„Pure Vernunft darf niemals siegen“

Plädoyer für den popkulturellen Gottesdienst

Martin Zerrath

1. Hinführung

Religion kann den Weg zum Popsong einschlagen und in ihm zu unterschiedlichen Gestaltungen finden – auf der Bandbreite zwischen dem vereinzelt gesetzten religiösen Motiv[1] bis hin zu ihrer alles bestimmenden Präsenz im Sacropop. Doch es gibt auch den umgekehrten Weg, auf dem sich der Popsong zur Religion begibt. Letzteres ist etwa im popkulturellen Gottesdienst der Fall. Dabei handelt es sich um einen Gottesdienst, in dessen Zentrum nicht die Auslegung eines biblischen Textes steht, sondern eines ‚säkularen‘ Popsongs.

Doch welchen Charme kann es besitzen, wenn Pop nicht aus den heimischen vier Wänden widerhallt oder dem Partykeller, sondern aus Kirchenwänden? Auf der Basis einiger Eindrücke, die ich mit dem popkulturellen Format in der Gemeindepraxis gewonnen habe[2], möchte ich einige Überlegungen hierzu anstellen – ausgehend von möglichen Bedenken und Ängsten gegenüber diesem Format (2.), über die produktiven Perspektiven, die sich mit ihm aus meiner Sicht verbinden (3.) bis hin zu einem konkreten Beispiel, nämlich einer Predigt zu Tocotronics „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (4.)

2. Die doppelte Angst

Das Vorhaben eines popkulturellen Gottesdienstes wird von (mindestens) zwei Ängsten begleitet – unabhängig davon, ob diese Ängste eher als inneres Forum (in Gestalt eines eigenen Regelwerkes) oder als äußeres Forum (in Gestalt besorgter Gemeindemitglieder) auftreten.

Auf der einen Seite steht die Angst, die durch das Zusammenspiel von Religion und Pop einen Ausverkauf des Christlichen befürchtet, ein Sich-Anbiedern (oder gar Sich-Verlieren) der Kirche an die Launen des Zeitgeistes. Es ist die Angst vor dem christlichen Substanzverlust in den kurzlebigen Formen des Pop.

Auf der anderen Seite formiert sich die Angst vor einer ‚Eingemeindung‘ säkularer Kultur. An dieser Stelle bedarf es zunächst einer Präzisierung: Wer sich als Popkünstler ohnehin als religiöses Subjekt in Szene setzt – und wie Xaiver Naidoo sein Lied über Gottes „Straßen von jeher“ singt – der wird die Rezeptionsform der Eingemeindung weder fürchten noch scheuen müssen; hat er sie doch (am Ort seiner medialen Selbstdarstellung) bereits selbst vollzogen. Die Gefahr der Verchristlichung ergibt sich erst bei solchen Popstücken, denen einerseits eine sachliche Nähe zu den Themen der Religion abzulesen ist, die sich andererseits jedoch nicht auf direktem Wege (etwa durch ein entsprechendes Statement oder ein religiöses Selbstverständnis des jeweiligen Künstlers) begründen lässt.[3] Diese zweite Angst richtet sich auf eine theologische Grobschlächtigkeit, die alles (oder doch vieles) als ‚irgendwie religiös‘ – oder schlimmer noch: als ‚irgendwie christlich‘ – identifiziert. Die theologische Fragestellung, die an diese Angst anschließt, lässt sich mit den von Paul Tillich geprägten religionsphilosophischen Kategorien wie folgt umschreiben: Kann sich die Religion auf die autonomen Formen der (Pop-)Kultur beziehen, ohne sie dabei der Heteronomie zu unterwerfen?[4]

In der Tat sind beide hier skizzierten Ängste ernst zu nehmen. Dennoch gibt es aus meiner Sicht gute Gründe, sich von diesen Ängsten nicht in Starre versetzen zu lassen. Und es gibt Gegenargumente.

So ist der Angst vor dem Substanzverlust entgegen zu halten, dass es zu einer Verständigung über das Christliche überhaupt erst dort kommt, wo kontrastierende und gegenläufige Motive bemüht werden; dass die innergemeindlichen Alarmglocken bei dem Stichwort ‚Pop‘ zu läuten beginnen, verweist m.E. dann auch eher auf ein Stil- denn auf ein theologisches Problem.[5]

Aber auch der Heteronomie-Angst ist zu entgegnen, dass Popsongs in Kirchen gehört werden können, ohne sie zu vereinnahmen. Hierzu bedarf es auf Seiten der Predigerin neben dem Gespür für die Affinität von Pop und Religion auch ein Gespür für die Grenze. Dieses Grenzgespür bedeutet jedoch nicht, dass man in Schweigen verfällt, sondern, dass das Einheitsmoment von Religion und (Pop-)Kultur im Bewusstsein ihrer Differenz auszuloten ist.

In den bisherigen Ausführungen wurde allem voran der Ton der Apologie angeschlagen. Nunmehr gilt es zu zeigen, welche gewinnbringenden Perspektiven sich im Horizont des popkulturellen Gottesdienstes eröffnen.

3. Perspektiven
3.1 Die Milieuperspektive

„Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen, das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“[6] Blickt man auf die gegenwärtige praktisch-theologische Milieuforschung, so kann die Aktualität von Schleiermachers berühmtem Diktum hier abgelesen werden – allerdings in seiner Umkehrung: Die Gebildeten, die als „Hochkulturelle“[7] identifiziert werden, stellen in aller Regel einen beachtlichen Anteil von Kirchengemeinden dar. Sie wissen das Christentum in seiner kirchlichen Gestalt zu schätzen, sei es aus der Perspektive der Liebhaberei für klassische Musik, sei es auf der Basis eines philosophisch oder ethisch begründeten Einverständnisses.

Mit dieser Bemerkung soll an dieser Stelle nicht die bleibende Aufgabe in Abrede gestellt werden, die Gehalte des Christentums auch vor den Bildungshorizonten der Gegenwart zu verantworten. Dennoch fällt aus milieutheoretischer Perspektive auf, dass an den Rändern des kirchlichen Protestantismus eher andere Gruppen angesiedelt sind. Unter ihnen interessiert an dieser Stelle das sogenannte Milieu der „Mobilen“, das auch als „Jugendkultur“ beschrieben wird:[8] Personen im Alter von 20 bis 40 Jahren, mit wechselnden Wohnorten und Tätigkeiten, mit Freizeitinteressen zwischen Sport und Computer, Kino und Musik. Ähnlich wie im Kontext der Hochgebildeten, fungiert Musik in diesem Milieu als Abgrenzungs- und Bestimmungsmerkmal: Man hört nicht Klassik oder Schlager wie ‚die anderen‘, sondern Pop. Letzterer prägt zugleich das eigene Stil- und Modebewusstsein und die eigene Sprache.

In manchen Stadtkirchgemeinden bilden die Mobilen einen hohen Teil des sozialen Umfeldes – bei gleich bleibender Distanz zur Kirche. Diese Distanz verdankt sich jedoch nicht zwingend einem religionskritischen Impuls, sondern dem jugendkulturellen Lebensrhythmus, der eher auf spontane Events aus ist denn auf die Regelmäßigkeit des Gemeindelebens.[9]

Nun könnte an dieser Stelle die These vertreten werden, dass die angedeutete Distanz der Mobilen zur Kirchengemeinde auch theologisch zu respektieren sei. Gegenüber kirchlichen Versuchen, diese Distanz zu überwinden, könnte dabei in Rechnung gestellt werden, dass es sich um eine gewollte Distanz handelt.  

Aus meiner Sicht ist dieses Argument sowohl grundsätzlich richtig als auch zu kurz gegriffen. Zum einen ist dem Anliegen zuzustimmen, Mobile nicht in dauerhafte Kirchgänger transformieren zu wollen – obwohl es falsch wäre, die Zugehörigkeit zu einem Milieu als gleichsam ‚absolutes‘ Merkmal einer Person zu begreifen. Zum anderen lassen sich durchaus Gemeindeformen denken, die dem Spontaneitätsinteresse dieser Gruppe entgegenkommen: So etwa der punktuell gesetzte Abendgottesdienst.

Gleichwohl: Die zum Zusammenwirken von Pop und Religion treibenden Motive blieben unterbestimmt und fragwürdig, würde man sie allein auf der Ebene der Milieuthematik verhandeln. Mit letzterer kann lediglich darauf hingewiesen werden, dass es auch im Umfeld von Kirchengemeinden Personen gibt, für die Pop ein Teil ihres kulturellen Selbstverständnisses ist. So ist an dieser Stelle nach Perspektiven zu fragen, die sich aus der ‚Sache‘ des Pop selbst ergeben.

3.2 Die Pathosperspektive

Pop ist Pathos. In dem überzeichneten Ausdruck, in dem gesteigerten Gefühl durchschreitet er die Höhen und Tiefen der menschlichen ExistenzöH: „I just wanna feel real love“, „I‘ m losing my religion“, und dennoch: „My heart will go on“.

Der Popsong ist Pathos, das um sich selbst weiß. Er nimmt sich die kurze Zeitspanne, die ihm gegeben ist – 3:17, 2:59, 4:13 – und begibt sich in Pose. In dem Tocotronic-Lied, von dem weiter unten noch die Rede sein wird, ist dies etwa die Nietzscheanisch gefärbte Pose des Weltfestes:

Pure Vernunft darf niemals siegen,

Wir brauchen dringend neue Lügen.
Die uns durchs Universum leiten

Und uns das Fest der Welt bereiten.

In ihrer zeitlichen Überschaubarkeit und ihrem offen inszenierten Charakter liegt es m.E. begründet, dass wir uns von den pathetischen Gefühlen des Pop ansprechen lassen. Kaum etwas ist wohl schlimmer als eine Predigt, die ihre Hörer nach ihren Gefühlen befragt - oder in der die Predigerin uns gar ihre eigenen Gefühle mitteilt. Anders verhält es sich jedoch mit Pop: Bei ihm sind wir unbefangener gestimmt, bereit für die Darbietung des ‚großen Gefühls‘.

Man kann an dieser Stelle auch an einen Sachverhalt denken, den Hans Blumenberg in einem ganz anderen musikalischen Kontext beschrieben hat – nämlich mit Blick auf Bachs Matthäuspassion: „Es ist kein Angebot zu Zweifeln am Text, dem die Musik die sakrale Qualität der Unbefragbarkeit verleiht.“[10] Wie mir scheint, ist diese Beobachtung über den Horizont der Klassik hinaus verallgemeinerungsfähig: Gegenüber dem im Pathos der Musik gekleideten Wort verhalten wir uns rezeptionsoffener und affektiv ansprechbarer als gegenüber dem (allein) gesprochenen Predigtwort. Darin liegt aber auch eine (gottesdienstliche) Möglichkeit des Pop.

3.3 Die Ironieperspektive

Pop bedeutet nicht nur Pathos, sondern auch Ironie. Nun ließe sich an dieser Stelle aus religiöser Perspektive einwenden, dass spätestens das Moment der Ironie ein Zusammenspiel von Religion und Pop verhindere; denn ist nicht Religion in ihrem Durchschreiten der Gründe und Abgründe des menschlichen Daseins, vor allem eins: Nüchterner (und folglich ironiefreier) Ernst?

Es spricht jedoch einiges dafür, dass der ‚Ernst‘ der Religion nicht ohne Ironie zu haben ist. Jedenfalls scheint es mir zu kurz gegriffen zu sein, Ironie als Banalisierung von Sachverhalten abzutun. Sie fungiert ebenso auch als Darstellungsform für das Fragmentarische unseres Weltverhältnisses;[11] als eine Möglichkeit, seiner Gebrochenheit und Zweideutigkeit Ausdruck zu verleihen. Bei Tocotronic ist Ironie in diesem zweiten Sinne ein beständiges Medium des Gedankens:

Pure Vernunft darf niemals siegen, wir brauchen dringend neue Lügen.

Mit der puren Vernunft lässt sich nicht gut leben. Aber eine Alternative zu ihr lässt sich auf direktem Wege nicht benennen, sondern nur mit ironischem Gestus als ‚Lüge‘ bezeichnen. Das ironische Stilmittel fungiert als Leerstelle mit (indirektem) Verweisungscharakter.

Kurzum: Wird Ironie nicht als eine destruktive Macht verstanden, sondern als Medium des Fragmentarischen und der Gebrochenheit, dann dürfte sie sich auch als horizonteröffnendes Stilmittel auch im Gottesdienst erweisen – der auf seine Weise um die Darstellung eines undarstellbaren Sachverhaltes bemüht ist.

Mit diesen (zugegebenermaßen: eher angedeuteten als ausformulierten) Perspektiven möchte ich nun zu einem popkulturellen Gottesdienst in seiner konkreten Form überleiten.

4. Pure Vernunft darf niemals siegen
4.1 Zur Gestaltung des Gottesdienstes

An der Stelle der musikalischen Eröffnung ist Tocotronics „Pure Vernunft darf niemals siegen“[12] zu hören. Daraufhin folgt die Begrüßung und „Von guten Mächten“ (Strophen 1+2+5+6), letzteres in der berühmt-berüchtigten Pop-Version von Siegfried Fietz – die jedoch im Kontext des vorliegenden Gottesdienstformates kaum als Tadel begreifbar sein dürfte.

Ist Religion vernünftig? Diese Frage, erstmals in der Begrüßung aufgeworfen, wird in der Überleitung zu Psalm 139 wiederholt. In ihm erhält das Vernunftthema eine erste Variation: Gott ist ein Projekt des menschlichen Geistes, an dem letzterer aber seine Grenzen vernimmt.  

Im Anschluss daran ist „Pure Vernunft darf niemals siegen“ erneut zu gehören, dieses Mal in der bekannteren und rockigeren Single-Version. 

Im Anschluss an die Predigt singt die Gemeinde „Wer nur den lieben Gott lässt walten“  (1+2+6+7). Auch in ihm wird (wie in Psalm 139) das Thema der Grenze verhandelt – hier nun aber verbunden mit dem soteriologischen Motiv der Überantwortung an Gott. Nach den Abkündigungen leitet das dreimal gesungene „Herr bleibe bei uns“ zu Fürbitten, Vater unser und Segen über.

4.2 Predigttext

Pure Vernunft darf niemals siegen,
Wir brauchen dringend neue Lügen.
Die uns durchs Universum leiten
Und uns das Fest der Welt bereiten.
Die das Delirium erzwingen
Und uns in schönsten Schlummer singen.
Die uns vor stumpfer Wahrheit warnen
und tiefer Qualen sich erbarmen.
Die uns in Bambuskörben wiegen
Pure Vernunft darf niemals siegen.

Pure Vernunft darf niemals siegen,
Wir brauchen dringend neue Lügen.
Die uns den Schatz des Wahnsinns zeigen
Und sich danach vor uns verbeugen.
Und die zu Königen uns krönen,
nur um uns heimlich zu verhöhnen.
Und die uns in die Ohren zischen
Und über unsere Augen wischen.
Die die die uns helfen wollen bekriegen,
Pure Vernunft darf niemals siegen.

Pure Vernunft darf niemals siegen,
Wir brauchen dringend neue Lügen.
Die unsere Schönheit uns erhalten,
uns aber tief im Inneren spalten.
Viel mehr noch, die uns fragmentieren
Und danach zärtlich uns berühren.
Und uns hinein ins Dunkel führen,
Die sich unserem Willen fügen.
Und uns wie weiche Zäune biegen,
Pure Vernunft darf niemals siegen.

Wir sind so leicht, dass wir fliegen,
Wir sind so leicht, dass wir fliegen,
Wir sind so leicht, dass wir fliegen.

4.3 Predigt[13]

1.

Liebe Gemeinde,

Ist Religion vernünftig?      

Einiges spricht dagegen. Schauen wir uns nur den Stifter des Christentums an. Jesus wurde nicht für besonders vernünftig gehalten. Im Gegenteil: Im Markus-Evangelium wird an einer beiläufigen Stelle davon erzählt, wie die Familie von Jesus auf sein Wirken reagiert hat: „Sie versuchten, ihn mit Gewalt zurückzuhalten. Denn sie sagten: Er ist von Sinnen.“

Die, die ihn (zumindest: am längsten) kannten, haben ihn für wahnsinnig gehalten. Aus ihrer Sicht hatte das, was Jesus sagte und tat, ohne Vernunft. Und auf eine merkwürdige Weise erinnert das an eine Bemerkung eines Theologen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der darauf hinwies, dass christliche Glaubensvorstellungen heutzutage für die meisten Nichtchristen eine Form von „harmlosen Wahnsinn“ seien. Christen also als die, die ganz in der Nachfolge Jesu stehen – dem Wahnsinn verfallen, aber (anders als Jesus) dabei harmlos?

Zufriedenstellend kann diese Auskunft kaum sein: Religion, der Glaube an Gott, als das Irrationale und Wahnsinnige; die pure Vernunft dagegen Hand in Hand mit dem Atheismus. Und in der Tat: gegen die Verwandten von Jesus ist doch klar festzuhalten, dass Religion keine Dienerin des Wahnsinns ist. Aber: Sie ist auch nicht pure Vernunft. Und dass sie das nicht ist, das sehen wir nicht erst an Jesus, sondern an dem, was wir selbst tun. Denken wir nur an den Anfang und das Ende eines Gottesdienstes:

- Es ist nicht pure Vernunft, wenn wir zu Gott beten. Gott, den wir einerseits den Schöpfer der Welt nennen, der alles umgreift und alles in sich fasst – und andererseits als unser Gegenüber. Gott, der für uns einerseits ein unfassbarer Gedanke ist – und den wir andererseits als „Vater“ oder „Mutter“ ansprechen. Das ist ein Widerspruch. Und erst in diesem Widerspruch des Gebetes wird Religion lebendig.

- Es ist also nicht pure Vernunft, wenn wir beten. Ein zweites Beispiel: Es ist auch nicht pure Vernunft, wenn wir auf Gottes Segen hoffen. Nach diesem Gottesdienst werden wir diesen Kirchenraum wieder verlassen. Und wir werden dann genauso ungeschützt sein, wie sonst auch – all den Risiken und Ungewissheiten des Lebens gegenüber. Der Segen ist kein Schutzwall, der daran irgendetwas ändert. Und trotzdem wäre für uns ein Gottesdienst, der uns ohne Segen wieder in die Welt entlässt, unvollständig. Etwas Wichtiges würde uns fehlen.

Zwei Beispiele nur, die zeigen: Religion ist nicht pure Vernunft.  Aber was ist sie dann?

Pure Vernunft darf niemals siegen. Wir brauchen dringend neue Lügen.

So im Lied von Tocotronic. Tauchen wir ein Stück weit in die Welt ein, die das Lied vor uns ausbreitet. Da geht es um einen Kampf. Und die beiden Kontrahenten, die die Klingen wetzen, sind die pure Vernunft und die Lügen. Im ganzen Lied erfahren wir wenig von dem, was das eigentlich genau ist: pure Vernunft. Umso mehr erfahren wir von ihren Gegenspielern, den Lügen – die wir so dringend brauchen (wie es heißt). Sie nehmen den Kampf auf. Zunächst treten sie dazu als Zauberer auf, als Gaukler. Sie beherrschen so manchen Trick, mit dem sie Illusionen erzeugen können. Im Lied heißt es dann so: Sie bereiten uns das Fest der Welt, sie erzwingen das Delirium, sie wiegen uns in schönstem Schlummer. Die Lügen beruhigen uns, sie erzeugen eine Sphäre, die leichter verdaulich ist als die Wirklichkeit: Eine Sphäre, die nicht widerspenstig ist, die uns nicht infrage stellt und nicht herausfordert. Die Lügen entlasten uns von einer Welt, die uns zu viel werden könnte. Sie machen uns zu Kindern. Und vor unseren Augen entsteht dann auch eine Welt kindlicher Geborgenheit – in der uns die Lügen in Bambuskörben wiegen.

Das ist eine Welt, die für einen erwachsenen Menschen wohl nicht ohne Verdrängung zu haben ist. Und so scheint es zunächst, dass diese Lügen nichts anderes sind als das, was man mit Karl Marx das „Opium fürs Volk“ nennen kann. 

Aber, je länger das Lied andauert, desto deutlicher verändert sich das Szenario. Die Lügen werden  zweideutiger – und unheimlicher. Sie beruhigen nicht mehr nur, sondern zugleich verunsichern sie. Sie zeigen nicht nur das Schöne, sondern auch die Abgründe. Und dafür findet das Lied viele Bilder: einerseits krönen uns die Lügen, andererseits verhöhnen sie uns; einerseits fügen sie sich unserem Willen – andererseits führen sie uns ins Dunkel; einerseits wischen sie uns die Tränen ab, andererseits zischen sie uns in die Ohren.

Die Lügen werden ambivalent. Sind sie unser Freund oder unser Feind? Das wird immer rätselhafter. Und es wird rätselhafter, warum hier von Lügen die Rede ist. Denn verdrängen oder uns über unangenehme Wahrheiten hinwegtrösten – das tun diese Lügen ja offensichtlich nicht mehr. Im Gegenteil: Sie versetzen uns in Unruhe. Sie konfrontieren uns mit etwas, das wir lieber nicht gesehen hätten. Sie führen uns an Orte, die wir ansonsten meiden.

Es ist merkwürdig, aber genau diese Ambivalenz der sogenannten Lügen rückt sie aus meiner Sicht in die Nähe der Religion. Ich möchte dazu ein Bild aus dem Lied erinnern, das ich als besonders stark empfinde: Die Lügen fragmentieren uns, bloß ums uns zärtlich zu berühren. Auch hier entsteht wieder so eine typische Unruhe. Auf der einen Seite wird uns eine Lüge erzählt, und die stößt uns auf etwas, dem wir in aller Regel ausweichen: Sie zeigt uns, dass wir ein Fragment sind.

Und darauf gestoßen zu werden, das stelle ich mir wie ein Wachgerütteltwerden vor: Vorher, bevor uns die Lüge aus unserem Traum riss, da sahen wir unser Leben als etwa Vollständiges an; wir hörten es als einen runden Klang, der uns zufrieden stellte. Und jetzt werden wir aufgeweckt und sehen: unser Leben ist ein unfertiges Bild, mit abgebrochenen Wegen und Irrwegen, mit Luftschlössern und unbekanntem Ausgang. Das ist die eine Seite: Die Lüge deckt auf, dass wir ein Fragment sind; ein unvollendetes Werk, das niemals vollendet sein wird. Und darauf folgt die andere Seite: Die Lüge berührt uns zärtlich. Sie belässt es nicht bei dieser Aufdeckung des verstörenden Bildes, sondern sie reicht uns ihre Hand.

Genau diese Ambivalenz – zwischen Wachgerütteltwerden und Zuspruch – ist auch für den Glauben an Gott charakteristisch. Auf der einen Seite konfrontiert uns dieser Glaube mit einer unbequemen Wahrheit. Er lässt uns etwas an uns erkennen, was wir in der Regel gerne übersehen. In der traditionellen Sprache: im Spiegel des Glaubens sehen wir, dass wir „Sünder“ sind. Das ist ein etwas angestaubter Begriff. Aber eigentlich will er nur zu Ausdruck bringen, dass wir unvollkommene Wesen sind, zweideutig, mit unseren Geheimnissen und Abgründen. Und auf der anderen Seite, so der zentrale Gedanke des christlichen Glaubens, schenkt Gott diesen zweideutigen Wesen seine Wertschätzung und Liebe. Und nicht obwohl sie zweideutig sind, sondern weil sie es sind.

Seltsam also diese Nähe zwischen dem, was bei den einen Lüge heißt, bei den anderen Glaube. Ich verstehe diese Nähe auch als einen Hinweis darauf, wie wir als Menschen gestrickt sind: Wir wollen  uns den harten Fakten stellen, aber wir wollen uns nicht von ihnen lähmen lassen. Wir wollen wissen, was es mit uns auf sich hat – aber wir wollen auch handlungsfähig bleiben. Und deshalb brauchen wir beides: Den Abgrund, der uns taumeln lässt – und den Grund, der uns laufen lässt. Nur eine Seite, das wäre zu wenig. Das würde uns entweder zu Salzsäulen machen oder zu bloßem Kitsch. Wir brauchen beides.

Und dennoch: so gedankenvoll das Lied von Tocotronic uns stimmen mag, für mich persönlich löst es eine bleibende Frage aus. Und die hängt an dem Wort Lüge. Warum ist von Lügen die Rede? Vielleicht liegt darin ein ironischer Gestus – ausgerechnet die Lügen als das, was uns mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert. Vielleicht liegt hierin aber auch eine gewisse Resignation – als ob wir gar nichts anders mehr hätten als Lügen, um unseren Leben Tiefe zu geben. Vielleicht ist es aber auch ein Bild, mit dem etwas ganz anderes gemeint ist. 

Ich weiß es nicht. Aber was auch immer damit gemeint sein mag: Lüge ist nicht die einzige Alternative zur puren Vernunft. Und auch Religion ist nicht Lüge. Aber was ist sie dann?

2.

Religion ist der Kampf gegen die pure Vernunft. Oder besser noch: der Aufstand gegen sie. Denn erst wenn wir aufstehen, weitet sich vor unseren Augen der Horizont. Wenn wir aufstehen, blicken wir weiter und sehen mehr als im Sitzen. Dinge, die eben noch ganz dicht an uns gewesen sind, rücken dann in einen größeren Kontext. Sie werden vielschichtiger. Und wir können uns besser zu ihnen verhalten.

In diesem Sinn ist Religion Aufstand gegen die pure Vernunft. Und dennoch fällt uns dieser Aufstand nicht leicht, sondern ist ein Kampf. Er ist ein Kampf, weil die pure Vernunft gute Argumente bei der Hand hat. Sie führt uns unsere Welt vor Augen, so wie wir sie alltäglich kennen lernen: Die Welt unserer Aufgaben und unserer Sorgen. Aber auch: Die Welt, die uns unsere kleinen und größeren Erfüllungen schenkt. Die Welt, die wie ein Markt ist: berechnend und die auch wir berechnen können. All das zeigt uns die pure Vernunft.

Und sie hat recht damit: So ist die Welt, berechnend und berechenbar, ein klares Koordinatenfeld, das uns einen bestimmten Ort in ihr zuweist, mit bestimmten Aufgaben und bestimmten Erfüllungen. Und immer so weiter. Und so weiter.

Erst wenn wir aufstehen, ändert sich dieses Bild. Und dann sehen wir zwei Dinge zugleich. Zum einen: Ohne Vernunft würden wir die Welt, in der wir leben, nicht verstehen. Zum anderen: Nur mit Vernunft würden wir nichts als diese Welt verstehen.

Also: Auf der einen Seite sehen wir, dass wir ohne Vernunft unsere Welt nicht begreifen würden, dass wir unsere Aufgaben in ihr nicht erfüllen könnten. Im Aufstand sehen wir aber auch noch das andere. Das andere, das nicht ganz von dieser Welt ist, und dass wir mit purer Vernunft gar nicht sehen könnten: 

  • Etwa unser unruhiges Herz: das würden wir nicht pochen hören.
  • Oder den Frieden Gottes: den würden wir nicht schmerzlich vermissen.
  • Oder unser Glaube an die Liebe: aus dem würden wir keine Kraft schöpfen.

Nur mit purer Vernunft würden wir das, was nicht ganz von dieser Welt ist, gar nicht sehen. Denn die pure Vernunft braucht all das nicht, um zu funktionieren. Sie braucht nicht unser unruhiges Herz – ihr reicht unser berechnendes Herz. Sie braucht nicht die Sehnsucht nach dem Frieden Gottes – ihr reichen mittelfristige Abkommen und Waffenstillstände. Und sie braucht keinen Glauben an die Liebe – ihr reicht der Glaube an den täglichen Daseinskampf.

All das braucht die pure Vernunft nicht. Aber wir, wir brauchen es. Und darum:

Pure Vernunft darf niemals siegen. Amen.

Anmerkungen

[1]        Aus der Fülle möglicher Beispiele: Wenn etwa Robbie Williams festhält: „Jesus didn’t die for you“; oder Jochen Distelmeyer seinen Weltschmerz darin auslegt, dass „Gott (…) nur ein Kind“ sei; oder Sting den Liebenden dazu ermuntert: „You gotta fill her up with Jesus!“

[2]    Ich habe diese Gottesdienste im Rahmen meines Vikariates in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Altona-Ost gehalten. Die Gemeinde Altona-Ost liegt auf der Grenze zwischen den Hamburger Stadtteilen Altona und St. Pauli.

[3]    In dieser Spannung stehen etwa die Blumfeld-Alben (seit „Old Nobody“ aus dem Jahr 1999).

[4]    Vgl. Paul Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Gesammelte Werke, Band IX, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 13-31.

[5]    Vgl. 3.1.

[6]    Friedrich Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Herrn Dr. Lücke, in: Schleiermacher Auswahl, hg. v. H. Bolli, 1968, 146.

[7]    Vgl. zum Folgenden: Claudia Schulz/Eberhard Hauschildt/Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 2010, 50ff; Uta Pohl-Patalong, Differenzen wahrnhemen – Differenzen gestalten. Konsequenzen aus der Milieuforschung in der evangelischen Kirche, in: Michael N. Ebertz, Hans-Georg Hunstig (Hg.), Hinaus ins Weite. Gehversuche einer milieusensiblen Kirche, Würzburg 2. Auflage 2008, 107-122.

[8]    Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus, 66ff.

[9]    Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus, 67.

[10]   Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt am Main 1988, 45.

[11]   Zum Zusammenhang von Ironie und Fragment in der Romantik vgl. Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 191f.

[12]   In der ‚mystischen‘ Version des Lawrence-Mix (zu finden auf der „Best of“ von 2007).

[13]      Zwischen den Teilen 1 und 2 wird auf dem Flügel ‚meditative‘ Musik intoniert.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/68/mz1.htm
© Martin Zerrath, 2010