Ästhetisierung von Religion?


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Von der Kunst zur Religion und zurück?

Eine skeptische Rezension

Andreas Mertin

Junker/Paul: Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben, München 2009

Eigentlich hatte ich mir dieses Buch gekauft, um eine aktuelle, vernünftige und allgemein nachvollziehbare Darstellung zur historischen Entwicklung von Kunst und Religion bzw. von der Kunst zur Religion aus evolutionsbeologischer Perspektive zu lesen. Als interessantes Buch zu diesem Thema hatte ich es neben anderem im Deutschlandfunk vorgestellt bekommen. Und da rund um den Empfang des Papstes für die Künstler viele wilde und wohl auch kaum zu haltende Thesen zum Verhältnis von Kunst und Religion aufgestellt worden waren, wollte ich anhand eines fundierten Überblicks neue Einsichten zur Forschungslage gewinnen.

Um es vorweg zu sagen: nicht nur in dieser Hinsicht hat mich das Buch maßlos enttäuscht. Ich mag es schon nicht, wenn Autoren sich im Vorwort als Verfolgte stilisieren, die unter den Anwürfen Andersdenkender zu leiden hätten. Das mag ja in der Sache zutreffen, sollte aber den Blick nicht darüber verunklaren, was die Autoren eigentlich zu sagen haben. Und das wird nicht plausibler oder unplausibler, wenn Andersdenkende es ablehnen oder kritisieren. Dummheit stirbt nicht aus, aber ein Buch sollte sich an intelligente Leser wenden. Alles andere sind nur Strategien zur besseren Vermarktung eines Buches. Faktisch ist es so wie der Pfarrer, der in der Predigt die Anwesenden beschimpft, dass so Wenige zum Gottesdienst kommen.

Das zweite, was mich stört, ist die Pauschalität der Argumentation. Ich war davon ausgegangen (und gehe weiter davon aus), dass die Wissenschaft der Moderne sich gerade durch Differenzierungen auszeichnet, dadurch, ein möglichst komplexes Bild der Dinge zu zeichnen. Davon kann in diesem Buch kaum die Rede sein. Insbesondere Religion ist hier immer „die“ Religion unabhängig davon, was Religionswissenschaftler in den letzten Jahrzehnten über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Religionen erforscht und erhoben haben. Dass es zur Darstellung des typischen Charakters von Religion ausreicht, auf eine Sure des Korans, einen Satz aus Luthers Katechismus oder aus dem Heidelberger Katechismus zu verweisen (so z.B. Seite 196f.), hätte ich nicht gedacht. So einfach kann die Welt sein.

Wollte man das Buch in seinen Abschnitten zur Kunst und zur Religion zusammenfassen, so könnte man böse und lapidar sagen: wir wissen so gut wie nichts, das aber besser und ziehen weit reichende Konsequenzen daraus.

Was erklärt die nun gehäuft zu beobachtende Grobschlächtigkeit von Evolutionsbiologen im Umgang mit dem Thema Religion? Dass sie von irgendwelchen religiösen Idiotes angegriffen werden, die nicht verstanden haben, was religiöse Sprache ist und deshalb den Deutungs- und Auslegungsakt von Religion mit der Beschreibung der Wirklichkeit verwechseln? Darüber sollte man doch längst hinaus und vor allem als Wissenschaftler auch erhaben sein. Wer immer noch meint, die Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts führen zu müssen, lebt 150 Jahre zu spät. Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verfechtern hätte ich mir gewünscht und nicht diese Plattitüden, die kaum das Etikett „populärwissenschaftlich“ verdienen.

Ein Aufsatz von John Berger zur Erfahrung der Höhle von Chauvet ist instruktiver als all das, was im Darwin-Code zu diesem Thema zusammengetragen und spekulativ gedeutet wird. Wissenschaft wird hier als Zusammenstellung jener Fakten betrieben, die das eigene Erkenntnisinteresse stützen. So wird Wissenschaft in einem schlechten Sinne zum Glaubensakt. Die Opfer des Verstandes, die mir das Buch seitenweise abverlangt, bin ich nicht zu erbringen bereit.

Was ist z.B. Kultur? Nicht, dass sich Kulturwissenschaftler nicht seit langem intensiv mit dieser Frage beschäftigt hätten und die Vor- und Nachteile der verschiedenen Begriffe und Definitionen von Kultur dargelegt und abgewogen hätten. Evolutionsbiologen stört das nicht, sie sind grobe Skizzierungen gewohnt und machen aus Kultur schnell mal „das gesamte Wissen und Verhalten, das ein Individuum von Mitgliedern seiner sozialen Gruppe übernimmt“. Und meinen damit den Sachverhalt „genauer und präziser“ zu fassen als alle anderen Kulturwissenschaftler vor ihnen. Was ist daran genau und präzise? Es ist nur umfassend und damit gut hegelisch gesprochen: nichts sagend.

Und gewinnbringend im Sinne von erhellend und aufklärerisch ist es schon gar nicht. Der artikulierte Anspruch, einen „Schlüssel zu den Problemen unserer modernen Kultur“ zu liefern, löst das Buch jedenfalls so nicht ein.

Nun aber zur Sache. Nach Darstellung der beiden Autoren gibt es ein grundsätzliches Unterscheidungs- und Auszeichnungsmerkmal des Menschen z.B. gegenüber dem Neandertaler, das ist die Kultur und später genauer: die Kunst. Vermutlich vor 100.000 Jahren entdeckt der Mensch die Schönheit als auszeichnendes Merkmal, oder wie Evolutionsbiologen so schön schreiben, den Selektionsvorteil der Kunst. Erklärt wird das so:

„Bei der sexuellen Auswahl kommt es aber darauf an, zuverlässige und eindeutige Indikatoren für den genetischen Status der potentiellen Partner zu finden. Da sich Signale ohne Kosten zum Missbrauch anbieten, werden sich solche durchsetzen, die schwierig zu produzieren sind. Die Weibchen werden Männchen bevorzugen, die sich wirklich in Gefahr begeben, gesundheitsschädliches Verhalten überstehen oder großen Aufwand treiben. … Prototypen dieser schwierig zu beschaffenden, aber zugleich funktionsloser Dinge sind Kunst, Schmuck und Luxusgegenstände im Allgemeinen. Das mit ihrer Herstellung, ihrem Besitz und Gebrauch verbundene Lustgefühl ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass es sich um richtiges Verhalten im Sinne der Gene handelt, das zwar nicht die Überlebens- aber die Fortpflanzungschancen erhöht.“

So einfach ist das also. Wir, die wir uns mit Kunst beschäftigen, haben es schon immer gewusst: es geht um Sex und Selektionsvorteile. Wenn das aber so ist, warum schaffen Menschen dann immer noch Kunst, wenn sie in aussichtsloser Lage in Konzentrationslagern gefangen sind und statt sich Nahrung zum Überleben einzuverleiben, diese lieber gegen Malutensilien tauschen? Weshalb? Weil sie Opfer ihrer Gene sind, die selbst in dieser Situation noch einen unerklärlichen Einfluss ausüben?

Faszinierend ist es, wenn Kultur vorrangig unter dem Aspekt des Handikaps erläutert wird. Wir haben Kunst, weil dafür Aufwand betrieben wird, was die Authentizität des Werbens um das Weibchen bzw. Männchens plausibler macht. Es ist klar, dass unter dieser Perspektive die Kunst der Moderne, besonders die Arte Povera schlecht abschneidet. Evolutionsbiologisch ein Ausrutscher sozusagen:

„Da aber manche modernen Kunstwerke, beispielsweise die Beuys'sche Fettecke, zu ihrer Herstellung nur wenig Aufwand erfordern und leicht nachgemacht werden können, kann es schwierig sein festzustellen, ob es sich tatsächlich um ein ernst gemeintes Signal handelt; entsprechend zögerlich sind viele Menschen, sie als Kunst anzuerkennen. Auch hier gilt, dass sich Signale ohne Kosten zum Missbrauch anbieten; deshalb werden sich auf Dauer solche durchsetzen, die schwierig zu produzieren, aufwändig oder teuer sind.“

Soll man da lachen oder weinen? Oder einfach das Buch zuklappen? Danach wäre Duchamps Urinoir das dümmste Kunstwerk des 20. Jahrhunderts, weil es direkt aus dem Baumarkt ins Museum transportiert wurde. Wie will man sich schließlich davon einen Selektionsvorteil erhoffen?

Es sind immer wieder derartige Pauschalurteile, die einen an der Seriosität der Darstellung zweifeln lassen. Es ist zu unterkomplex. Vielleicht ist es die Tatsache, dass man schnell mal über Millionen oder doch wenigstens Abertausende von Jahren spricht, die einen dazu verführt, komplexe kulturelle Phänomene mit biologistischen Kriterien zu nivellieren. Schnell wird so aus der Evolutionsbiologie eine TOE = Theory of everything.

Was leistet also die Kunst? „Sie koordiniert und synchronisiert die Gefühle und Wünsche der Individuen, indem sie ihnen besonderen Wert verleiht und sie zelebriert. Die schöne, verschwenderische und aufwändige Art der Präsentation ist notwendig, um die Echtheit des Signals zu demonstrieren.“ Da ist dann wohl das ganze 20. Jahrhundert schief gelaufen – und das nicht nur in der Bildenden Kunst.

Ins Blaue geschriebene Sätze wie dieser: „Wir haben die ursprüngliche Entstehung künstlerischer Fähigkeiten durch die sexuelle (und kooperative) Konkurrenz der Individuen innerhalb der Jäger-und-Sammler-Gruppen erklärt; diese Funktion - Partner durch ästhetische Präsentationen auf die eigenen genetischen Qualitäten aufmerksam zu machen und auf diese Weise anzulocken - haben sie auch nie verloren“ – machen einen fassungslos. Was immer wir über die Höhlen von Chauvet, Lascaux, Troyes oder Altamira wissen, ist mit dieser Hypothese nur schwer in Einklang zu bringen. Um diesen Zweck zu erfüllen, müssten die Höhlenmalereien vermutlich ganz anders aussehen. Es ist ein bisschen wie der Witz, dass man unter erotischen Gesichtspunkten am Besten im obersten Stockwerk eines Hauses wohnt, weil dann die Herzen der Besucher schon beim Hinaufsteigen in Bewegung geraten.

Ich will gar nicht bestreiten, dass evolutionsbiologische Strukturen bei der Entstehung und Entwicklung von Kunst eine Rolle spielen, aber so einfach wie hier dargestellt ist es nun doch nicht. Das geben die Autoren auch zu:

„Dieses evolutionsbiologische Szenario ist sicher spekulativ und muss es vielleicht auch bleiben. Es könnte aber die Lösung für eines der großen Rätsel der Menschheitsgeschichte sein, eine Erklärung für die Besonderheit und den Erfolg der modernen Menschen. Und es ermöglicht die so lange gesuchte Darwinsche Erklärung der Kunst als Anpassung“.

Aber dann sollte man nicht von einer Lösung sprechen, sondern bestenfalls von einer in die eigene Weltsicht passenden Vermutung oder Deutung.

Ähnliches gilt für die Schlussfolgerung, man könne so erklären, „warum Eroberer aller Zeiten nicht nur die Festungen, sondern auch die Kunstwerke eines Volkes zerstört haben.“ Haben sie das? Nein, haben sie nicht. Sie haben sie sich in aller Regel einverleibt, sie in Tempeln wie Delphi ausgestellt, sie im Louvre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht oder ins Pergamonmuseum nach Berlin verschleppt. Sicher wurde auch zerstört, in aller Regel direkte Repräsentanzen der Macht. Der wirkungsvollere und weitaus häufigere Weg war aber die Depotenzierung durch ästhetische Zuschaustellung als erobertes Kulturgut. Das kann jeder beobachten, der z.B. nach Paris fährt und den Place de la Concorde betritt. Oder nach Delphi. Oder nach Rom.

Sehr lehrreich dagegen die sich anschließende Schilderung der einander ablösenden bzw. miteinander konkurrierenden Theorien über die Funktion der frühen Bilder und die Darstellung ihrer jeweiligen Grenzen. An diese Grenzen stößt das Buch allerdings auch fortlaufend, vor allem dort, wo es die Sprachspielgrenzen des eigenen Diskurses nicht beachtet und dort, wo es krampfhaft an Thesen des 19. Jahrhunderts festhält und diese fortschreibt, auch wenn sie zwischenzeitlich der empirischen Prüfung nicht standgehalten haben.

Ein Religionswissenschaftler würde z.B. über dieses eurozentristische Konzept von Wahrnehmung nur mit dem Kopf schütteln:

„Wahrscheinlich waren die Darstellungen Mittler zwischen den Welten; die Kunst verband die Welt des Alltäglichen mit den immer präsenten übergeordneten Kräften und Mächten». Um welche ‚Kräfte und Mächte’ aber kann es sich handeln, wenn es keine Geister und Dämonen gibt? Wie wir gezeigt haben, ist die andere, die ‚nicht alltägliche Welt’ nichts anderes als die Welt der Phantasie, die dem Individuum als ‚immer präsent’ und ‚übergeordnet’ erscheint, weil sie sowohl die biologischen Instinkte als auch die kollektiven Gedanken und Wünsche der Gemeinschaft widerspiegelt.“

Die Coolness, mit der der Satz, dass es keine Geister und Dämonen gibt, als allgemeingültig vorausgesetzt wird, muss man nach dem Durchgang durch das 20. Jahrhundert schon haben. Das ist die Rückkehr ins 19. Jahrhundert.

Lautete dieser Abschnitt des Buches „Phantastische Welten 1: Die Kunst“ so lautet der nächste Abschnitt „Phantastische Welten 2: Die Religion“. Hier erfolgt die Diskussion unter Ausschluss der Fachwissenschaftler weitgehend als Binnendiskussion unterschiedlicher evolutionsbiologischer Argumente. Das hat den Nachteil, dass die Evolutionsbiologen immer schon zu wissen meinen, was Religion ist und sich dann entsprechende – in der Regel funktionale – Deutungen dazu zurecht legen. Auch für Religionen gilt: „Letztlich werden sich diejenigen Varianten durchsetzen, deren Anhänger besser überleben und sich fortpflanzen.“

Überhaupt nicht klar wird, wie denn evolutionsbiologisch sinnvoll die „zeitaufwändigen, wohlstandsverschlingenden, feindschaftprovozierenden Rituale“ (Dawkins) der Religionen weltweit zustande kommen. Wenn es sich aber um „Fehlanpassungen“ oder „Infekte“ handelt, wie Dawkins meint, gilt das nicht auch als Anfangsverdacht für jedes kulturelle Ausdruckssystem? Warum sollte es nicht auch für die Kunst gelten? Nicht einmal diskutiert wurde diese Möglichkeit. Hier ist schon im Ansatz klar, dass die Entwicklung der Kunst weder Infekt noch Fehlanpassung war. Logisch ist das nicht, es sei denn, man hat sich vorab entschieden, das eine für sinnvoll und das andere für gefährlich zu halten. Dass Kunst aber in den Epochen, die wir überblicken können, weitgehend der kulturelle Code der Herrschenden war, bleibt so ganz außen vor.

Die Schlussfolgerung im Blick auf die Differenzen von Kunst und Religion lauten dann:

„Damit aber sind wir bei einem wesentlichen Unterschied zwischen Kunst und Religion. Während die Kunst die Menschen durch eine schöne oder anderweitig Interesse weckende Form bezaubert und verführt, während die Wissenschaft durch Argumente überzeugt, versuchen die Religionen die Gemeinsamkeit der Ziele durch Versprechungen und Drohungen zu erzwingen.“

An dieser Stelle könnte man das Buch einfach zuklappen. Dass es tatsächlich möglich ist, zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf einem derart unglaublich oberflächlichen Niveau zu argumentieren, ist schier unfassbar.

Wir wissen nichts über die Gewalt und die elementare Notwendigkeit, die die frühen Menschen dazu gebracht hat, Bilder an die Felswände zu malen (bzw. malen zu lassen!), wir wissen nichts über ihre Ängste und Sehnsüchte, die dann auch Teil ihrer visuellen Welt wurden. Aber wir spekulieren eifrig. Und wir weisen den Gedanken, alle Kultur könnte Gewalt sein, weit von uns. Religion ja, aber Kunst doch nicht. Wir wissen wenig über die Gewalt und die elementare Notwendigkeit, die Sozialpropheten wie Amos oder Hosea dazu gebracht hat, gegen die herrschende Ideologie zur Umkehr und zu alternativen Lebensformen aufzurufen. Aber wir können an ihnen ablesen, dass die Gleichung Religion = Herrschaft unsinnig ist. Mit der gleichen Logik könnte man das Gegenteil vertreten und von Religion = Widerstand sprechen. Beides ist in seiner Pauschalität falsch, aber von beidem ist etwas in jeder Religion.

Sätze über die Gemeinsamkeiten zwischen Religion und Kunst wie „Beide wirken gemeinschaftsbildend, indem sie kollektive Phantasien, Gefühle und Wünsche bündeln. Die Kunst erreicht dies durch eine ästhetische Aufwertung und den Appell an das Selbstwertgefühl der Menschen. Die Religionen streben dasselbe Ziel an, indem sie drohen und das Selbstwertgefühl der Menschen untergraben («Erbsünde»)“ lassen sich schon im Ansatz als unsinnig erweisen. Die Erbsünde als Kennzeichen der Religionen? Im Judentum, in dem die Paradieserzählung ja entstanden ist, spielt die Erbsünde überhaupt keine Rolle. In den Evangelien kommt die Erbsünde nicht vor, erst Paulus entwickelt eine Theologie der Sünde. Im Islam gibt es keine Erbsünde. Ist es wirklich wissenschaftlicher Standard der Evolutionsbiologie, einfach ein Stichwort hinzuwerfen, statt es zu belegen und als gültiges Kriterium nachzuweisen? Das ist Wissenschaft auf Stammtischniveau.

Und das bleibt es auch: „Eine Gesellschaft wird sich infolgedessen umso mehr Kunst leisten können, je stärker die Interessen der Mehrzahl der Einzelnen gewahrt sind, und sie benötigt umso mehr Religion, je weniger dies der Fall ist.“ Ist das wirklich so und kann man das empirisch an der Geschichte der Kunst seit den frühen Hochkulturen belegen? Dann könnte man ja mal schauen, wo in der Geschichte der Menschheit Kunst bis in die breitesten Bevölkerungsschichten verbreitet war und das damit korrelieren, welche Religion dort herrschte und mit welcher Intensität sie in das Leben des Einzelnen eingreift. Ich fürchte, das Ergebnis wird ernüchternd sein. Michael North hat in seiner Studie über „Das Goldene Zeitalter: Kunst und Kommerz in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts“ gezeigt, wie verbreitet in den reformierten Niederlanden die Kunst in den Privathaushalten der Bürger waren. Und man wird den Reformierten nicht nachsagen können, dass sie dabei die Religion vernachlässigen würden. Gerade die reformierte Tradition ist eine, in der privater Kunstbesitz und öffentliche Religion eng zusammengehen.

Im abschließenden Kapitel suchen die Autoren nun das Verhältnis von Kunst und Religion zu bestimmen. Dass sie dabei an Theorien festhalten, die aus der evolutionsbiologischen Argumentationslogik des 19. Jahrhunderts stammen und von der Religionswissenschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegeben wurden, überrascht nicht. Sie möchten zum Beispiel Religion von Animismus trennen und das evolutionsbiologische Argument des Animismus erhalten. Tatsächlich erklärt sich der Animismus eher aus der evolutionsbiologischen Theoriebildung als durch Beobachtung von Tatsachen.

Das stört die Autoren aber nicht und so entscheiden sie: „Die Unterschiede zwischen der ursprünglichen Weltanschauung des Animismus auf der einen und den späteren Religionen auf der anderen Seite sind jedenfalls so grundlegend, dass wir, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, nur dann von Religion sprechen wollen, wenn in einer Weltanschauung übernatürliche Wesen (Götter) eine Rolle spielen.“

Nun sagt der allgemeine Sprachgebrauch, wie er sich etwa in der Wikipedia artikuliert, aber auch, dass sich inzwischen ein wissenschaftlicher Konsens über den Beginn menschlicher Religionsgeschichte herausgebildet hat: „Demnach werden Bestattungen und (später) Grabbeigaben als frühe archäologische Zeichen religiösen Ausdrucks anerkannt, die sich ab etwa 120.000 Jahren v. Chr. im Mittelpaläolithikum sowohl bei Homo sapiens als auch beim Neandertaler nachweisen lassen, bei Homo sapiens jedoch bald komplexere Formen von frühen Kunstwerken, aufwändigen Grabstätten und herausgehobenen Bauwerken annahmen.“

Würde man dem folgen, dann wären die Schlussfolgerungen der Autoren über die „feindlichen Schwestern“ Kunst und Religion höchst problematisch. Die Reduktion von Religion auf den Götterglauben ist aber die conditio sine qua non ihrer Argumentation und deshalb können sie den aktuellen religionswissenschaftlichen Beschreibungen auch nicht folgen, sondern müssen auf Konstruktionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgreifen.

Seit 12000 Jahren ist danach die Kunst weitgehend unterdrückt und unkenntlich, weil der Religion bzw. allgemein der Herrschaft unterworfen. Alles, was wir also im „allgemeinen Sprachgebrauch“ als Kunst nennen, ist in diesem Sinne begrenzte Kunst: „Was von der Kunst blieb, geriet in die Geiselhaft einer weltlichen oder geistlichen Auftragskunst und konnte im besten Falle versuchen, sich auf verbotenen Schleichwegen mehr schlecht als recht zu behaupten.“ Was mich daran stört, ist weniger die These der Abhängigkeit der Kunst durch die Geschichte hindurch, als vielmehr die durch nichts begründete Unterstellung, dass sei vor der neolithischen Revolution anders gewesen, so als sei die Kunst in Chauvet frei gewesen. Ich sehe nicht, wie man dies begründen und vor allem: belegen will. Es ist nichts weiteres als eine interessegeleitete Spekulation, von der man dann allerdings weit reichende Konsequenzen ableitet.

Wer die Dreiheit von Kunst, Religion und Wissenschaft auf die Dreiheit von Verführung, Zwang und Argument reduziert, sollte sich ernsthaft nach seiner wissenschaftlichen Seriosität befragen lassen. Sicher sind Bücher wie der Darwin-Code populärwissenschaftliche Elaborate, aber das berechtigt nicht, derartig grobschlächtig zu verfahren.

Die Stärke des Buches sehe ich in der Tatsache, dass es uns auf ein zu erörterndes Problem aufmerksam macht, das bisher vielleicht in der Kulturwissenschaft zu sehr vernachlässigt wurde: das Verhältnis von Kunst und Religion in der Perspektive ihres Ursprungs. Nun kann man lange mit Theodor W. Adorno fragen, ob der Rekurs auf den Ursprung überhaupt sinnvoll ist, weil sich die Daten hier derart ins Vage verlieren, dass eine seriöse Analyse kaum sinnvoll ist. Aber selbst wenn man das einmal beiseite lässt, wäre ja die Frage, ob man mit Differenzierungstheorien nicht unendlich viel weiter käme als mit Substitutionstheorien.

Wenn man mit dem wissenschaftlichen Konsens der Gegenwart davon ausgeht, dass Kunst und Religion seit dem Beginn dessen, was wir Menschheit nennen, eng miteinander verflochten waren, vielleicht sogar so eng, dass eine Differenzierung zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht sinnvoll ist, dann kann man dennoch beobachten, dass später diese beiden Bereiche sich spezialisierten und differenzierten. Es gab dann Kunst ohne Religion und Religion ohne Kunst, ohne dass dies als Mangel aufgefasst wurde. Und das gilt auch dann, wenn man bedenkt, dass über Jahrhunderte der religiöse Anteil in der Kunst bzw. Bildproduktion bei über 80% lag und erst nach 1200 n.Chr. die Säkularisierung der Künste beginnt. Jedenfalls hat die Differenzierung in den letzten 5000 Jahren dazu geführt, dass in beiden Bereichen Höchstleistungen geschaffen wurden, dass die „Betriebssysteme“ Kunst und Religion immer reflektierter wurden.

Ich sehe nun nicht, was die von den Autoren insinuierte Abkehr von der Religion und Hinwendung zur freien Kunst der menschlichen Frühzeit für einen Gewinn darstellen sollte, wenn der Preis dafür die gesamte Religionsgeschichte und die Kunstgeschichte der letzten 3000 Jahre ist. Ich vermute, es geht um eine Art hedonistischer Kunst, die nun gar nicht mehr beeindruckend, sondern vor der Folie der abendländischen Kunstgeschichte nur noch langweilig ist. So gesehen ist das Buch in seinen Ausführungen zu Kunst und Religion weitgehend enttäuschend.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/63/am305.htm
© Andreas Mertin, 2010