich Religion etwas ganz anderes ist, etwas, das nicht im Widerspruch zur Vernunft steht, etwas, das zur Deutung des Lebens und der Gegenwart befähigt, ohne ein Residuum des nicht diskursiv Behandelbaren darzustellen.

Andererseits muss ich zugeben, dass in der Kirche der Gegenwart, und hier spreche ich zunächst von meiner eigenen, der evangelischen Kirche, das Gefühl im Sinne des „Wohlgefühls“ eine Bedeutung bekommen hat, die ich für besorgniserregend halte. Nicht biblische Verkündigung, nicht religiöse Geistesgegenwart, nicht die Botschaft des Evangeliums steht im Vordergrund, sondern eine Form der Wellness-Religion, die sich ausschließlich an der Behaglichkeit orientiert:

O wie wohl ist mir am Abend, Mir am Abend 
Wenn zur Ruh die Glocken läuten, Glocken läuten
Bim, bam, bim, bam, bim, bam!

Das ist die Fortführung der Wertschätzung der Kirchengebäude als Orte der Ruhe und Besinnung, nur diesmal unmittelbar gesteuert von Kirchenvertretern, die das für eine zeitgemäße Art der Verkündigung des Evangeliums halten. Bloß nicht Anstoß erregen, lieber die Leute dort abholen, wo sie sind, ihnen ein gutes Gefühl geben. Mit anderen Worten: genau das Gegenteil von dem zu tun, was Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia, Jesus oder Paulus getan und gesagt hätten. Gibt es etwas unevangelischeres als das kirchlich gesteuerte Wohlgefühl?

Das Malerische und das Musikalische sind
Argumente, die mit allen Einwänden fertig werden.
Und es gibt Wirkungen auf die Nerven, denen sich
der oppositionelle Geist nicht entziehen kann. Wenn
alle Glocken läuten, umarme ich einen Gemeinderat.
                                                
Karl Kraus[4]

Das Wohlgefühl

Schlägt man im Grimm’schen Wörterbuch unter der dem Stichwort Wohlgefühl nach, so liest man Folgendes:  

WOHLGEFÜHL,  n., gefühl des wohlseins, wohlbehagen, erst seit dem 18. jh. häufig verwendet: so muszte zu dem sinnlichen wohlgefühl der körperlichen gesundheit auch die feinere empfindung einer geistigen realverbesserung treten SCHILLER 1, 164 G.; mich ergrif das wohlgefühl der harmonie HERDER 18, 468 S.; die jungen gesellen ... schwangen sich in wohlgefühl und überkraft dahin wie zum tanze G. FREYTAG ges. w. (1886) 11, 62; sie dehnte und reckte sich im überrieselnden wohlgefühl CL. VIEBIG d. schlafende heer (1904) 1, 62. selten im pl.: die ... zeit der ersten wohlgefühle des sieges und der freiheit GERVINUS gesch. d. 19. jh. (1855) 4, 665.[5]

Schiller, so kann man daraus entnehmen, ordnete das Wohlgefühl noch der körperlichen Gesundheit zu, dem dann „die feine Empfindung einer geistigen Realverbesserung“ hinzutreten(!) muss.

Meyers Großes Konversationslexikon von 1905 kennt das Wohlgefühl als Stichwort nicht. Aber immerhin ganze drei Mal kommt auf den 222.000 Seiten des Lexikons das Wort Wohlgefühl vor. Aber jedes Mal ist es ein ästhetisches Stichwort. Einmal steht es unter dem Stichwort des Hässlichen: Auf Hässliches „reagieren wir mit einem charakteristischen Mißgefühl, das zu dem Wohlgefühl des Schönen im entschiedensten Gegensatz steht.“[6] Dann werden die Neigungen der Dichter im Stichwort Lyrik beschrieben: „Bildet das Wohlgefühl des Schönen das eigentliche Ziel, nach dem der Dichter verlangt, so wird er zum Liede hinneigen“.[7] Und schließlich wird das Wohlgefühl sogar etwas abfällig im Artikel über Musik am Gegenbeispiel Beethoven erwähnt: „’Musik soll dem Menschen Feuer aus dem Geiste schlagen’ war der Wahlspruch Beethovens, der sich deshalb nirgends mit harmlosem Tändeln oder naivem Schwelgen im Wohlgefühl des Daseins genügen läßt, sondern überall über die Grenze der Alltäglichkeit hinausgeht“.[8] Gemeinsamkeit aller drei Bezüge ist das Schöne, das im Menschen das Wohlgefühl auslöst. Das Hässliche dagegen initiiert ein Missgefühl. Wohlgefühl, so macht das Konversationslexikon aber auch klar, verbleibt in den Grenzen des Alltäglichen.

Ästhetik des Hässlichen

Man kann im Gegenzug die Ästhetik der Hässlichkeit als den großen Beitrag des Christentums zur Geschichte der Kunst bezeichnen. Die Wahrnehmung des Christusbildes verändert die Wahrnehmung aller Bilder. Dass ein ans Kreuz geschlagener Körper zum Gegenstand der Verehrung werden konnte, ist ein bis in die aktuelle Gegenwart verstörender Tatbestand.[9]

In seinem 1888 abgeschlossenen Werk „Der Antichrist“[10] zitiert Friedrich Nietzsche im Abschnitt 45 zunächst den Apostel Paulus aus dem Korintherbrief: „Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er zuschanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählet, und das da nichts ist, dass er zunichte mache, was etwas ist. Auf dass sich vor ihm kein Fleisch rühme“ (Paulus 1. Kor. 1, 20 ff.).“ Nietzsche nennt dies im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Christentum „ein Zeugnis allerersten Ranges für die Psychologie jeder Tschandala-Moral“, also der von ihm verachteten Moral der Unterdrückten und Entrechteten, die im Christentum zum Ausdruck komme. Und im Abschnitt 51 fährt Nietzsche fort: „Das Christentum hat die Ranküne der Kranken auf dem Grunde, den Instinkt gegen die Gesunden, gegen die Gesundheit gerichtet. Alles Wohlgeratene, Stolze, Übermütige, die Schönheit vor allem tut ihm in Ohren und Augen weh. Nochmals erinnre ich an das unschätzbare Wort des Paulus; »Was schwach ist vor der Welt, was töricht ist vor der Welt, das Unedle und Verachtete vor der Welt hat Gott erwählet«: das war die Formel, in hoc signo siegte die décadence. – Gott am Kreuze – versteht man immer noch die furchtbare Hintergedanklichkeit dieses Symbols nicht? – Alles was leidet, alles was am Kreuze hängt, ist göttlich... Wir alle hängen am Kreuze, folglich sind wir göttlich... Wir allein sind göttlich... Das Christentum war ein Sieg, eine vornehmere Gesinnung ging an ihm zugrunde – das Christentum war bisher das größte Unglück der Menschheit.“[11]

Jakob Taubes hat darauf verwiesen, dass es Nietzsche war, der wie kein anderer vor ihm den revolutionären Beitrag des Christentums zur Ästhetik benannt hat: „Denn tiefer als alle Apologie des Christentums, die darauf aus ist, die Unterscheidung des Christlichen vom Antiken zu verwischen, verstand Nietzsche den ‚sermo humilis’ des Paulus als eine Umwertung der religiösen, ethischen und ästhetischen Werte der Antike, die im Urchristentum sich anbahnt und langsam, aber unaufhaltsam bis in die Poren unserer sinnlichen Anschauung dringt.“[12]

Wenn man das präzise bedenkt, dann kann man die Differenz ermessen, die sich durch die ostentative Hervorhebung des zu erzielenden Wohlgefühls in der Kirche zu den Ursprungsimpulsen des Christentums auftut. Es ist als ob die Kirche ihre Lehre aus Nietzsches Protest gezogen hätte und nun lieber keine „Tschandala-Moral“ der Schwachen und Depravierten mehr vertritt, sondern sich am Schönen und am Wohlgefühl orientiert. Nicht mehr das Verachtete, sondern das Wohlfühlige wird zum programmatischen Ziel.

Willkommen in der Wohlfühlkirche!

Ein Meister dieser Umwertung aller christlichen Werte zeichnet seit einiger Zeit in Hessen für die kirchliche Repräsentanz auf dem jährlichen Hessentag verantwortlich. Er schafft es, noch jede biblische Botschaft zu einem unverbindlichen religiösen Feng Shui umzumodeln. Emotional Design statt Evangelium. Lebenskunst statt Marana tha. Oder mit den Worten Ernst Blochs: „Wer sich zum Kauf anbietet, hat zu gefallen.“[13] Expressis verbis meint das:

„Den Kirchen geht es darum, den Glauben als Lebenskunst zu vermitteln. Die gestaltete Kirche wird so zu einem spirituellen Erlebnisraum“, erläutert der Beauftragte der EKHN für den Hessentag, Pfarrer Wolfgang Weinrich. In diesem Zusammenhang war bereits mit der „Rosenkirche“ (Butzbach 2007) der Begriff „Themenkirche“ entstanden. Diese bildete die Grundlage für die weitere thematische Ausgestaltung des evangelischen Programms: so bei der „Lichterkirche“ (Langenselbold 2009), der „Wasserkirche“ (Stadtallendorf 2010) und schließlich bei der „Traumkirche“ in Oberursel.[14]

Kirche für die Erlebnisgesellschaft, Religion als vorgeführte Lebenskunst. Wo bei Franz von Assisi der Zusammenhang von Rosen und Dornen noch präzise im Bewusstsein ist, bleibt im Jahr 2007 nur mehr die duftende Verklärung. Wo sich mittelalterliche Bilder darüber lustig machen, dass es neben Christus noch andere Lichter geben soll, inszenieren wir 2009 wunderschöne Lichterkirchen. Und natürlich darf bei all dem die Traumkirche nicht fehlen. Es stimmt schon: „Die Wirklichkeit der Religion ist das Entsetzen des Menschen vor sich selbst.“[15]

All das ist Kitsch pur. Nun gibt es eine unbestreitbare Neigung religiöser Menschen zum Kitsch.[16] Aber müssen Kirchen das ausnutzen, statt aufklärerisch entgegen zu wirken? Luthers Argument angesichts der Massenwallfahrten seiner Zeit, z.B. zur Schönen Madonna von Regensburg, war ja auch nicht, das machen wir ebenfalls, sondern es war der konsequente Hinweis auf die religiöse Untauglichkeit derartiger Bemühungen.

Kurz-Exkurs Soylent Green

Im Science-Fiction-Film „Solent Green“ aus dem Jahr 1973 gibt es eine Szene, die für mich dauerhaft die Problematik aller Wohlfühl-Inszenierungen zeigt. Nachdem Sol Roth, einer der Protagonisten, vom wahren Zustand der Welt erfahren hat, will er nicht mehr weiterleben und lässt sich in eine Euthanasieklinik einweisen. Dort nimmt er einen tödlichen Trank und unter den von ihm ausgewählten Klängen der Pastorale von Beethoven und Edvard Griegs Peer Gynt Suite sieht er in einer Panoramaschau noch einmal die herrlichen Bilder von der Welt: die Blumen, das Wasser, die Tiere, den Sonnenuntergang. Es ist ein Traum. Und dann verstirbt er. So wünscht man sich den Tod. Und doch ist diese Szene im Film der Höhepunkt der Unwahrhaftigkeit, denn anschließend werden die so Verstorbenen zu Nahrungsmitteln für die Überlebenden verarbeitet. Die schöne Inszenierung verdeckt nur die Realität, ja sie soll die Realität verdecken. Das ist der Sinn des schönen Scheins. Ich habe Soylent Green vermutlich als 16-Jähriger gesehen, werde aber diese Szene nie mehr vergessen. Schönheit ist nicht Wahrheit. Wohlgefühl muss mit den Realitäten nichts zu tun haben, sondern kann das Gegenteil sein. Wer es sich anschauen möchte:

http://www.youtube.com/watch?v=edQNjJZFdLU

Und die Traumkirche zum Wohlfühlen?

Die Frage ist doch, was unterscheidet all die Wohlfühlkirchen der Hessentage von dieser lügenhaften Inszenierung? Ich habe nichts gegen Bestrebungen, uns elementaren Erfahrungen der Natur auszusetzen, aber man sollte das nicht mit der biblischen Botschaft verwechseln. 

„Darum kommen die Besuchenden in der Traumkirche auch mit vielem in Berührung, was auf den ersten Blick zwar gewöhnlich, aber dennoch natürlich, elementar und Grundlage jedes Lebens ist: Erde, Wasser, Feuer und Luft: Wie fühlt es sich an, wenn man in einem regennassen Wald den würzigen Duft von feuchtem Laub in die Lungen zieht? Wie ist das, wenn man an einem kalten Abend die Funken eines Feuers tanzen sieht und die heiße Glut Wärme und Geborgenheit spendet? Schafft es die Traumkirche, dass Sie gehen wie auf Wolken? Sich fühlen, wie auf einer grünen, duftenden Sommerwiese – das Zirpen der Grillen im Ohr? Sich mit Hilfe von Augen, Nase, Ohren und Fingern den eigenen Träumen nähern. Oder einfach nur in den blauen Himmel schauen – entspannen, träumen, schweben, loslassen. Eine Traumreise, die vielleicht etwas darüber verrät, was wirklich wichtig ist im Leben.“[17]

Ja, genau das ist es, wofür Jesus Christus vor 2000 Jahren am Kreuz gestorben ist, damit wir 2011 eine Traumreise machen und entdecken, wie schön sich das anfühlt: „einfach nur in den blauen Himmel schauen – entspannen, träumen, schweben, loslassen“. Ja, so wird es wohl auf Golgatha gewesen sein: „wie auf einer grünen, duftenden Sommerwiese – das Zirpen der Grillen im Ohr“. Wenn ich sehen will, „was wirklich wichtig ist im Leben“, dann schließe ich nicht die Augen und begebe mich auf eine Traumreise, sondern dann schaue ich nach Tunesien, nach Ägypten, nach Libyen oder in den Iran und erkenne dann, dass es die Freiheit ist, nach der die Kreatur schreit und dass genau diese Freiheit mit den Wohlfühlkirchen verraten wird. Aber wenn unsere Kirchenführer lieber Traumkirchen bauen wollen, dann bitte schön, Vorhang auf für Holywood made in Oberursel: http://www.youtube.com/watch?v=Oipa5Dj1qnM


Postskriptum oder wie man wirklich Träume baut

In der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine wird berichtet, wie es den Apostel Thomas, den wir als den ungläubigen Thomas bezeichnen, nach Christi Tod nach Indien verschlägt. Thomas ist von Beruf Architekt und zwar im römischen Stil, sozusagen ein Spezialist für augusteischen Klassizismus. Er wird vom König von Indien gebeten, ihm einen herrlichen Palast zu bauen und dieser gibt ihm dafür auch gleich „einen großen Schatz Goldes“. In seiner Abwesenheit verwendet Thomas das Geld aber stattdessen für die Armen im Lande. Nach der Rückkehr des Königs wird er zur Verantwortung gezogen, weil er keinen herrlichen Palast gebaut hat und er wird zur Strafe in den Kerker geworfen. Dem entgeht er nur durch eine Erscheinung des toten Bruders des Königs, der erzählt, im Paradies stünde ein Palast „der war wunderbarlich gewirkt von Gold und von Silber und von edelem Gestein; und da ich mich der Gezierde verwunderte, sprachen sie zu mir ‚Dies ist der Palast, den Thomas deinem Bruder hat gemacht’.“[18]

Wer Bilder lesen kann, kann es sich hier anschauen:

Ja, solche Paläste und Traumhäuser brauchen wir. Und kein Holywood.

Anmerkungen

[1]    Vgl. dazu Schröder, Gerhart (1985): Logos und List. Zur Entwicklung d. Ästhetik in d. frühen Neuzeit. Königstein/Ts: Athenäum.

[2]    Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm; Bartz, Hans-Werner; Weinmann, Martin (2004): Deutsches Wörterbuch. Der Digitale Grimm. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung für PC. Elektronische Ausg. der Erstbearb., Originalausg.,. Frankfurt am Main: ZWEITAUSENDEINS., Art. Gefühl.

[3]    Braun, Jonathan (1855): „Ueber Onanie, Beischlaf, männliches und weibliches Unvermögen, regelwidrige Monatsreinigung und weißen Fluß; mit Angabe der zweckmäßigsten Mittel und Vorschriften, wie man die durch Onanie verlorne Gesundheit wieder erhalten und stärken, den Beischlaf ohne Nachtheil für dieselbe vollziehen, männliches Unvermögen und weibliche Unfruchtbarkeit beseitigen, die venerische Krankheit gründlich heilen, gegen Ansteckung durch dieselbe sich verwahren, die Regelwidrigkeiten der monatlichen Reinigung und den weißen Fluß entfernen kann nebst einer gedrängten Einleitung über die Natur und Verrichtungen des gesunden menschlichen Körpers“ Leipzig: Baumgärtner’s Buchhandlung;
online unter books.google.de/books?id=k2E_AAAAcAAJ&pg=PR3&dq=Jonathan+Braun+1855

[4]    K. Kraus, Sprüche und Widersprüche in: ders. Beim Wort genommen. Dritter Band der Werke von K. Kraus. München 2/1965. S. 65.

[5]    Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm; Bartz, Hans-Werner; Weinmann, Martin (2004): Deutsches Wörterbuch, a.a.O., Art. Wohlgefühl.

[6]    Art. Häßlich (2003): Meyers Großes Konversationslexikon [1905]. 1 DVD-ROM ;. Berlin: Directmedia Publ., S. 80845.

[7]    Art. Lyrik, Ebd., S. 121433

[8]    Art. Musik, Ebd., S. 135036

[9]    Taubes, Jacob (1968): Die Rechtfertigung des Hässlichen in urchristlicher Tradition. In: Jauß, Hans Robert (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene d. Ästhetischen. München: Fink (Poetik u. Hermeneutik, 3), S. 169–186.

[10]   Nietzsche, Friedrich (2009): Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums: Insel Verlag.

[11]   Ebd.

[12]   Taubes, Jacob (1968), S. 169

[13]   Bloch, Ernst (1980): Das Prinzip Hoffnung. 7. Aufl. Frankfurt a. M: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 3). Erster Band, S. 396.

[14]   http://www.kirche-burgholzhausen.de/2011/01/15/allgemein/evangelische-kirche-traumt-auf-dem-hessentag-oberursel-2011/

[15]   Barth, Karl (1967): Der Römerbrief. 10. Abdruck der neuen Bearb., 24. - 25. Tsd. Zürich: EVZ-Verl. S. 252.

[16]   Egenter, Richard (1958): Kitsch und Christenleben. 2. Aufl.: Abtei Ettal. Rombach, Heinrich (1950): Das Schicksal der christlichen Kunst. Essay zum 140. Geburtstag des Kitsches. In: Die Neue Ordnung (4), S. 42–49.

[17]   http://traumkirche.de/kirche/

[18]   Voragine, Jacobus de (2007): Die Legenda aurea. Das Leben der Heiligen. Übersetzt von Richard Benz: Gütersloher Verlagshaus. S. 38-46.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/70/am347.htm
© Andreas Mertin, 2011