Kommt und seht (Joh 1,39)

Das Johannesevangelium als ästhetische Andacht

Harald Schroeter-Wittke

Martina Kumlehn: Geöffnete Augen – gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretisch-hermeneutische Studien zur Rezeption und Didaktik des Johannesevangeliums in der modernen Religionspädagogik. Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs Band 1, Walter de Gruyter Berlin/New York 2007. gebunden 419 S. EUR 104,95. ISBN 978-3-11-019516-3.

Das Johannesevangelium gehört zu den biblischen Texten, die (nicht nur) im Protestantismus eine große Hochachtung genießen. Schon Luther urteilte 1522 in seiner Vorrede auf das Neue Testament: "Weyl nu Johannes gar wenig werck von Christo, aber gar viel seiner predigt schreybt, widderumb die andern drey Evangelisten viel seyner werck, wenig seyner wort beschreyben, ist Johannis Euangelion das eynige zartte recht hewbt Euangelion vnd den andern dreyen weyt fur zu zihen und hoher zu heben." (WA Deutsche Bibel VI, 2-16,10) Wer dieses Zitat nicht allein vor dem theologiegeschichtlichen Hintergrund von Werk und Wort bei Luther, sondern auch mit dem ästhetischen Blick der Gegenwart liest, der kann in der Hochschätzung Luthers für das Wort bzw. die Predigt einen Grundgedanken ästhetischer Andacht erkennen, insofern das Wort Gottes als ein uns betreffendes immer auch ein immer neu zu deutendes bzw. im wahrsten Sinne des Wortes ein immer neu auszulegendes und wahr zu nehmendes Geschehen darstellt.

Die 2006 fertig gestellte Bonner Habilitationsschrift der Rostocker Religionspädagogin Martina Kumlehn verfolgt die Spur der Lektüre des Johannesevangeliums in religionspädagogischen Kontexten des 20. Jahrhunderts und leistet damit einen enzyklopädischen und zugleich exemplarischen Beitrag zu einer Ästhetik des religionsdidaktischen Bibelgebrauchs anhand dieser biblischen Schrift.

1985 hatte Albrecht Grözinger in seiner Bahn brechenden Habilitationsschrift "Praktische Theologie und Ästhetik" (München 1987) auch einige kurze Passagen zu einer "kleinen ästhetischen Phänomenologie" von Bibeltexten (Ex 3,1-14 / Luk 24,13-35) vorgelegt. Kumlehns Habilitationsschrift liest sich als ausführliche religionspädagogische Relecture solcher Vorlagen und Versuche nach 20 Jahren Diskussion im Reflexions- und Handlungsfeld "Praktische Theologie resp. Religionspädagogik und Ästhetik". Dabei versucht sie in vielfältiger Weise Verbindungen zu knüpfen zwischen Theoriediskuren, die z.T. als sich ausschließend verstanden worden sind, z.B. Hermeneutik – Phänomenologie – und Semiotik. Dies gelingt ihr aufgrund einer gelungenen Relecture der Symbol- und insbesondere der Metapherntheorie des protestantischen Philosophen Paul Ricoeur (1913-2005).

Davor jedoch arbeitet Kumlehn die unterschiedlichen Rezeptionen des Johannesvangeliums in der deutschsprachigen Religionspädagogik des 20. Jahrhunderts minutiös auf. Dieser Zugang erweist sich als außerordentlich fruchtbar, wirft er doch anhand von Randphänomenen noch einmal neues Licht auf zentrale Fragestellungen im Spannungsfeld von Ästhetik und Didaktik der evangelischen Religion.

Das Johannesevangelium gilt insofern als Randphänomen, als es in den jeweiligen Lehrplänen als Ganzes gar nicht vorgesehen war und ist. Dennoch hat sich an ihm eine ausführliche religionsdidaktische Relecture-Tradition ausgebildet, die allerdings von Personen vorgenommen wurde, die zumeist im Schatten anderer standen, deren Konzeptionen sie jedoch kräftig mitgeprägt haben. So erweist sich Kumlehns Lektürespur als lehrreicher Umweg in mehrfacher Hinsicht. Mit ihrer Aufarbeitung der Johannesevangeliumslektüre von Friedrich Niebergall (Liberale Religionspädagogik), Marianne Timm (Evangelische Unterweisung), Hans Stock (Hermeneutischer und Problemorientierter Religionsunterricht), Ingo Baldermann / Walter Rebell (Bibeldidaktik) und Peter Biehl (Symboldidaktik) schreibt sie vorneweg eine ganze Geschichte der modernen Religionspädagogik anhand der Lektüre einer biblischen Schrift. Dabei ergibt sich eine beeindruckende Sichtweise der Geschichte und Probleme der religionspädagogischen Konzeptionen, als deren Zielpunkt sich grundlegende ästhetische Fragestellungen erweisen.

Für die ästhetische Fragestellung nach einem angemessenen Bibelgebrauch in der Gegenwart ist Kumlehns Lesart des Johannesevangeliums im Horizont der Ricoeurschen Erzähltheorie Weg weisend. Dabei verbindet sie die jüngeren exegetischen Arbeiten zum Johannesevangelium mit dem religionspädagogischen Interesse, eine Vielzahl sinnvoller möglicher Lesarten zu gewinnen, die den Lesezirkel antreiben, ohne ihn je zur Vollendung bringen zu können. Das religionspädagogische Interesse, das zugleich (auch) allgemein bildet, lautet dabei, die Fiktionalität dieser Texte als Chance begreifen zu lernen (nicht nur) für Jugendliche, die in ihrer Alltagswelt vielfach die Übergänge zwischen virtuellen und realen Welten mit viel Kompetenz gestalten.

Dass dabei das Sehen im Johannesevangelium eine besondere Signifikanz und Fülle aufweist, macht es aus ästhetischer Sicht umso interessanter. So verkörpern die Figuren des Johannesevangeliums "jeweils unterschiedlich akzentuierte Sehkonzepte in der Wahrnehmung Jesu Christi und damit verbunden der Selbst-, Welt- und Gotteswahrnehmung, die zugleich unterschiedliche Weisen und Wege des Glaubens bezeichnen" (371). Die genaue Wahrnehmung dieser biblischen Schrift führt daher am Ende nicht auf eine einzige Deutung, sondern auf einen unaufhörlichen Lektüreprozess, bei dem das eigene Leben ansichtig – und ein angesehenes werden kann.

"Fiktionale Welten dürfen bewohnt werden, aber ihre Grenzen und ihr Verhältnis zur Realität sind immer wieder bewusst zu halten." (381) So lautet Kumlehns Fazit, dem ich zustimme und das ich zugleich hinterfrage, insofern fact und fiction doch immer wieder notwendigerweise verschwimmen. Doch, wenn ich Kumlehn richtig verstanden habe, geht genau dann der Lese- und Lebeprozess auf der Suche nach dieser Unterscheidung des Bewussten mit Umwegen (Methoden) weiter bzw. von Neuem los. Manche halten dies für Sisyphosarbeit. Im Lichte der Relecture des Johannesevangeliums anhand der Kumlehnschen Einsichten stellt es sich allerdings für mich dar als Gnade, insofern solche Bibel- und Welt-Lektüre am Leben hält.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/67/hsw11.htm
© Harald Schroeter-Wittke, 2010