E wie Sünde

Betrachtungen

Andreas Mertin

Wenn die Kirche von der Sünde spricht, steht sie immer in einem Dilemma, steht ihre Lehre von der Sünde doch in einem elementaren Gegensatz zu dem, was die Menschen alltäglich für Sünde halten. Während das Kleinbürgertum die Sünde gerne verniedlichen und verharmlosen möchte (Wir sind alle kleine Sünderlein), sucht das Bürgertum mittels der Sünde auszugrenzen. Sünder – das ist immer der Andere und der (sexuell) Andersartige.

Dass Sünde den Tatbestand eines grundsätzlich gestörten Gottesverhältnisses bezeichnen könnte, käme nur den Wenigsten in den Sinn. Aber was heißt das? Dass die Menschen Unrecht haben und es nun darauf ankommt, ihnen den Sinn von Sünde vor Augen zu führen? Dass sie sozusagen kirchlicher Belehrung bedürften? Dass man sie belehren muss, dass sie Sünder sind? Aber eigentlich geht das gar nicht, denn es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Sündenlehre, dass sie davon ausgeht, dass der Mensch in Wirklichkeit gar nichts von seinen wirklichen Sündersein wissen will, dass noch die aufklärerischste Rede von der Sünde deren Verdrängung dient. Trotzdem wird natürlich weiter von der Sünde geredet und gepredigt, werden Menschen unterschiedlichen Alters über die Sünde belehrt. Ein Teil der Evangelischen Kirche in Deutschland versucht das im Blick auf Jungendliche mit der Video-Reihe E wie Evangelisch, die bereits mehrfach kritisch im Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik besprochen wurde. Und selbstverständlich gibt es neben Videos zu den Themen Das Böse und Die Rechtfertigung auch den Versuch, Jugendlichen Die Sünde zu erklären:

Videoclip: E wie Sünde

Das Muster ist nahezu immer gleich: Am Anfang wird eine Alltagsassoziation geäußert, etwas aus dem Bereich der Trivialkultur, dann folgen Schüleräußerungen bzw. Sätze von Jugendlichen. Angeschlossen wird konkreten Fall der Verweis auf die sieben Todsünden: Wollust (visuell = Eros-Center), Rachsucht (visuell = Waffenhandel), Gefräßigkeit (visuell = Fastfood-Imbiss), Faulheit (visuell = Sofaland). Interessant ist, dass es im Rahmen des kirchlichen Clips nicht einmal zur Aufzählung aller sieben Laster reicht:

E wie evangelisch

Visuelles Beispiel

Laster

Wollust

Eros-Center

Wollust

Rachsucht

Waffenhandel

Zorn

Gefräßigkeit

Fastfood-Imbiss

Maßlosigkeit

Faulheit

Sofaland

Akedia

-

-

Hochmut

-

-

Gier

-

-

Neid

Interessant ist auch, dass zwei der vier visuellen Beispiele kaum aus der Lebenswelt der Jugendlichen stammen (Eros-Center und Waffenhandel) und die anderen beiden Beispiele eigentlich falsch gewählt sind (Fast-Food ist kein zwingendes Beispiel für Gefräßigkeit und das Sofaland eine Fehlinterpretation von Akedia). Und warum Hochmut, Gier und Neid, die eher zu den zentralen Lastern heutiger Lebenswelten gehören, in der Aufzählung fehlen, entzieht sich jeder Plausibilität.

Nach der rudimentären Aufzählung kommt nun im Clip ein dramatisches Aber Stop!! Für den evangelischen Bischof Friedrich Weber aus der Braunschweigischen Landeskirche sind das eigentlich keine Sünden. Denn: Sünde im eigentlichen Sinne ist Vertrauensverlust zu Gott. Erläutert wird das nun mit dem Hinweis auf die sprachliche Genese aus dem Wort Sund, der zwei Länder trennt. Schlussfolgerung: Wer sich von Gott abwendet (sich von ihm trennt), der sündigt.

Ich bin mir nicht sicher, ob das ein wirklich hilfreicher Hinweis ist und ich bin mir sicher, dass er nicht den Kern der protestantischen Sündenlehre trifft. Was überhaupt nicht deutlich wird, ist die Antwort auf die Frage, ob wir überhaupt nicht sündigen können, ob also unser gestörtes Verhältnis zu Gott nur ein temporär gestörtes oder ein grundsätzlich gestörtes Verhältnis ist. Der Clip tut so, als ob man nicht sündige, wenn man sich nicht von Gott abwende und er erläutert nicht, warum gerade dies aus evangelischer Perspektive gar nicht geht. Das erweckt dann schon den Eindruck, als ob Atheisten Sünder wären und Gläubige nicht. Wäre das die beim Zielpublikum ausgelöste Schlussfolgerung, ginge es kaum falscher. Aber es würde zur missionarischen Konzeption der Video-Serie passen.

Indem der Clip dem Zielpublikum erst gar nicht zumutet, die Dramatik der protestantischen Lehre zur Sünde zur Kenntnis zu nehmen, verfehlt er deren Gehalt. Die Trivialisierung in schülergerechte Kurzformeln (Wer sich von Gott abwendet, der sündigt) wird dann genauso falsch wie das eingangs zitierte Wir sind alle kleine Sünderlein - der Herrgott wird’s uns schon verzeihen. Theologisch ist das eine nicht besser als das andere.

Der Kern des Problems ist aber ein grundsätzlicher. Er besteht in der Behauptung, die Jugendlichen würden nur ein populärkulturelles Missverständnis von Sünde tradieren, während der institutionelle Vertreter der Kirche die wahre Bedeutung von Sünde verkünden würde. Das ist ein vormodernes Verständnis von Sprache, so als ob kirchliche Institutionen noch über den rechten Gebrauch von Religionsformeln entscheiden könnten. Diese Zeit ist aber schon sehr lange vorbei, eigentlich seit der Zeit der Frühromantik. Um die möglichen Lesarten von Sünde muss heute offen gerungen werden. Die dominante Lesart ist die populärkulturelle, an der sich die hochkulturelle bzw. theologische abarbeiten und vor allem eindrücklich machen muss. Wenn Sünde in protestantischer Lesart vorgestellt wird, muss deren Radikalität und ihre emanzipatorische Konsequenz mit vorgetragen werden, sie muss zeigen, wo sie die alltägliche Lesart aufnimmt, ernst nimmt und qualifiziert. Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren jugendlichen Verächtern wären das Mindeste, was man erwarten kann. Aber auch eine Hilfestellung dabei, inwiefern die protestantische Auffassung von Sünde Bedeutung für den Alltag hat:  „Die theologische Hamartiologie steht vor der Aufgabe, Sünde in den Phänomenen und Erfahrungen menschlichen Lebens aufzudecken, indem sie diese auf die Geschichte der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes bezieht.“ (Ev. Kirchenlexikon, Art. Sünde) Wenn die Frage nach der Erfahrung von Sünde die zentrale Fragestellung gegenwärtiger Hamartiologie ist: „In welchen anthropologischen, psychischen und gesellschaftlichen Phänomenen lässt sich Sünde identifizieren? Wie lässt sich die Verkehrung des Gottesbezuges in der individuellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit wahrnehmen?“ (ebd.) Und genau in dieser Hinsicht lässt der Clip die Zielgruppe mit ihren Definitionsversuchen allein. Indem er Sünde als Trennung von Gott beschreibt, führt er die Erkenntnis kein Stück weiter. Das Problem benennt das Evangelische Kirchenlexikon schon 1985 so: „Im modernen Sprachgebrauch unterliegt das Wort Sünde einem ähnlichen Sinnverlust wie das Wort Gott.“ Wenn das zutrifft, hilft es wenig, den Sündenbegriff durch ein zerbrochenes Gottesverhältnis erläutern zu wollen. Es bedarf anderer und neuer Anstrengungen, über Sünde zu kommunizieren.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/66/am322.htm
© Andreas Mertin, 2010