most art says nothing to most people

Vom Verfall der Kunstkritik

Andreas Mertin

Es gibt bestimmte Standards in der Kunstkritik, die man nicht unterschreiten sollte. Zumindest dann nicht, wenn man noch als seriös gelten möchte.

  • Dazu gehörte schon immer, dass, wenn man konkrete Kunstwerke (Gemälde, Skulpturen oder Installationen) kritisiert oder meinetwegen verreißt, diese auch gesehen haben sollte.
  • Dazu gehört seit weit über 100 Jahren, dass man gegenüber der zeitgenössischen Kunst keine akademischen Regeln aufstellt, wie Kunst auszusehen habe, um dann die kritisierten Werke daran zu messen. Kunstkritik nimmt zunächst wahr und fällt keine dogmatischen Urteile, bevor man nicht die Werke beschreibend erfahren hat.
  • Dazu gehört seit einem Vierteljahrhundert, unerträgliche patriarchalische Phrasen und Denunziationsfomeln wie „dies sei typisch weibliche Kunst“ als Offenbarungseid der eigenen Intelligenz zu begreifen.
  • Dazu gehört aber auch, dass man die Regeln der Kritik einhält: wenn man Kataloge bespricht, spricht man über die Lektüre-Erfahrung des Kataloges, wenn man Ausstellungen bespricht, spricht man über Inszenierung und Erfahrung der gesehenen Werke. Beides ist sauber voneinander zu trennen.

Aber selbstverständlich machen freche pointierte Bemerkungen in Kunstbesprechungen Spaß. Das mache ich auch gerne. Wenn man sich über eine Ausstellung geärgert hat, einmal richtig loszulegen und den Schmerz der gescheiterten Kunsterfahrung Wort werden zu lassen, das macht Sinn, wenn der Leser diesen Schmerz anhand der beschriebenen  Wahrnehmung nachvollziehen kann. Aber dann muss notwendig auch eine gescheiterte Kunsterfahrung vorangegangen sein. Wenn einen ein Katalog geärgert hat, kann man den entsprechenden Ärger natürlich formulieren. Aber man sollte, wenn man sich über einen Katalog geärgert hat, nicht so tun, als sei man nun zugleich kompetent, die nicht gesehenen Kunstwerke zu kritisieren. Das ist man nicht!

Das alles kann man gut am Beispiel von Michael Reuters Besprechung eines Kunstkataloges von Madeleine Dietz studieren. Er ist ein Paradefall der Anmaßung von Kompetenzen. In den Mitteilungen von Artheon, dem sich selbst so benennenden „Netzwerk von Theologen, Künstlerinnen und Künstlern, Galeristen und Ausstellungsmachern“ (warum stehen eigentlich bei dieser Selbstbeschreibung nur die Künstler in Gender-korrekter Sprache?), soll oder will er über den Kunstkatalog „verbergen und entbergen“ schreiben.

Rezensionen über Kunstkataloge sind sinnvoll, wenn man den Lesern einen Hinweis geben will, auf welche Kataloge er unbedingt achten sollte, weil er sonst etwas verpasst. Für Verrisse eignen sie sich eigentlich nicht, dann schweigt man lieber, es sei denn, die Abbildungsqualität sei mangelhaft oder die Texte fehlerhaft, so dass man es benennen muss. Darum geht es hier aber überhaupt nicht.

Und vielleicht, weil Reuter dies weiß, verreißt er lieber die im Katalog abgebildeten Kunstwerke, die er – wie er selbst zugibt – überhaupt nicht gesehen hat! Das aber ist ein skandalöser Vorgang. Vielleicht geschieht das nur, weil ihn ein einleitender Kommentar im Katalog genervt hat – dessen Sachadäquatheit er mangels Objektkenntnis aber gar nicht überprüfen kann –, jedenfalls erweitert er sein kritisches Urteil auf die in Abbildungen gezeigten Arbeiten. Dass ihm dabei auch noch Urteile unterlaufen wie: die „Auseinandersetzung mit Staub, Trauer, Erde, Vergänglichkeit, Leben und Tod“ sei „typisch weiblich“ und „frei von männlicher Aggressivität“ macht das ganze noch schlimmer; es ist nicht nur dumm, sondern wirklich ungeheuerlich.

Ich kann so einen Sch… nicht mehr hören. Das diskreditiert die Kritik und – sagen wir es klar und deutlich – auch das publizierende Organ. Es zeigt so, dass es seine Leser verachtet, weil es ihm Argumente gar nicht mehr zumutet, sondern durch Geschmacksurteile ersetzt. Aber der Leser hat Anspruch darauf, mit der Kritik auch nachvollziehbare Argumente geliefert zu bekommen und nicht nur hingerotzte Pseudo-Urteile.

Der einleitende Text, den Reuter zitiert und kritisiert, ist nicht der Text irgendeines Autors, der sich in wilde Assoziationen versteigt, sondern der Kommentar des Leiters des Kunstvereins Buchholz. Und das, was Reuter dessen Text vorwirft – dass er seine Erfahrung der Arbeiten Madeleine Dietz mit seiner Erfahrung romanischer Kirchen in Verbindung bringt – buchstabiert Sven Nommensen skrupulös durch. Er bleibt eben nicht im Thetischen, sondern fragt sich und den Leser explizit: kann man solche Vergleiche ziehen? Und er verweist zur Begründung auf verwandtes Rezeptionsverhalten. Er argumentiert also.

Nichts davon bei Michael Reuter. Er polemisiert voller Ressentiments, ohne zu argumentieren. Ich habe seine Polemik mit seinen Beurteilungen anderer Künstler verglichen und finde sie absolut willkürlich. Es sind bloße Geschmacksurteile. Ist bei dem einen Künstler Stilbildung hervorzuheben, ist der gleiche Vorgang beim nächsten schon wieder zu kritisieren. Diese Beliebigkeit ist das Ende der Kunstkritik, es sind Gesinnungsurteile.

Der Skandal, liebe Kollegen und Kolleginnen vom „Netzwerk von Theologen, Künstlerinnen und Künstlern, Galeristen und Ausstellungsmachern“, liegt nicht darin, dass ein Hobbyschreiber derartiges fabuliert, sondern darin, dass Ihr das publiziert. Zumindest Helmut A. Müller sollte es besser wissen. Er hat die Künstlerin Madeleine Dietz vor Jahren selbst ausgestellt und vermutlich nicht deshalb, weil er ihr Werk für „typisch weiblich“, sondern für gut und ausstellenswert gehalten hat. Das hoffe ich zumindest. Wenn man aber zulässt, dass Leute über Kunst schreiben, die die Kunstwerke gar nicht gesehen haben, dann sorgt man dafür, dass die Kunstkritik vor die Hunde geht. Aber vielleicht fühlt sich Artheon bei den Kynikern ja wohl. Zumindest das mit der Art, die man den Kynikern nachsagt, nämlich, „die Leute rücksichtslos anzufallen, um ihnen ihre Lehre zu predigen“, stimmt ja schon mal.


P.S.: Ich bin in der Sache eingestandenermaßen nicht neutral, denn ich war an dem kritisierten Katalog mit einem Beitrag beteiligt, der die inkriminierten Objekte konkret erschließt (Ascondere e disascondere. Nuove creazioni artistiche firmate Madeleine Dietz). Ich konnte das, weil mir die vorgestellten Objekte vertraut sind. Der Kritiker Michael Reuter aber meint, diese gar nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, vielleicht, weil er dann zugeben müsste, dass seine Vorwürfe substanzlos sind.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/70/am343.htm
© Andreas Mertin, 2011