Christentum kontrovers. Wie weiter mit Gott?

Eine Diskussion

Jörg Herrmann - Wilhelm Gräb - Herbert Schnädelbach

Aby-Warburg-Haus HamburgIm Folgenden dokumentieren wir ein Streitgespräch zwischen dem Philosophen Herbert Schnädelbach und dem Theologen Wilhelm Gräb, das am 14. Juni 2010 im Hamburger Warburg-Haus stattfand. Veranstalter der Diskussion unter dem Titel „Christentum kontrovers. Wie weiter mit Gott?“ waren die Evangelische Akademie der Nordelbischen Kirche in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Studierendengemeinde Hamburg. Die Moderation hatte Jörg Herrmann, Leiter der Evangelischen Akademie der NEK. 


In seiner Anmoderation sagte Jörg Herrmann u.a.:

„Ich denke, wir sind hier im Warburg-Haus an einem sehr guten Ort, um diesen Dialog zu führen, nicht nur, weil dies ein sehr schöner Raum ist, sondern auch, weil die Fragestellungen des heutigen Abends in mancher Hinsicht zur Tradition dieses Hauses passen. Der Name Aby Warburg steht ja für ein großes Interesse am Verstehen von Transformationsprozessen, ein Interesse, das man, so denke ich, braucht, um mit den Fragen dieser Veranstaltung weiterzukommen.

Beim Stichwort Transformation oder Veränderung ist im Blick auf unser Thema zunächst festzustellen: Über Religion wird seit gut zehn Jahren wieder verstärkt öffentlich diskutiert. Diese Diskussion hat auch polemische Seiten, sie ist aber im Kern ernsthaft: Religion gilt nach einer längeren Zeit der medialen Marginalisierung seit einigen Jahren wieder als ein wichtiges gesellschaftskulturelles Thema. Dabei ist die Frage nach dem Verhältnis zum Islam ein wichtiger Fokus, aber auch Themen wie religiöse Pluralisierung, Spiritualität, Religion und Politik und Religion und Kultur. Diese Diskussionen sind nun seit Anfang diesen Jahres durch die Aufdeckung von immer mehr Missbrauchsfällen vor allem im Bereich der katholischen Kirche und die damit zusammenhängenden Debatten überdeckt. Dabei geht es dann u.a. um die Institution Kirche und ihre Glaubwürdigkeit. Das sind zweifelsohne wichtige Fragen, die aber heute Abend zunächst nicht im Mittelpunkt stehen sollen. Hier und heute sollen grundsätzlichere Fragen zur Sprache kommen, wie es sich gebührt, wenn ein Philosoph und ein Theologe miteinander sprechen.

Dazu gehört die große Frage nach der Zukunft des Christentums. Ist das, was davon heute noch übrig ist, ein Restbestand, der unter der spätmodernen Sonne schon bald endgültig hinweggeschmolzen sein wird?  Befinden wir uns am Beginn eines postreligiösen (Herbert Schnädelbach) Zeitalters?

Liegt Herbert Schnädelbach also richtig mit seiner Diagnose am Ende seines umstrittenen Zeit-Artikels „Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion“ aus dem Jahr 2000. Damals schrieb er: „In Wahrheit haben die Kirchen nichts mehr zu sagen, was nicht auch ohne sie gesagt werden könnte; sie haben nichts spezifisch Christliches mehr zu sagen. Das Christentum hat unsere Kultur auch positiv geprägt, das ist wahr, wenn auch seine kulturelle Gesamtbilanz verheerend ausfällt; seine positiv prägenden Kräfte haben sich längst erschöpft oder sind übergegangen in die Energien eines profanen Humanismus.“

Oder verhält es sich etwa so, wie Wilhelm Gräb im Vorwort seines Buches „Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur“ formuliert? Er schreibt: „Auf vorzügliche Weise können auch heute die Kirchen und Gemeinden attraktive religionskulturelle Erfahrungsorte sein – sofern sie sich nur auf die Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur konstruktiv einstellen.“

Wir werden sehen. Ich möchte Ihnen meine Gesprächspartner noch kurz vorstellen, bevor wir dann in die Erörterung dieser und weiterer Fragen eintreten. Wir werden hier auf dem Podium eine knappe Stunde sprechen, dann haben Sie Gelegenheit, sich mit Ihren Fragen und Kommentare einzumischen.

Zunächst Herbert Schnädelbach. Er war bis 2002 als Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt der theoretischen Philosophie an der Humboldt- Universität zu Berlin tätig. Er hat in Frankfurt Philosophie studiert und 1965 bei Adorno über Hegel promoviert. Nach der Habilitation bei Adorno und Habermas wurde er Professor in Frankfurt, kam dann 1978 hier nach Hamburg und wurde kurz nach der Wende als erster Professor aus dem Westen an das Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin berufen. Sein Schwerpunkt lag dort bei der Diskurs- und Rationalitätstheorie, Hegel war nach wie vor ein wichtiger Referenzpunkt, nicht zuletzt in der Berliner Antrittsvorlesung, da ging es nämlich um Hegels Lehre von der Wahrheit. Im Jahr 2000 hat Herbert Schnädelbach durch die schon erwähnte äußerst kritische Bilanz der Christentumsgeschichte in der Wochenzeitung »Die Zeit« (»Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion«) eine kontroverse Debatte ausgelöst. Anlass für den Text gab damals eine Ringvorlesung unter der Fragestellung „Was hat uns das Christentum gebracht? Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden“. Dass ihn das Thema der Religion auch weiterhin umtreibt, zeigt sein 2009 erschienenes Buch „Religion in der modernen Welt“.

Dann Wilhelm Gräb. Er ist Professor für Praktische Theologie ebenfalls an der Humboldt-Universität zu Berlin und hat sich in seinem Fach einen Namen als ein Theologe gemacht, der das Christentum auf der Höhe der Zeit und im Dialog mit anderen Wissenschaften zur Darstellung bringt und interpretiert. Für alle, die sich mit den Innereien der theologischen Wissenschaft nicht auskennen und das sind vermutlich die meisten: Bei der Praktischen Theologie geht es um die Theorie der Religionspraxis, also um weit mehr als nur um liturgische Detailfragen.

Wilhelm Gräb hat in Bethel, Göttingen und Heidelberg Theologie studiert, und 1979 mit einer Arbeit zu Schleiermachers Geschichtsbegriff promoviert. Nach seiner Habilitation in Göttingen und einer Zeit als Studentenpfarrer und Privatdozent ebenfalls in Göttingen wurde er 1993 Professor für Praktische Theologie in Bochum. Seit 1999 ist er Professor für Praktische Theologie und Direktor des Instituts für Religionssoziologie und Gemeindeaufbau an der Humboldt-Universität, seit 2001 zudem Universitätsprediger der Berliner Hochschulen.

Der Name Wilhelm Gräb steht für eine empirisch-kulturhermeneutisch orientierte Praktische Theologie im Geiste und auf den Schultern Friedrich Schleiermachers. Auch Wilhelm Gräb hat also das Thema seiner Dissertation bis heute begleitet.

Sein letztes Buch „Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur“ von 2006 macht deutlich, dass auch Religion und Theologie sich verändern und mit einer intellektuell anspruchsvollen Zeitgenossenschaft kompatibel sind.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/67/hgs1.htm
© Herrmann / Gräb / Schnädelbach, 2010