Die Kornkreise des Protestantismus

Evangelische Cerealogie

Andreas Mertin

Wer auf der neu entstandenen und mit viel finanziellem Aufwand und geringen inhaltlichen Gehalt ausgestatteten Plattform www.evangelisch.de bei der Orientierungstafel für funktionale Analphabeten auf die blaue Farbe klickt, wird mit einem Untermenu belohnt, das folgende Häppchen zum evangelischen Konsum offeriert:

Blogs – Kreise – Lebensbücher – Was uns bewegt – Mithelfen – Hilfe. Letzteres bietet de facto keine wirkliche Hilfe, sondern ist der übliche Hilfe-Button bei Internetseiten und Computerprogrammen. Mithelfen meint auch nicht das, was man religiös vielleicht darunter verstehen könnte, sondern zielt auf die Mitarbeit bei oder die Propaganda für Evangelisch.de. Was uns bewegt ist auch eigentlich nur ein Blog, der Nachrichten aus dem Bereich Verschiedenes versammelt.

Bleiben also drei Angebote übrig. Ich greife einmal willkürlich die Kreise heraus, die Blogs und Lebensbücher spare ich mir für eine spätere Auseinandersetzung auf. Bis zu dem Tag, an dem ich das schreibe, gibt es 1736 Nutzer in der Community, 190 Kreise, 351 Blogeinträge und 39 Lebensbücher. Im Blick auf die 24,8 Millionen Mitglieder der EKD ist die Reichweite mit 1/14000 aller Adressaten beeindruckend. Immerhin 1.736 Menschen von 24.800.000 nutzen das Community-Angebot. Und einige von ihnen (und von innen) bilden Kreise.

Kreise – das klingt natürlich für kirchliche Insider nach den vertrauten Jugendkreisen, den diversen Kreisen in der Gemeinde, die schon sprachlich vermitteln wollen, dass sie zwar jedermann offen stehen, aber dennoch nicht öffentlich, sondern geschlossen sind. Menschen außerhalb der Kirche, das zeigt ein schneller Blick ins korpuslinguistische Lexikon, verbinden mit dem Wort „Kreise“ etwas andere Assoziationen: so zum Beispiel politische, informationstechnische, familiäre Kreise. 

Das Motto für dieses „evangelische“ Angebot lautet: Du sollst Deinesgleichen finden! Soll ich? Will ich? Abgesehen von dem unverschämten – an der Werbesprache orientierten – Missbrauch der Sprache der 10 Gebote für ganz andere Zwecke, finde ich das Ansinnen schon merkwürdig. Meinesgleichen? Bin ich hier auf einer Kontaktbörse oder am Stammtisch? Deinesgleichen ist im Alltagsgebrauch der deutschen Sprache ein extrem seltenes Wort, es wird in der Regel in Formeln wie „Dich und Deinesgleichen“ verwendet. Es gehört inzwischen zur Ausgrenzungssprache und zielt auf Konformität. Jedenfalls kann man mit den Kreisen von Evangelisch.de nicht nur Seinesgleichen finden, sondern auch mit Gleichgesinnten in Kontakt bleiben. Ich würde lieber mit Andersdenkenden kommunizieren und diskutieren, Gleichgesinnte gibt es auf dieser Welt schon genug, aber was soll’s. Wenn man all die Begriffe, die hier auf der ersten Seite der evangelischen Community Verwendung finden in ein Wortcluster zusammenfügt, ergibt sich eine überraschende Nähe zu Orden und Selbsthilfegruppen. Ich vermute, das ist nicht zufällig so.

Ich entschließe mich also, einmal „einfach auf Kreise (zu) gehen“ und klicke das Wort an: Schon wieder blafft mich ein Imperativ im Stil der 10 Gebote an: Du sollst Dich mitteilen! Na hoffentlich kommt kein Trappist bis hierhin. Und warum soll ich „mich“ mitteilen? Vielleicht will ich ja nur etwas mitteilen. Und sind wir uns selbst nicht so verrätselt, dass wir uns auf keinen Fall mitteilen können und schon gar nicht wollen? Aber hier klingt vielleicht noch ein Rest pietistischer Innerlichkeit nach: Geh in Dich und rede drüber.

Statt dessen bekomme ich erst einmal alle neuesten öffentlichen Diskussionsbeiträge aller vorhandenen Kreise auf den Bildschirm geknallt. Ernsthaft Leute, das will ich gar nicht! Es sind Fragmente aus ganz unterschiedlichen Gesprächszusammenhängen und selbstverständlich keine Brosamen für den zufälligen Surfer auf der Unterseite /community/kreise von evangelisch.de. Das ist so, als wenn Diskussionsbeiträge aus dem heimatlichen Männerkreis plötzlich im Gemeindehaus am Schwarzen Brett aushängen. Es macht die Beiträge beliebig und die Rede von den Kreisen lächerlich.

Ich klicke nun auf Öffentliche Kreise und dann auf „nach Größe sortieren“. Der größte Kreis ist sozusagen ein Zwangskreis, er umfasst die Neumitglieder (beinahe hätte ich geschrieben: die Neubekehrten). Die folgenden drei Kreise sind interne Kreise. Der fünfte Kreis beschäftigt sich mit der Bibel, hat 50 Mitglieder und enthält dreizehn Beiträge, die bis dato diskutiert wurden. Ich klicke mich durch die verschiedenen Kreise (ohne ihnen beitreten zu müssen, zu viel Verbindlichkeit schadet ja auch nur, während Voyeurismus evangelisch gefördert werden sollte). Die Vorstellung der Kreise erfolgt in Form von knappen Teasern, die mit dem, was dann in dem Kreis verhandelt wird, nichts mehr zu tun haben müssen – wie ich schnell erfahre.

Bei 90% der Kreise frage ich mich ernsthaft, was sie hier zu suchen haben. Das kennt man nun seit Jahren auf irgendwelchen Plattformen (wie z.B. jesus.de) und es wird durch Wiederholung nicht spannender. Nun kommen aber auf der bundesweiten Plattform www.evangelisch.de noch Kreise hinzu, die den Arbeitskreis Kirche und Ökologie in sagen wir einmal aus Hückelshofen repräsentieren. Hat so etwas nicht auf der Gemeindeseite Platz? Was soll das unter www.evangelisch.de? Es ist die Regionalisierung, die mich stört. Nichts gegen einen Kreis „Kirche und Ökologie“ in dem bundesweit Erfahrungen verschiedener Regionen zusammengetragen und erörtert werden. Aber hier hat bald jeder evangelische Kleintierzuchtverein seinen eigenen (Korn-)Kreis. Oder wie wäre es mit dem Kreis „Gott verherrlichen in Schwelm“? Glauben Sie nicht? Doch gibt es. Dabei ist die Kabod Gottes doch eigentlich unbestritten, er braucht gar nicht in einem Kornkreis „verherrlicht“ zu werden.

Ich greife unter allen Kornkreisangeboten einen heraus, in dessen Themenspektrum ich mich etwas auskenne und klicke auf den Kreis „Die besten Musikvideos aller Zeiten“. Da ich selbst einen Blog dazu betreibe, weiß ich, wie schwer es ist, hier einen öffentlichen Konsens über „die besten Musikvideos“ herzustellen. Gut, einiges sollte einleuchtend sein: Wenn Musikvideos drauf steht, sollten auch Musikvideos drin sein, d.h. es fallen allen Konzertmitschnitte oder Fernsehauftritte heraus. Zum zweiten sollte der Akzent auf den Musikvideos liegen, sonst hätte man diesen Kornkreis ja auch „Die besten Musikstücke aller Zeiten“  oder „Die beste Musik aller Zeiten“ nennen können. Und drittens sollte einem die Peinlichkeit erspart werden, dass nur zum Adjektiv „christlich“ passende Fundstücke präsentiert werden. Aber das wäre kein Kornkreis auf der Plattform www.evangelisch.de, wenn nicht alle drei Kriterien sofort außer Acht gelassen würden. Das erste, noch vom Programmierer und Begründer dieses Kreises eingetragene Fundstück ist? Na, raten Sie mal! ..... & ....: ..... ...... ........!

Richtig: Immer wieder sonntags, präsentiert als Fernsehaufzeichnung aus dem Jahr 1973! Ja geht’s noch? Zielgenau an jedem nur denkbaren Kriterium vorbei. Das ist weder ein Musikvideoclip, noch in irgendeiner Weise qualitativ gut, sondern nur peinlich, peinlich, peinlich. Und darf man vermuten, es wird hier nur platziert, weil es um den zu heiligenden Sonntag geht? Wir sind schließlich bei der Kirche! Dabei geht es hier allenfalls um griechisch-orthodoxe Lieder, denn „Jeden Sonntag kamen sie herüber, Unsre Musikanten aus Athen.“

Wäre dies ein gebildeter Arbeitskreis (und kein protestantischer Kornkreis), dann könnte der erste Musikvideoclip eine Referenz auf die Geschichte dieses Genres sein und „Video killed the Radio-Star“ von den Buggles vorstellen, jener Clip, mit dem der Musikkanal MTV seinerzeit stilgerecht sein Fernsehprogramm eröffnete. Das war sicher kein besonders guter Clip, aber doch historisch bedeutungsvoll.

Oder man eröffnet – ebenso aus zeithistorischem Anlass – mit „Can you feel it / Triumph“ von den Jackson 5, ein ausgezeichnetes Musikvideo, von dem damals die ganze Welt sprach und das bis heute seine Brisanz behalten hat, weil es sich um die angesonnene Vergöttlichung des Menschen dreht. Aber diese Erwartung, man stieße auf qualitativ ausgezeichnete Videoclips, steht unter dem Vorbehalt des Konjunktivus irrealis.

Niemand hätte von einem Kornkreis Vernunft, Geschmack und Bildung erwartet. Wo kämen wir dahin? Tatsächlich passen Cindy & Bert zur Konkreis-Cerealogie. Aber da hätte ich dann noch weitere Vorschläge, die das religiöse Gefühl noch treffender zurichten: Wie wäre es mit dem Stück „Ich schwör“ der Kastelruther Spatzen, ein echtes Musikvideo von Wolfgang Moik in Heideggerischer Machart, für Kornkreise geradezu prädestiniert.

Oder Mara Kaysers legendärer paulinischer Resteverwertungssong „Glaube, Liebe, Hoffnung“ aus ihrem (ganz nach Mao benannten) Album „Lasst alle Blumen blühen“. Alternativ ihr Song „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“, ein Gassenhauer fürs Gemüt. Auch so etwas ist immer wieder willkommen. Gibt es noch keine Musikvideoclips zu Paul Gerhardt? Dafür gäb’ es sicher einen Kulturpreis der EKD aus den Händen der Kulturbeauftragten! Wenn man die Selbstghettoisierung des Religiösen nachvollziehen will, dann kann man das hier tun.

Was mich an diesem Kornkreis stört, ist weniger, dass er sich nostalgisch in irgendwelchen Schlagerreminiszenzen der Vergangenheit suhlt, sondern, dass er es unter falschem Etikett tut. ‚Pictura loquitur’ meinen sie und eigentlich wollen sie auf das ‚ut populus ad ecclesiam trahatur'’ hinaus. Und auch darüber würde ich mich weniger aufregen, wenn ich dahinter nicht eine bestimmte Methode vermuten würde. So soll alles auf ein Niveau herunter gebrochen werden, es soll keinen Unterschied mehr zwischen dem Qualitativen und dem Schund geben. Volkstümlich möchte man sein und zerstört zugleich die Möglichkeit, zwischen Volkskultur, Kultur und Schund unterscheiden zu können.

Sicher gibt es hier auch sinnvolle Kreise, die dem Austausch und der ernsthaften Themenbearbeitung dienen. Aber das ist eher die Ausnahme. Denn grundsätzlich stellt sich ja die Frage, warum Menschen überhaupt sich selbst in aller Öffentlichkeit mitteilen sollten, statt in einen gemeindeeigenen Gesprächskreis zu gehen. Da können sie ja gleich eine nachmittägliche Fernseh-Talk-Runde besuchen. Und so sinnvoll wie das Gespräch mit Vera sind entsprechende Kreise dann auch. Mit Community im Sinne des Internet gestützten sozialen Netzwerks hat das wenig zu tun. Oder man entleert das Wort sozial und Netzwerk aller semantischen Gehalte.

Vielleicht geht es im Kern gar nicht darum, den Menschen ein Gesprächsangebot in einem evangelischen (Korn-)Kreis zu machen. Vielleicht geht es nur darum, etablierten und konkurrierenden Systemen wie jesus.de das Wasser abzugraben und sie platt zu machen. Dazu lässt sich nur so viel sagen, dass man damit immer auch einen Teil der Ideologie aufnimmt. Schon jetzt lässt sich am Erscheinungsbild von evangelisch.de der Preis dafür erkennen. Die funktionalen Analphabeten, bestimmte religiöse Menschen, in Wirklichkeit aber durch und durch religiös Unmusikalische finden hier ihre würdige Plattform.

Ich greife noch einmal einen anderen Kornkreis heraus, dieses Mal den von der Redaktion geführten Kreis „Stilvoll glauben“. Gut katholisch gibt es hier einen geschlossenen Priesterkreis des leitenden Teams und einen offenen Laienkreis, indem diese ihre Anregungen, Anmerkungen zum Blog „Stilvoll glauben“ loswerden können. Nun kann sich jeder einmal überlegen, was er unter „Stilvoll glauben“ im Rahmen des Protestantismus versteht. Von Dietrich Korsch gibt es ein einschlägiges Buch „Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende“. Und was präsentiert das virtuelle Gesicht der EKD? In der Ankündigung dieses Kornkreises heißt es noch: „Ihr könnt euch nicht vorstellen, um was es gehen soll? Na dann denkt doch einfach mal an... zuckersüßen Abendmahlswein, Euer Konfirmations-Outfit, so manch einen Liedtext, Teppiche in Gemeindehäusern, selbstgestaltete Kerzen, Gottesdienst-Plakate oder oder oder. Klar, was wir meinen? Hier im Kreis "Stilvoll glauben" sammeln wir all Eure Anregungen und diskutieren, wie stilvoll Glaube sein kann, darf, muss - und was Stil überhaupt ist.“ Wenn’s denn wenigstens das wäre. Aber de facto gibt es dann z.B. die „Gebote der Gestaltung“ von …. Na was wohl: Flyern!! Und da findet man dann so stilvolle Hinweise, wie man möge die Schriftart passend zum Thema auswählen (Stencil am Totensonntag, Bayreuth für das Multikulturfestival, usw.) Ich fasse es nicht.

Mit dem „Evangelisch“-Sein, also einem mit Vernunft und Bildung ausgestattetem Protestantismus hat das Ganze kaum etwas zu tun. Um so mehr mit dem Phänomen der Kornkreise. Diese sind gezielte Versuche, Aufmerksamkeit zu erregen und Publikum anzulocken. Sie basieren aber letztlich auf dessen Verachtung, weil man die Menschen nur als zu manipulierende, als zu überredende und nicht zu überzeugende Wesen wahrnimmt – was ja bei den Kornkreisen auch nicht schlecht gelaufen ist.

Evangelisch.de und insbesondere die Kreise sollen dazu dienen, sich mit der EKD zu identifizieren, sie sollen etwas vom Vertrauten aus dem regionalen Bereich auf die globale Ebene übertragen. Das wird nicht gelingen. Diejenigen, die so schon mit der EKD verbunden sind, bekommen in neues Spielfeld, diejenigen, die es aus guten Gründen nicht sind, werden so sicher nicht überzeugt. Schon jetzt besteht ein guter Teil der Beiträge von immer denselben, die zum Teil direkt in die Plattform involviert sind. Da es sich aber um das virtuelle Gesicht der EKD handelt, bekommt man den fatalen Eindruck, so sei der Protestantismus. Ist er aber nicht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/62/am298.htm
© Andreas Mertin, 2009