Christentum kontrovers. Wie weiter mit Gott?

Eine Diskussion

Jörg Herrmann - Wilhelm Gräb - Herbert Schnädelbach

Jörg Herrmann 
Jetzt ist die Zeit schon ziemlich weit fortgeschritten. Eigentlich wollten wir Sie schon längst mit einbeziehen. Und ich denke an dieser Stelle, obwohl es noch Punkte hier vorne geben sollte, machen wir das auch. Sie haben das Wort mit Ihren Fragen und Anmerkungen.

Mann aus dem Publikum     
Meine Frage ist, müsste man nicht eigentlich Herrn Schnädelbach etwas entgegengehen als Theologe? Und zwar, indem wir uns an Bertrand Russell orientieren, der wohl mal gesagt hat, wer mit 20 kein Marxist ist, hat kein Herz, und wer mit 30 immer noch Marxist ist hat keinen Verstand. Vielleicht könnte man das ja anwenden auf das Christsein, wer mit 20 nicht evangelikal war, hat kein Herz und wer mit 30 immer noch evangelikal ist, hat keinen Verstand. Damit wollte ich klar machen, vielleicht wäre es sinnvoll, in den Symbolen des Glaubens mehr zu sehen, wie Herr Schnädelbach auch immer festgehalten hat, als nur ein subjektives sich Wiederfinden darin. Also müsste man nicht insoweit Herbert Schnädelbach entgegengehen und ein Stück weit Recht geben?

Herbert Schnädelbach       
Also, mich würde das freuen. Aber ich weiß nicht, ob es in Ordnung ist. Ich meine – aber, ich glaube, Herr Gräb, da sind wir uns auch in einem Punkt einig -, diese Interpretation, diese Theologie, die Sie andeuten, bedeutet ja auch eine ungeheure Enttäuschung für all das, was eigentlich mit Kinderglauben, mit traditionellem Christlichsein verbunden ist. Es ist schwierig zu vermeiden, dass dann viele Leute ins Evangelikale abwandern, weil ihnen das dann zu kompliziert ist. Die wollen doch irgendwelche Fakten in der Hand haben, die wollen doch etwas wissen. Ich weiß von einem Onkel, der ist mit 93 selig gestorben und hat gesagt, jetzt komm ich in den Himmel. Ich meine, das ist doch wunderbar, wenn man so etwas hat, um im Leben sich festzuhalten. Ich will das nicht der Theologie oder gar der theologischen Aufklärung in die Schuhe schieben, dass das immer weniger wird, diese Glaubenstatsachen, die man als Geländer durch sein Leben benutzen kann. Aber das scheint mir ein echtes Dilemma zu sein. Ich meine, wenn ich mir als Außenstehender dann doch ein bisschen Sorgen mache um das Christentum, dann hab ich immer das Gefühl, das kann doch nicht das letzte Wort sein, dass das Christentum letztlich nur noch als evangelikaler Fundamentalismus weiterlebt. Weil das andere, was dann noch da ist, so sublimiert und so reflektiert ist, dass das für die Menschen keine Faktizität mehr ist. Das ist eine Befürchtung, glaube ich, die man haben kann.

Jörg Herrmann       
Hören wir vielleicht nochmal zwei Fragen und dann machen wir die Antwortrunde. Hans-Martin Gutmann ?

Hans-Martin Gutmann 
Ich fand das teilweise unheimlich interessant, dass es ein bisschen manchmal so eine Positionsvertauschung war. Dass Sie, Herr Schnädelbach die Gegenständlichkeit des Glaubens einfordern und Du, Wilhelm, im Grunde das Vermitteltsein des christlichen Glaubens, ungefähr so, als wenn Heiner Geißler für die CDU und Wolfgang Clement für die SPD über Sozialismus diskutieren. Aber ich möchte jetzt an beide eine Frage richten. Und zwar, Herr Schnädelbach, Sie haben angefangen mit einem sehr interessanten Satz: wir können nicht mehr damit übereinstimmen, dass der Ökonomismus sozusagen das ganze Leben bestimmt. Das finde ich einen sehr optimistischen Satz, wenn man sich anguckt, was gegenwärtig in fast allen gesellschaftlichen Institutionen, Situationen los ist, wie stark der Ökonomismus sich durchsetzt. Und ich frage, ob nicht eine Tradition, in der soziale Gerechtigkeit und die Armen im Mittelpunkt stehen und ein Freiheitsverständnis artikuliert wird, das jeweils nicht die Selbstdurchsetzung meint, ob eine solche Tradition für Sie Bündnispartner nicht mindestens sein müsste?

Und die zweite Frage an Sie. Wenn Sie wirklich meinen, dass Opfer und Tradition für die Menschen keine Bedeutung mehr haben, waren Sie lange nicht mehr im Kino und Sie waren auch lange nicht mehr im Fußballstadion. Wie stark bei der populären Kultur diese Erzählmuster lebendig sind, kann man eigentlich überall sehen. Und dann wollte ich nochmal beim Begriff der Deutung nachfragen. Es gibt symbolische Ordnungen, die ich nicht erfunden habe, die es schon über Jahrhunderte gibt, die immer wieder erzählt, gefeiert usw. werden, die stehen mir gewissermaßen als Christenmensch und der Kirche als Ganzheit gegenüber. Und in diesem Gegenüber zwischen diesen Ordnungen und meinem eigenem Lebensvollzug entwickelt sich so etwas wie Sinn und Bedeutung. Wenn ich aber alles auflösen würde in Reflexions- oder Bedeutungsfiguren, dann hätte Herr Schnädelbach in gewisser Weise Recht, dass da zu wenig übrig bleibt.

Jörg Herrmann       
Okay, jetzt haben wir noch eine Frage. Da würde ich gerne noch Sie hören, und dann machen wir noch eine Antwortrunde und dann geht’s weiter.

Mann aus dem Publikum     
Meine Frage knüpft an den Einwurf an, dass Sie beide als Diskutanten zum Teil in verschiedenen Kategoriensystem gesprochen haben. Das ist auch sehr naheliegend, weil Sie in verschiedenen wissenschaftlichen System- und Begriffswelten sich bewegen. Deshalb einmal meine Frage an beide, wie würden Sie jeweils das Erleben oder das Nichterleben Gottes aus Sicht des anderen versuchen in Ihren Begriffssystemen zu beschreiben? Das hieße also an Sie, Herr Schnädelbach, die Frage, wie würden Sie das Sein Gottes für sich beschreiben? Und an Sie, Herr Gräb, wie würden Sie das Nichtsein Gottes für sich beschreiben? Ich würde vermuten, dass Herr Schnädelbach sagen wird, das Sein Gottes hieße, dass ich dieses christlich geformte Transzendenzerlebnis nicht hätte und dass Herr Gräb sagen würde, das Nichtsein Gottes würde bedeuten, dass ich diese Aufgehobenheit, dieses Geborgensein, dieses Gehaltensein nicht mehr erlebe. Und dann die weitere Frage, wie würde ein Erlebnis beschaffen sein müssen, indem dieses jeweilige andere Erlebnis sich relativierte? Sprich, wie würde für Sie, Herr Schnädelbach, dieses Sein Gottes in denkbarer Weise sich ereignen können? Und für Sie, Herr Gräb, das Nichtsein Gottes in denkbarer Weise sich ereignen können?

Jörg Herrmann
Jetzt, ja, wir versuchen vielleicht mal auf diese Frage einzugehen, sonst haben wir sie vergessen.

Herbert Schnädelbach       
Ich merke mir das schon, da kann ich noch ein bisschen nachdenken zwischendrin, während ich zunächst auf die Frage nach der Ökonomisierung eingehe.

Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Es ist ja so, dass wir uns dagegen wehren. Wir wehren uns in der Moderne dagegen, dass eine kulturelle Instanz oder ein kulturelles Teilsystem alle anderen dominiert. Wir haben etwas dagegen zu sagen, dass alles politisch ist. Das hat mal Carl Schmitt gesagt, „wir haben die Politik als das Absolute erkannt“, oder so. Aber das ist genau der Vorteil unserer modernen Welt, dass wir zum Beispiel moralische Argumente gegen die Politik vorbringen können. Oder dass die Wissenschaft bestimmte Deutungsmuster der Religion kritisieren konnte seit Galilei. Dann können wir zum Beispiel auch sagen, die totale Ökonomisierung von Kunst, da sträubt sich etwas in uns. Dieser Pluralismus ist zunächst mal eine prinzipielle Geschichte. Dass das tatsächlich jederzeit gefährdet ist, ist gar keine Frage. Aber wir erweisen uns, glaube ich, darin als moderne Menschen, dass wir uns damit identifizieren, mit dieser Pluralität.

So, und das Zweite, das ist eigentlich dann auch schon beantwortet. Ich denke, dass wir ja gar nicht religiöse Ressourcen anzapfen müssen, wenn wir etwa die soziale oder politische Wirklichkeit kritisieren wollen. Sondern, das sind ja sehr verschiedene Überlegungen, die da hineinspielen, die aber eben auch aus verschiedenen Kommunikationszusammenhängen stammen. So meine ich, man kann zum Beispiel ein politisches Programm ökonomisch kritisieren. In der DDR haben Sie das nicht gedurft, ja? Da durfte man auch ökonomische Prozesse nicht etwa ökologisch kritisieren. Das ist eben dieses Prämoderne, dieses Versteinerte, dieses Monotheistische hätte ich beinahe gesagt, das in der Prämoderne vorgeherrscht hat, zumindest im Prinz ip. Wir wollen das ja auch nicht übertreiben. Aber wenn Sie sich heute mal den Islam angucken, vor allem den Islamismus, dann merkt man, das ist wirklich die Rückkehr in die Prämoderne. Das ist wirklich ein Versuch, einen Islam, den es so gar nie gegeben hat, den man gewissermaßen im 19. Jahrhundert angefangen hat zu rekonstruieren, wirklich zum Maß aller Dinge zu machen.

Jörg Herrmann       
Aber es könnte, um auf die Anfangsfrage noch einmal zurückzukommen, doch trotzdem die biblische Option für die Armen oder das protestantische Freiheitsverständnis etwas Positives sein, was auch eine kulturelle Ressource für heute darstellt.

Herbert Schnädelbach       
Aber das ist doch längst in unseren Konsens eingegangen. Ich meine, welche christlichen Gehalte, jetzt mal vor allem im Hinblick auf die Ethik, warten denn noch darauf, übersetzt zu werden? Da bin ich ganz anderer Ansicht als Habermas. Habermas hat ja gemeint, es gäbe so unabgegoltene Gehalte in der Religion, die noch zur Sprache gebracht werden müssen in einer profanen Kultur. Das seh ich überhaupt nicht. Ich meine, dass die Idee der Menschenwürde kausal oder wirkungsgeschichtlich zurückgeht auf die Idee der Gottesebenbildlichkeit, das braucht man doch gar nicht bestreiten. Aber man muss doch kein frommer Christ sein, um die Menschenwürde zu vertreten. Da sieht man doch, dass da Genesis und Geltung auseinandergetreten sind. Und so gilt das auch für alle christlichen Tugenden, also Glaube, Liebe, Wahrheit. War das richtig? Ich glaube, ja.

Jörg Herrmann       
Glaube, Liebe, Hoffnung.

Herbert Schnädelbach       
Glaube, Liebe, Hoffnung. Ich meine, das ist doch eingegangen in einen profanen Humanismus. Und der Philosoph, der das dann auch wirklich so ausgedrückt hat, das war dann Kant. Das brauche ich jetzt nicht zu referieren. Aber da braucht man keine Offenbarungsreligion, um das für stabil und auch für überlebenswichtig für unsere moderne Kultur zu halten.

Jörg Herrmann       
Aber die Frage war noch umfassender und ging auch in einem Teil an Wilhelm Gräb , was den Deutungsbegriff betrifft.

Wilhelm Gräb 
Ich meine, das war vielleicht ein bisschen missverständlich. Aber eben hervorgerufen durch diese Situation hier. Angesichts der Tatsache, dass Herr Schnädelbach nicht bereit ist, die Teilnehmerperspektive einzunehmen, muss ich in der Beobachterperspektive reden. Und in der Beobachterperspektive, Hans-Martin Gutmann , kommt eben diese Deutungsmacht der Religion in erster Linie zum Zuge. Dass die Erlebnisdimension gleichermaßen der Religion zugehört, dass es immer ein Ineinander von Erleben und Deuten ist, das ist mir aber ganz wichtig. Wenn man Deutung sagt, hat es ja sehr schnell den Anschein, als würde man eben alles auflösen in letztendlich doch kognitive, reflexive Operationen, woraus die Religion dann schließlich bestehen soll. Das ist überhaupt nicht meine Absicht. Es geht vielmehr darum, dass diese Deutung immer eingebunden ist in mein Selbst- und Welterleben und darin insbesondere an diejenigen Erfahrungen anknüpft, die mir eben diese Vorausgesetztheit, sozusagen die Welt als Widerfahrnis, zur Erfahrung bringen. Es sind diese Bemächtigungen meiner Selbst durch eine Welt, die immer schon größer ist als das, was mir selbst an Handlungs- und Gestaltungs- und Wissensmöglichkeiten gegeben ist. Diese Übermächtigung meiner Selbst durch die Widerfahrnisse des Lebens, die sind es, die in die religiöse Deutung drängen. Und Sie sagen, der Kinderglaube geht verloren. Ja, was tritt an die Stelle? Es tritt eben oft deshalb nichts an die Stelle, was das bewusste religiöse Verhältnis anbelangt, weil der Kinderglaube zwar verloren geht, aber keine Hilfestellungen da sind, um das anders zu verstehen, eben auf einer jetzt reflektierteren Ebene, woran der Kinderglaube meinte zu hängen. Deshalb muss man versuchen, gerade auch in religiösen Bildungs- und Erziehungsprozessen, deutlich zu machen, dass man das, woran der Glaube glaubt, nicht in einem positivistischen Sinne verstehen muss, dass der Sinn nicht an der Historizität hängt. Man muss vielmehr fragen: Was ist denn der Sache nach damit gemeint? Und drückt sich darin nicht etwas aus, was auch unserem Glaubensverständnis dann noch wieder zugänglich gemacht werden kann?

Herbert Schnädelbach       
Ich möchte dann auf Ihre Frage von vorhin eingehen. Die war mir jetzt zu kompliziert, ich möchte sie aber vereinfachen und einfach jetzt auch mal ganz offen sagen: Ich glaube wirklich zu wissen, was religiöse Erfahrungen sind. Da könnte ich Ihnen viel erzählen. Ich habe zum Beispiel als Kind den Dresdener Angriff überlebt mit meiner Familie und ich weiß genau, dass wir da als Kinder lagen, und ich wusste ganz genau, dass wir sterben würden. Ich war damals acht Jahre alt und ich habe keine Angst gehabt. Solche Erfahrungen könnte ich noch mehre nennen. Krankheitsgeschichten und so fort. Ich habe, glaube ich, das Glück, doch so etwas wie ein Urvertrauen in Menschen und in die Welt mitbekommen zu haben. Aber das kann ich nur zurückführen auf Menschen, die mich als Kind geliebt haben, Menschen, die für mich Vorbilder waren. Ich habe natürlich irgendwo auch wieder Glück gehabt, es sind mir schwere Krankheiten und so etwas erspart geblieben. Das heißt, ich habe durchaus so etwas – wie ich das vorhin angedeutet habe mit dem Zitat - so etwas wie eine Weltbeheimatung. Ich fühle mich trotz allem irgendwie in dieser Welt zu Hause, aufgehoben. Das kann man als eine religiöse Erfahrung deuten. Aber ich kann das nicht mit Gott in Zusammenhang bringen. Das ist der Punkt! In dem Sinne bin ich dann frommer Atheist. Aber ich sage nochmal, Herr Gräb, sonst werde ich böse. Es geht nicht darum, dass ich nicht bereit bin, sondern es ist mir nicht möglich, diese Teilnehmerperspektive einzunehmen. Das ist der Punkt. Ich bin immer wieder gefragt worden in vielen Zusammenhängen – auch im Zusammenhang mit meinem Artikel von damals – , was müsste denn passieren, damit Sie fromm werden? Ich kann immer nur sagen, ich bin’s irgendwie! Aber ich führe das nicht auf Gott zurück. Sondern ich führe das darauf zurück, dass es eben vor allem durch andere Menschen in meinem Leben bisher so gut gegangen ist, dass auch mein Urvertrauen in andere Menschen nicht zerstört worden ist. Ich kenne Menschen, denen ist das zerstört worden. Das ist, glaube ich, eines der schlimmsten Dinge, die auch mit diesen Missbrauchsfällen zusammenhängen. Ich glaube, die Menschen, die so was erlebt haben, sind nicht mehr imstande zu glauben, auch in diesem religiösen Sinn. Das ist meine Vermutung. Aber das als Antwort auf Ihre Frage. Ich will mich damit nicht brüsten. Aber diese Perspektive, die ich jetzt genannt habe, so einer Weltbeheimatung und einer Fähigkeit, Vertrauen zu schenken und Vertrauen zu haben, das bringe ich nicht mit Gott in Zusammenhang. Das ist dann auch die Differenz zu Herrn Gräb.

Wilhelm Gräb 
Also, das ist genau die Beschreibung, die ich jetzt auch nochmal gegeben hätte im Blick auf die Frage, was heißt es für mich, einen Gott zu haben. Das heißt für mich, eine Adresse zu haben, um dieses Grundgefühl der Dankbarkeit, das mich überkommt, wenn ich eben dieser Weltbehaustheit oder dieser Selbst- und Weltpassung immer wieder ansichtig werden darf, dass dieses Grundgefühl eines Grundvertrauens eine Adresse hat, an die ich diese Dankbarkeit, die ich dabei zugleich mitempfinde, auch richten kann. In der Sache, was jetzt gerade das religiöse Erleben anbelangt, trennt uns überhaupt nichts…

Herbert Schnädelbach                   
Nur, ich hab die Adresse nicht!        

Wilhelm Gräb 
Die finden Sie noch.

Jörg Herrmann       
Aber es klingt ja fast ein bisschen so, als ob es auch eine Frage des Vokabulars ist, in welcher Sprache man für sich selbst solche Erfahrungen interpretiert, zum Ausdruck bringt, artikuliert, was einem da nahe ist. Als Sie ihre Erfahrungen jetzt gerade so beschrieben haben, da habe ich gedacht, dem Theologen liegt auf der Zunge zu sagen, das ist eine Erfahrung von Gnade.

Herbert Schnädelbach       
Ja, das auch. Aber der Punkt ist ja der: Ich denke, dass zu religiösen Erfahrungen gehört, dass man etwas erlebt und man möchte sich bedanken, dass es so gekommen ist. Aber man weiß nicht, bei wem. Genauso möchte man sich manchmal ganz fürchterlich beklagen. Aber man weiß nicht, bei wem. Und die Christen, die ich erlebt habe, die haben eben so eine Adresse. Die können sagen, wenn’s gut gegangen ist, das war Gnade. Und wenn’s schief gegangen ist oder wenn’s ganz schlimm war, ja, das ist eine Prüfung, Gott hat uns schon nicht fallen gelassen. Also, das ist dann der Unterschied. Wo ist die Adresse?

Mann aus dem Publikum     
Gott wäre für Sie unbekannt verzogen?

Herbert Schnädelbach       
Na, das weiß ich nicht genau.

Mann aus dem Publikum     
Wie in dem Gedicht von Enzensberger, Empfänger unbekannt, zurück an den Absender.

Herbert Schnädelbach       
Aber ich will doch gar nichts zurückschicken.

Wilhelm Gräb 
Ja, aber vielleicht können Sie sich auch noch an Situationen erinnern, wo in Erfahrungen eben des Schwindens dieses Behausungsgefühls Worte da waren, Menschen da waren, die es wieder neu zu beleben und stärken vermochten. Das heißt für mich eben Gottesdienst feiern in einer Gemeinde, dort solchen Stärkungsworten zu begegnen. Wenn ich an meinen Konfirmationsspruch denke, der mir dann auch immer gerne selber in den Sinn kommt oder den ich anderen gerne so sage, weil sich darin diese Gewissheit ausspricht, Römer 8,38-39: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgend ein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Wie viel bedeutet es, ein solches Wort zu hören, dass da eine weltumspannende Liebe waltet, in die ich mich hineingezogen wissen darf, auch wenn ich in Situationen gerate, in denen ich nichts fühle von der Macht dieser Liebe und nur noch dieses Wort habe, an das ich mich halten kann. Dieses Ich, das in Wahrheit nicht mehr da ist, kann sich durch das Durchsprechen des Paulus-Wortes wieder rekonstruieren. Das gehört doch auch zur Beschreibung religiöser Erfahrung, dass man sie eben nicht mit sich allein und im Brüten über der Nasenspitze macht, sondern in Kontexten, die solche Worte erklingen lassen an die sich dann der Glaube, auch wenn er nicht da ist, doch hängen kann.

Mann aus dem Publikum     
Herr Prof. Gräb, ich hatte den Eindruck, dass Sie sehr überzeugend das Scheitern einer bestimmten christlichen Theologie referiert haben. Einerseits Aussagen sind reine Symbolik, Inhalte sind interkulturell austauschbar und Fakten sind unerheblich oder zufällig. Auf der einen Seite also diese nicht spirituelle Theologie. Am Sonntag gehen Sie in die Kirche und auch ansonsten fühlen Sie etwas in sich, was mit der Theologie aber offensichtlich gar nichts zu tun hat. Wie überwinden Sie diesen Dualismus, wie weiter mit Gott?

Wilhelm Gräb 
Das kann man doch nicht sagen, dass das mit dieser Theologie nichts zu tun hat. Die Theologie ist für mich die Weise, den Glauben so zu reflektieren, dass ich mich eben erlebnispraktisch, wenn ich Gottesdienst feiere, ganz hingeben kann. Ohne dass ich mich da Barrieren gegenüber sehe und nicht weiß, wie ein moderner, aufgeklärter, vernünftig denkender, ansonsten eben in den Wissenschaften sich bewegender Mensch daran noch sollte glauben können. Ich muss eben nicht glauben! Weil der Glaube nicht hängt an solchen Objektivitäten und dergleichen, sondern eine innere Gewissheit des Herzens ist, eine Gefühlsgewissheit. Die aber objektiv wahr ist und die wir letztendlich alle in uns tragen, sonst würden wir morgen nicht wieder aufstehen. Viele geben es nur nicht zu, weil genau eine solche Kommunikation über den Glauben, wie sie heute abend stattfindet, zu wenig geführt wird. Deswegen sehen die meisten Menschen gar nicht den Glauben, den sie defacto leben. Sondern hängen Vorstellungen des Glaubens an, von denen sie dann zugleich meinen sagen zu müssen, das bitte nicht, damit kann ich nichts anfangen, damit will ich auch gar nichts zu tun haben.

Jörg Herrmann       
Sie wollten aber noch einmal nachfragen.

Mann aus dem Publikum     
Ja. Entschuldigung. Sie hatten eingangs etwas gesagt, was ich so verstanden habe, dass Sie ein Glaubensbekenntnis nicht wortwörtlich unterschreiben können, aber, so hab ich Sie auch verstanden, dass Sie es dennoch regelmäßig mitsprechen, was für mich in einem gewissen Widerspruch zum Wahrhaftigkeitsanspruch steht. Diesen Widerspruch muss ich doch in irgendeiner Art und Weise überwinden, indem ich zum Beispiel darauf hinwirke, dass ich von der reinen, austauschbaren Symbolik wegkomme zu einem konkreteren und in unserem Leben auch irgendwie verwurzeltem Ausdruck dessen, was ich empfinde.

Wilhelm Gräb 
Etwas ein Symbol zu nennen heißt, es ist etwas von der Art, dass der Deutung bedarf. Man kann das Symbol geradezu so definieren. Das sind Zeichen unserer Kommunikation, die ohne Deutung nur zu Missverständnissen führen. Das heißt also, ich spreche das Glaubensbekenntnis vollen Herzens mit, weiß aber – und lasse das mehr oder weniger explizit auch mitlaufen, das, was ich da spreche, muss, wenn ich es als wahr soll verteidigen können, gedeutet werden.

Jörg Herrmann       
Ich mache mir sozusagen meinen Reim darauf.

Mann aus dem Publikum     
Aber so funktionieren Kirchen nicht mehr in Zeiten von „Deutschland sucht den Superstar“.

Wilhelm Gräb 
Deswegen habe ich auch gar keine Schwierigkeiten mit dem Ordinationsgelübde, dass ich mich auf die Bekenntnisschriften da verpflichte, weil ich sage, ein Theologe hat gelernt, hermeneutisch mit diesen Texten umzugehen. Das heißt, sie sind ihm immer eine Aufgabe des Verstehens. Und das Verstehen ist ein unendlicher Prozess.

Jörg Herrmann       
Wir bewegen uns auf 22:00 Uhr zu und da wollen wir auch langsam, um den Dreh rum, Schluss machen. Aber es sind noch ein, zwei Fragen im Raum und ich denke, die können wir noch hören. Hier war Hans-Jürgen Benedikt und die drei nehmen wir noch.

Mann aus dem Publikum     
Ich sehe diese Schwierigkeit: Lessing hat vor 240 Jahren das Problem, das Sie beide eben traktiert haben, auch schon mal behandelt. Er hat ja gesagt, Kritik kann die innere Wahrheit, oder das Gefühl des Glaubens nicht zerstören, in dem man selig ist. Er hat sich dann aber auch geweigert, genauer zu beschreiben, was diese innere Wahrheit ist. Das hat Schleiermacher gemacht und Sie haben das schön fortgeführt. Und dann kommen Sie auf diese komplizierten Formulierungen „Gott ist der Grund meines Selbst“, oder es ist das „Erschließungsgeschehen“ in meinem Bewusstsein usw. Da merkt man, das ist irgendwie eine Sackgasse. Das erreicht ja keinen.

Herbert Schnädelbach       
Ja, dann machen Sie’s doch besser.

Mann aus dem Publikum     
Nein, man sollte darauf verzichten, meine ich.

Herbert Schnädelbach       
Und was dann?

Mann aus dem Publikum     
Man sollte auf eine andere Form der Gottesrede zurückgreifen. Welche Gottesrede spricht denn den Menschen heute an? Also, diese Sache spricht uns Theologen an, da können wir einen schönen Diskurs führen und ich lese die Sachen auch gerne und beteilige mich auch daran. Aber eine andere Form wäre doch beispielsweise die Poetische. Also, die Theopoesie, wie Dorothee Sölles meinte. Und diese Erfahrung habe ich ja auch oft gemacht als Theologe, ich halte eine kluge Predigt oder ich spreche ein kleines Gedicht. Und das Gedicht, das behalten die Leute, oder die Erzählung. Aber diese religionsphilosophischen Überlegungen und all das Komplizierte, das erreicht sie nicht.

Wilhelm Gräb 
D‘accord. Aber es ging jetzt ja nicht darum, hier eine schöne Predigt zu halten und schöne Gedichte zu sagen, sondern eben über die Sache zu reden.

Mann aus dem Publikum     
Ja, aber dann wird es zum Teil sozusagen unfreiwillig ironisch, wie in Bölls berühmten Text „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“. Während diese poetische Gottesrede weiter zu reichen scheint. Es ist in diesem Zusammenhang auch bedenkenswert, dass beispielsweise Schriftsteller wie Sibylle Lewitscharoff sagen: Es ist interessant, was meine Großmutter geglaubt hat. Sie war davon überzeugt, dass man in den Himmel kommt. Warum sagt das kein Theologe mehr? Wie kann man das noch ausdrücken? Das kann man eigentlich nur noch poetisch sagen, indem man etwas evoziert. Und man kann es nicht mehr in dieser religionsphilosophischen oder religionstheologischen Sprache sagen. Dann werden es komplizierte Satzgebilde, die für uns Theologen richtig sind, aber unser Gefühl oder das Gefühl dieser schlechthinnigen Abhängigkeit dann nicht mehr erreichen.

Jörg Herrmann       
Okay. Dann mal eben die anderen Voten, …bitte kurz, wenn es geht.

Frau aus dem Publikum       
Ich habe mich mal selbst auf den Weg gemacht und habe angefangen, Theologie zu studieren, seitdem ich Rentnerin bin. Und ich habe festgestellt bei mir, dass man wirklich zurückgehen muss. Zurückgehen muss zu den Anfängen, wie es damals war, wie die Zeit war. Und wie damals auch die Scholastik war, zum Beispiel, in dieser Zeit, in der Philosophie und Theologie ganz eng verflochten waren. Und diese Denkungsweise von damals, die finde ich so spannend. Zum Beispiel dieses Buch, das jetzt erschienen ist, von Kurt Flasch über „Meister Eckhart“. Für mich ist das ein Mann gewesen, der hat sich dermaßen auf die Leute zu bewegt mit dem, was er gesagt hat. Und ich habe das verstanden, für mich war das wie eine Offenbarung. Und das fand ich so spannend. Für mich ist es schade gewesen, dass irgendwann ja auch Schluss war. Als die Zeit der Renaissance dann war und die Naturwissenschaften dann anfingen, da war ja diese Zeit dann ja auch vorbei. Und ja, aber ich hätte das so gerne mal mehr zusammengehabt, Philosophie und Theologie. Also, das hätte ich viel, viel spannender gefunden, wenn sich das noch weiter entwickelt hätte. Bei mir selber stelle ich fest, ich komme aus dieser Zeit nicht raus. Ich bin im Moment etwas unglücklich deswegen, weil ich mich auch persönlich von der Diskussion nicht angesprochen fühle. Das wollte ich dazu sagen.

Jörg Herrmann       
Ja, aber das ist doch auf jeden Fall eine tolle Erfahrung, so ins Mittelalter eintauchen zu können. Jetzt hatten wir noch zwei Fragen, die können wir vielleicht noch kurz hören. Irgendjemand hatte sich da gemeldet, ja?

Mann aus dem Publikum     
Herr Prof. Gräb, für mich bleibt eine Frage offen, obwohl Sie ja weithin nach meiner Beurteilung missionarisch gesprochen haben. Was wird eigentlich mit dem Gedanken der Mission? Ich beziehe mich da auf Ihre Aussage, dass ein glücklicher Mensch eben lebensbegleitende Gewissheit hat und einen festen Glauben. Ich glaube, Sie sind bemüht (und deshalb haben Sie auch diesen Streit mit Herrn Schnädelbach), dass alle Menschen so leben und dass Sie alle zu dieser Überzeugung kriegen und damit haben Sie ja eigentlich heute eine ganz wunderbare, permanente missionarische Mühe gezeigt, dass letzten Endes dann alle glauben sollen. Da ich in einer streng pietistischen Familie groß geworden bin, kenne ich das. Und ich kann nur sagen, ich kenne inzwischen aber auch andere Menschen, die ohne diese innere Befriedigung auch leben. Aber ich mache mir natürlich Sorgen, das stimmt auch. Also, die Frage Mission oder ist das nun vorbei?

Jörg Herrmann       
Vielen Dank. Mission! Und eine letzte Frage von oben.

Mann aus dem Publikum     
Ich wollte gerne sagen, dass ich eben diese kleine Diskussionssequenz sehr spannend fand, als Sie, Herr Schnädelbach, nochmal versucht haben, zu beschreiben, was für Sie persönlich religiöse Erfahrung sein könnte, und die Reaktionen darauf vorne. Ich fand, dass diese kurze Sequenz deutlich gemacht hat, dass wahrscheinlich die Eingangsthesen von Herrn Schnädelbach stimmen. Nämlich die These, dass sozusagen innerhalb der christlichen Theologie unheimlich viel verdampft ist oder kondensiert ist. In der Reformationszeit war es ja so, man hat um die Pura Doctrina, um die reine Lehre, gestritten und gekämpft in für uns heute oft nicht nachvollziehbarer Weise, aber es kam eben auf diese Lehre an, die objektive Lehre, die war irgendwie heilswichtig für die persönliche Glaubensgewissheit. Und da – ob Sie’s nun gut finden oder nicht – hat sich anscheinend ja doch im Laufe der Theologiegeschichte der letzten 250 Jahre entscheidend etwas verändert, darauf hat ja Herr Schnädelbach hingewiesen. Und ich fand diese kurze Sequenz eben hat das sehr verdeutlicht, darin, dass sozusagen eine Erfahrung von Herrn Schnädelbach beschrieben wurde, wo die Theologen sagten, ja, das würden wir vielleicht jetzt Gnade nennen. Und Sie benennen es aber nicht als Gnade. Und das macht doch deutlich, dass ein Kern von religiösen Grunderfahrungen vorhanden ist, der unterschiedlich benannt werden kann, der also nicht mehr zwingend christlich benannt werden muss. Und das wäre die zweite These gewesen, dass das Christliche in das Kulturelle, in das Allgemein-Humane eingeflossen ist und dass wir gar nicht mehr unbedingt die christliche Sprache brauchen um diese Erfahrung zu erhalten. Das ist natürlich irgendwann auch eine ganz klare Infragestellung christlicher Theologie, der ich mich verbunden und zugehörig fühle. Ich wollte mal sagen, diese kurze Sequenz und Ihre Reaktionen darauf, hat genau diesen Impetus und diese provozierende These von Herrn Schnädelbach doch nochmal sehr deutlich unterstrichen. Und das erlebe ich in einer Phase, in der wir als Theologen unsere Kirche leiten müssen, stärker als es jetzt in der Diskussion deutlich wurde.

Jörg Herrmann       
Also, das wäre im Grunde die Frage, ob man diese Art von Erfahrungen in anderen Sprachen auch zum Ausdruck bringen kann oder ob die christliche Sprache, die Sprache der christlichen Tradition etwas hat, einen Überschuss, den es andernorts nicht so gibt?

Mann aus dem Publikum     
Genau.

Jörg Herrmann        
Ja, jetzt haben wir noch drei Fragen. Das eine war die Sache mit der Poesie, wobei - da fand ich, müsste man doch eigentlich drauf antworten, man kann den Einwand nachvollziehen, aber es gibt natürlich auch diese Ebene der Theorie. Und da müssen wir auch nachdenken und insofern hat das ja auch seinen Ort, heute Abend zumal. Für die Predigt und für andere Situationen ist die Poesie sicherlich geeigneter. Aber vielleicht möchte der praktische Theologe dazu noch anderes sagen?

Wilhelm Gräb 
Das mit der Poesie liegt ja ganz auf der Linie der Qualifizierung der religiösen Rede als symbolische Rede, als einer Rede, die in Metaphern verläuft, und eben bildliche Sprachgehalte und Sprachformen sucht, um das Unaussprechliche aussagbar zu machen. Das ist es ja genau, was ich eigentlich versucht habe, deutlich zu machen.

Das mit der Mission und Ihre letzte Frage - da weiß ich eben nicht, ob es richtig ist, Herrn Schnädelbach bei dieser These zu folgen. Also, ich denke, Herr Schnädelbach, Sie haben Recht zu sagen, dass sich das Christliche sehr stark ins Allgemein-Humane, Kulturelle usw. transformiert hat. Es ist in seinem substantialen Gehalt nach wie vor da, wie die Sache des Glaubens überhaupt. Das würde ich eben auch zur Mission sagen. Aber doch befürchten, dass wenn die Sprache dieses Glaubens verstummt und wir nicht fortfahren mit der theologischen Arbeit an der Umformung der Rede vom Glauben und der Rede zum Glauben, dass er dann eher die Chance hat, immer weniger zu werden, also nicht mehr ins Licht des Bewusstseins der Menschen zu geraten. Ich gehe davon aus, dieser Glaube ist da! Aber er weiß zu selten von sich. Und er findet eben die Worte nicht, die ihn zu erreichen in der Lage sind. Offensichtlich ist es mir jetzt heute nicht gelungen die Worte so zu finden, dass Herr Schnädelbach zustimmen könnte. Auch seine Frömmigkeit, sein Glaube ist in dieser Sprache artikuliert. Aber wir sollten sehen - so wie Schleiermacher es in der Vorrede zur ersten Predigtsammlung gesagt hat - vielleicht kommt die Sache dadurch wieder zustande, dass wir sie voraussetzen. Ich versuche jedenfalls so zu verfahren, sie vorauszusetzen, die Sache des Glaubens, …die Menschen als Glaubende anreden, und wo sie keine Schwierigkeiten haben, - das würde ich auch noch mal die evangelikale Anfrage sagen - wo Menschen keine Schwierigkeiten haben ihren Glauben in der alten Sprache auch mit ihren objektivistischen Vorstellungen ausgedrückt zu finden, wäre ich der Letzte, der diese Artikulation des Glaubens angreifen oder irgendwie kritisieren oder madig machen würde. Ich gehe in diese Transformation der Sprache des Glaubens nur dann hinein, wenn ich Menschen begegne, die mit der traditionellen Sprachgestalt des Glaubens ihre unüberwindlichen Schwierigkeiten haben und das auch deutlich zu verstehen geben, dass sie eben den Kinderglauben nicht mehr teilen können, …aber doch einen Glauben haben, und jetzt nicht wissen, wie sie ihn artikulieren sollen.

Herbert Schnädelbach       
Vielleicht auch noch etwas zu dem, was Sie da oben gesagt haben. Ich denke, dass wir natürlich hier sehr protestantisch waren heute Abend. Wir haben fast überhaupt nicht über die katholische Kirche geredet. Und wenn man z.B. die Enzyklika von Johannes Paul II. anguckt, da ergibt sich eben ein ganz anderes Bild. Da wird eben gesagt, der christliche Glaube ist ein kompakter Behälter von offenbarten Wahrheiten, die verwaltet die Kirche und das wird bekannt gemacht, das wird gelehrt. Und dann gibt es die freie Zustimmung und damit ist man gläubig. Das ist das Grundmodell. Ich will überhaupt nicht behaupten, dass das in der katholischen Theologie nicht umstritten ist. Aber das ist so die Linie. Und genauso ist es natürlich auch bei den Evangelikalen. Was ich nur sagen will, ist, das sind religiöse Großorganisationen, die einfach festhalten an dem Begriff des rechten Glaubens, also orthodox. Und da gibt es eben Irrlehren und da gibt es religiöse Wahrheiten, ob das nun Objektivationen ursprünglicher Erfahrungen sind, spielt keine Rolle. Aber die Frage ist dann tatsächlich, es könnte ja sein, weil der Katholizismus ungeheuer wächst auch in der Welt, es könnte ja sein, dass das vielleicht die zukünftigen Formen von Christentum sind, die dann vielleicht für moderne Menschen kaum noch lebbar sind. Es gibt ja auch sehr starke Auflösungserscheinungen in der katholischen Kirche. Aber dann hätte sozusagen das Christentum noch Identitäten, nämlich evangelikal und katholisch. Aber …

Wilhelm Gräb 
Sie dürfen die Charismatiker nicht vergessen, die Friedenskirchen. Die wachsen viel schneller als die katholische Kirche. Und wo die katholische Kirche wächst, wächst sie vor allen Dingen deshalb, weil sie die Impulse der charismatischen Bewegung in sich zu integrieren versucht und gerade nicht an diesem starren Glaubenssystem vom Wahren festhält. Es sind die charismatischen Gemeinden, die weltweit wachsen, die kaum organisatorisch institutionell und schon gar nicht über Lehre gesteuert werden.

Herbert Schnädelbach       
Bibelfundamentalismus. Das ist ganz entscheidend. Aber wir können jetzt nicht noch eine neue Debatte eröffnen. Ich wollte nur zu Ende bringen, was ich eben sagen wollte.

Wilhelm Gräb 
Dem Protestantismus gehört die Zukunft! ((allgemeine Heiterkeit))

Herbert Schnädelbach       
Ja, das ist vielleicht Christentum kontrovers. Dann heißt das dann heute Protestantismus kontrovers. Das glaube ich eben nicht! Ich befürchte, dass, wenn das Christentum das 21. Jahrhundert überlebt, dass es dann vielleicht nur noch so etwas gibt wie pfingstlerische, evangelikale und katholische Christen. Und das andere ist in eine allgemeine Kulturreligiosität übergegangen. Wobei man dann nicht mehr sagen kann, was daran spezifisch christlich ist. Das ist meine Befürchtung.

Jörg Herrmann
Jetzt könnte die Diskussion natürlich wieder neu beginnen, aber jetzt müssen wir sie definitiv beenden. Ich hatte gewisse Bedenken, dass es hier zu harmonisch werden könnte, aber diese Befürchtungen sind nicht eingetreten. Das freut mich. Also herzlichen Dank an Herbert Schnädelbach und Wilhelm Gräb!

((herzlicher Applaus))

Herzlichen Dank auch an Sie für Ihr Kommen, Ihr Mitdiskutieren, Ihr Mitdenken, Ihre Aufmerksamkeit. Und kommen Sie wieder und kommen Sie heute Abend gut nach Hause.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/67/hgs3.htm
© Herrmann / Gräb / Schnädelbach, 2010