Leerstellen des Authentischen

Streifzug durch produktive Widersprüche in Filmen mit historischer Ikonographie

Hans Gerhold

I

Wer von Waffen, Gewalt und Raub lebt,
wird kaum in seinem Bett sterben.

Jacques Mesrine

Die Geschichte über allen Geschichten hat keine objektive Realität, weil Historiker als Konstrukteure geschichtlichen Wissens selbst die erzählenden Subjekte sind, die Aussage und Sachverhalt bestimmen. Die Gegenstände der besonderen menschlichen Erfahrungswelt, um die es im Folgenden geht, lassen sich nicht in Einheits- und Ganzheitsstrukturen pressen, weil die jeweils verschiedenen Einzelaspekte historischer Situationen nur in Verweisen bestimmbar sind. Das spezifisch Geschichtliche liegt in der Partikularität des erzählten Gegenstandes, im Erzählen von ausgewählten Ereignissen.

Spielfilme mit historischer Ikonographie als Umsetzungen von besonderem vergangenem menschlichem Geschehen sind dann ideale Vermittler, wenn sie Glaubwürdigkeit, künstlerische Qualität, erzählerische Konsequenz und visuelle Augenscheinlichkeit besitzen. Als Medien mit Erzählcharakter schaffen sie aus der Beziehung zwischen Beschreibung (Schilderungen von Details) und Erzählung (Handlungsführung und Handlungslinien) Wissen beim Rezipienten über eine bestimmte Vergangenheit. Dieses Wissen kann durch historische Recherche und Analyse vertieft werden, wenn die in Filmen steckenden Informationen spezifisch, authentisch und überprüfbar sind.

Spannender und für die Wirkung von Filmen ergiebiger als diese auf Faktizität und Authentizität bezogene Methode sind jene Leerstellen in Filmen, die sich der Erklärung widersetzen und ihre eigene Logik besitzen. Gemeint sind Sequenzen, die nicht per Dialog und Kommentar aussageorientiert erläutert und zementiert werden, sondern in denen das Verhalten der Protagonisten in Zielgerichtetheit und Zugriff, ebenso zum Ausdruck kommt wie in Zaudern und Zweifel. Es geht um Widersprüche menschlichen Verhaltens, bei gleichzeitiger glaubwürdiger Repräsentierung der jeweiligen Zeit. An dem, was der Film und die handelnden Personen nicht erklären, sondern was einzig und allein im Handeln und Verhalten der Personen sichtbar wird, lässt sich das Vermögen des Films ablesen, Widersprüche zuzulassen und sie einem produktiven Diskurs zuzuführen.

Das geht bei Filmen mit historischer Ikonographie einher mit der visuellen Gestaltung mittels sorgfältiger originalgetreuer Nachstellung. Unabhängig davon, ob der Rezipient fähig ist, mögliche "Fehler" bei Objekten wie Kleidung, Waffen und Alltagsgegenständen festzustellen, ist die Fixierung auf authentische Umwelt und Ambiente eine Bedingung filmischer Rekonstruktionsarbeit. Das ist kein Widerspruch zum Widerspruch, vielmehr können sich erst in der ikonographisch korrekten Kulisse und Atmosphäre die besonderen Bedingungen entfalten, derer es bedarf, um Geschichte fassbar zu machen. Die Spannung ergibt sich dann auf der Ebene des Verhältnisses von Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion. Womit der entscheidende dritte Faktor ins Spiel kommt: der Mensch bzw. die Schauspieler.

Durch Schauspieler wird die Empathie von Rezipienten in Bezug auf historische Situationen vergrößert. Der reale Schauspieler, der in eine andere Identität schlüpft, reibt sich permanent mit der realen historischen Person, die er verkörpert und vermittelt und erzeugt auf diese Weise Spannung in Verhalten, Handeln und Motivation. Ist es dem Schauspieler möglich, seine Verhaltensweise nicht allein in Worte zu kleiden, sondern in Mimik, Gestik und Körpersprache umzusetzen, schafft er die gewünschten Bedingungen. Sie führen über die äußeren Zeichen der Ähnlichkeit hinaus und schaffen die Reibungsflächen, die in Alltagserfahrung und Gefühlskosmos von realer historischer Person des sie verkörpernden Schauspielers und des eigenerfahrenen Rezipienten ein Möbiusband schöpferischer Widersprüche ergeben.

II

Nur die Knarre löst die Starre.
Andreas Baader

Im Folgenden sollen einige Spielfilme der Saison 2008/09 und ein Spielfilm von 2004, die sich mit realen historischen Personen und Situationen befassen, in Hinsicht auf Möglichkeiten der Auseinandersetzung durch Leerstellen des Authentischen diskutiert werden. Es handelt sich um:

  1. Der Baader Meinhof Komplex (Dt. 2008, Regie: Uli Edel);
  2. den Zweiteiler: Mesrine: L'instinct de mort (Public Enemy No. 1 – Mordinstinkt) und  Mesrine: L'ennemi public n°1 (Public Enemy No.1 – Todestrieb) (Frankreich/Kanada 2008; Regie: Jean-Francois Richet);
  3. Public Enemies (USA 2009, Regie: Michael Mann);
  4. den Zweiteiler:  Che – Part 1: The Argentine (Che – Teil 1: Revolución) und  Che – Part 2: Guerilla (Che – Teil 2: Guerilla)  (Frankreich/Spanien/USA 2008; Regie: Steven Soderbergh);
  5. sowie den in den Zusammenhang gehörenden: The Motorcycle Diaries (Die Reise des jungen Che) (USA/Deutschland/Argentinien/Großbritannien 2004; Regie: Walter Salles).

(Im Folgenden werden die Filme, vor allem, um bei den Gangsterfilmen Verwechslungen zu vermeiden, als "Der Baader Meinhof Komplex" (1), "Mesrine" (2), "Public Enemies" (3), "Che" (4) und "Reise" (5) bezeichnet.)

Foto: Helmut Marrat, Autor

Dem gleichnamigen Standardwerk zur RAF-Geschichte von Stefan Aust folgend, unternimmt die Bernd-Eichinger-Produktion "Der Baader Meinhof Komplex" den Versuch, mittels Nutzung von über die Jahrzehnte gesammelten Dokumenten verschiedenster Art in Denkweisen und Verhaltensmuster von RAF-Hauptakteuren einzutauchen. Im Gegensatz zu Doku-Fiction-Produktionen, die den dokumentarischen Rahmen mit anschaulichen Spielszenen garnieren, geht "Der Baader Meinhof Komplex" als komplett fiktionale Spielhandlung vor. Der Film inszeniert auf Faktenbasis überlieferte Situationen und setzt auf die Kraft des Fiktionalen, das Inszenierte als authentisch wirken zu lassen.

In diesem Sinne werden, circa einem Jahrzehnt deutscher Geschichte folgend, Demonstrationen, Polizeieinsätze, der Tod von Benno Ohnesorg, der Anschlag auf Rudi Dutschke, Banküberfälle, Entführungen, Morde, Besprechungen im BKA, die Festnahme von Andreas Baader, Prozess und Haftbedingungen in Stammheim, die Selbstmorde und das Begräbnis von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sowie, als Schlusspunkt, der Mord an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer inszeniert.

Diese Szenen entsprechen im Gesamtzusammenhang des Films der literarischen Figur der Synekdoche, d.h., die einzelne Szene steht für den umfassenderen Komplex der Denkmuster und Handlungsweise der RAF. Der Realitätseffekt der Szenen wird, neben der Genauigkeit in Kostüm und Kulisse, vor allem dadurch erreicht, dass die Kamera als Augenzeuge genutzt wird. Die Kamera reflektiert die die Personen umgebende Umwelt, wird zum eigentlichen Erzähler des Films. Indem sie aufnimmt, was sich vor ihr abspielt, präsentiert sie Aspekte der nachgestellten Realität und erhebt gleichzeitig den Anspruch der Allgemeingültigkeit. Jede Szene steht für etwas, schafft erzählerischen Mehrwert.

Was den Film rezeptionsästhetisch reizvoll macht und die Bedingungen der produktiven Leerstellen erfüllt, ist sein bewusster Verzicht auf eine erzählerische Perspektive. Der Film kommt ohne jeglichen Kommentar aus, es gibt keinen übergeordneten Erzähler, der in eine bestimmte vorgegebene Richtung lenkt. Der Film ist auch nicht aus der Perspektive einer einzelnen Person (etwa Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin) aufgenommen, deren subjektive Sichtweise bestimmte Deutungen nahe legen würde. Er ist eine Chronik der laufenden Ereignisse, bei der die Akzentsetzung in der Wahl der filmischen Mittel liegt.

Einige Szenen, die Widersprüche der RAF reflektieren, weisen in Besonderheit auf die wirkungsvolle Methode der Kombination von Chronik und Erzählung hin. Die nächtlichen Fahrten von Baader und Ensslin in gestohlenen Autos und das "Abknallen" von Verkehrsschildern ("Nur die Knarre löst die Starre") stehen kaum fürs Politverständnis der RAF, machen aber das Rebellische, Aufsässige, Jugendliche, Antiautoritäre und Spontane ihres wie immer bewerteten Aktionismus deutlich. Der Diebstahl des Portemonnaies einer Touristin in Rom, in den Baader den Anwalt Horst Mahler drängt, gehört als Mutprobe dazu, wie die Panikreaktion von Petra Schelm, die in eine Polizeikontrolle gerät und getötet wird.

Die ständige Präsenz von Waffen, Gewalt, Bedrohung und Kampf gegen den Staat, wird durch diese Szenen dosierter Komik inmitten der Action-Thriller-Dramaturgie des Films zum Zeichen der Dynamik, der der Film folgt. Ständige Streitereien innerhalb der Gruppe gehören in diesen Zusammenhang. Ebenso die Szene, in der Baader seine Geliebte Ensslin im Bad mit einem Heimzögling überrascht und, statt repressive bürgerliche Ignoranz zu demonstrieren, nicht eifersüchtig reagiert, sondern mit Witz. Dass der Jüngling trotzdem die Wanne verlässt, als Baader erscheint, gehört zur Gruppendynamik des Platzhirsches. Baader ist auch der, der die schärfste sarkastische Kritik am bourgeoisen Verhalten der Genossen formuliert, andererseits von Ensslin gelenkt wird, ohne dass er das (zumindest anfangs) begreift.

Wer über "Der Baader Meinhof Komplex" nachdenkt und schreibt, wird ständig auf diese immanenten gewollten Widersprüche des Films stoßen. Sie und die sich daraus ergebenden Leerstellen ergeben, in Kombination mit den gewählten filmischen Mitteln, die Besonderheit des Film.

III

Will er (d.i. Justizminister Peyrefitte) Rote Brigaden in Frankreich?
Baader Meinhof? Wenn er das will, gut, das kriegen wir hin.

Jacques Mesrine

Forderte die RAF die Bundesrepubik Deutschland heraus, so ein Einzelgänger in Frankreich eine ganze Nation. Die Aktionen von Schwerverbrecher und Staatsfeind Nr. 1 Jacques Mesrine (1936-1979), der von Teilen der Bevölkerung als Held verehrt wurde und noch heute populär ist, wurden in der zweiteiligen Filmversion "Mesrine" in Frankreich (wie bei uns "Der Baader Meinhof Komplex") ein immenser Publikumserfolg und mit dem nationalen Filmpreis "César" (u.a. für Hauptdarsteller Vincent Cassel) ausgezeichnet. "Mesrine" liefert eine weitere Facette produktiver Widersprüche. Da Mesrine hierzulande fast unbekannt ist, vor der Diskussion eine Bionotiz.

Algerienkämpfer Mesrine findet nach der Heimkehr keinen Anschluss, übernimmt Mordaufträge für die OAS und Überfälle, setzt sich nach Kanada ab, wo ihm ein spektakulärer Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis gelingt. Ein tollkühner Sturmangriff auf das Gefängnis scheitert. Aus Kanada zurück, ist der von Polizei und Justiz Kanadas und Frankreichs zum "Staatsfeind Nr. 1" erklärte Mesrine lebende Legende und Stoff für Medien, denen er bereitwillig Interviews gibt. Er überfällt Banken, auch mal zwei direkt hintereinander, und wird berühmt durch spektakuläre Gefängnisausbrüche - selbst aus dem Gerichtssaal. Im Gefängnis verfasst er seine Autobiographie "Todestrieb" (1976), die zum Bestseller wird, sich mit den unhaltbaren Zuständen in Haftanstalten befasst und Teil seines Kreuzzugs gegen die Justiz wird ("Im Hochsicherheitstrakt mordet die Gesellschaft."). Mesrine ist Gangster und Pop-Held, sieht sich als Rebell und schließt sich den Linken an, die ihn wegen seiner Eigenwilligkeit ablehnen. Am 2. November 1979 ist es soweit: Mesrine wird in Paris an der Porte de Clignancourt in eine Falle gelockt und von der Polizei auf offener Straße hingerichtet.

Mesrine wäre nur ein gewöhnlicher Verbrecher, gäbe es die Zuschreibung als Staatsfeind Nr. 1 nicht. Dadurch bekommt der Gangster, der sich über das Gesetz stellt, eine andere Dimension. Mesrine rührte an das Gewaltmonopol des Staates und forderte ihn heraus. Dass Mesrine als Ausbrecherkönig, Superstar in Verkleidungen und in aller Öffentlichkeit als Medienliebling und als radikalster Gegner der Hochsicherheitstrakte agierte, brachte ihm Sympathien ein. Dass er sich gefährlich hoch über das Schicksal stellte, beschleunigte einerseits seinen Fall, machte ihn aber auch zum Mythos. Ein Mythos ist qua Definition nicht erklärbar, einmal entstanden, ist er so wie er ist und widersetzt sich psychologischen und sozialen Deutungsversuchen.

Der Film hat damit kein Problem, er behandelt Mesrine als charismatischen Dunkelmann, belässt es bei der Beobachtung seines Handelns und Wirkens und ist wie "Der Baader Meinhof Komplex" und der hier nicht behandelte italienische Film "Gomorrha" (der die Machtstrukturen der Mafia von Neapel untersucht) Zeugnis eines neuen Kinos, das realistisch abbildet, konstatiert und nicht wertet. Geschichte wird in dem Sinn, wie in diesem Aufsatz postuliert, als Ereigniskette begriffen. So gibt es zwar eine Szene, die zeigt, wie Mesrine im Algerienkrieg in einen Befehlsnotstand gerät, den er durch Gewalt löst. Dieses Ereignis als Auslöser von Mesrines verbrecherischer Gewalt zu deuten, wird vom Film jedoch negiert.

Das ist insofern konsequent, als "Mesrine" die Karriere des Starverbrechers durch Zeiten, Länder und Tatorte verfolgt, eine Kette spektakulärer Überfälle, Entführungen, Morde und Ausbrüche. Mesrine wird als unberechenbare, unkontrollierbare, nicht zu bändigende und selbst unter der Folter nicht zu brechende gefährliche Persönlichkeit gezeigt, der mit Motiven nicht beizukommen ist. Wenn sich Mesrine mit all seiner Hybris überhaupt definieren lässt, dann durch seine Taten. Wenn er eine Entwicklung zeigt, dann die des argen Wegs der Erkenntnis durch Entscheidungszwänge. Dabei sei wiederholt: Zum Mythos konnte Mesrine nur werden, weil er sich mit dem Schicksal und damit der Geschichte selbst anlegte.

Diese Selbstermächtigung, die Herausforderung durch die Umstände und ihre Bewältigung, mag zur Faszination beigetragen haben, die Mesrine in Frankreich zum Mythos machten. Es erklärt die Faszination, die Mesrine, Baader, Che Guevara oder John Dillinger beim heutigen Publikum genießen.

Ähnlich wie bei Mesrine (deshalb kürzer behandelt) liegt der Fall bei Gangster und Bankräuber John Dillinger, dessen letzte dreizehn Monate bis zu seinem Tod im Jahr 1934 beim Verlassen eines Kinos in "Public Enemies" geschildert werden. Der Mann, der die Banken bluten ließ, war im Amerika der Depressionszeit ein Volksheld. Was Regisseur Michael Mann interessiert, ist nicht das Psychogramm eines Gangsters und Gentleman, es ist die Rolle des Rebellen im Strukturwandel der organisierten Kriminalität. Dillinger passt sich nicht an, ist als Individualist Reizfigur für die Syndikate, die sich der neuen Kommunikationsmittel des Telefons im Wettgeschäft bedienen, mit dem sie mehr Dollars scheffeln als Dillinger beim Banküberfall. Das Telefon läutet auf der anderen Seite des Gesetzes die Ära der Überwachung durch das FBI ein.

Gangsterfilme sind, wie Mesrine gezeigt hat, Filme um Mythen, um tragische Helden mit spuckenden Maschinenpistolen. In "Public Enemies" wird in einer Zentralszene der hier diskutierte Widerspruch aufgelöst: Der kaum verkleidete Dillinger (Johnny Depp) gelangt aus einer Laune heraus und ohne Mühe in das Büro der FBI-Leute in Chicago, wo sich niemand befindet, weil die Beamten sich in der Umgebung des Kinos befinden, wo man ihm auflauern kann, weil er verraten wurde. Im Büro geht Dillinger sanft lächelnd langsam an der riesigen Spickwand vorbei, wo Fotos, Zeitungsausschnitte, Notizzettel und andere Dokumente seine Karriere nachzeichnen und er sich sozusagen von Angesicht zu Angesicht im Lauf der Zeit gegenübersteht.

"Public Enemies" ist wie "Mesrine" und "Baader Meinhof Komplex" akribisch um historische Detailtreue bemüht. Regisseur Michael Mann: "Mir ging es darum, die Gegenwart des 27. März 1934 so genau wie möglich zu simulieren...Tapeten, Autos, Zeitungskioske, Müll im Papierkorb. Wenn Dillinger mit dem Wagen an acht Geschäften vorbeifährt, dann sind die Schaufenster mit einer Unmenge an historisch korrekter Details ausgestattet. Ich wollte, dass die Zuschauer, wenn sie aus dem Film kommen, das Gefühl haben, das Jahr 1934 genauso detailliert wahrgenommen zu haben, wie die Gegenwart, die sie gerade auf der Straße vor dem Kino erleben."

IV

Die Revolution ist keine Abendgesellschaft, kein literarisches Kunstwerk,
kein Gemälde und keine Stickerei. Sie kann nicht so vornehm sei, so gelassen
und maßvoll, sie ist weder wohlausgewogen noch milde, sie ist nicht freundlich,
ehrerbietig, mäßig und nachgiebig. Die Revolution ist ein Akt der Gewalt.
Mao Tse-tung

"Che" ist Steven Soderberghs zweiteiliges Epos um Ernesto "Che" Guevara (1928-1967) und teils enzyklopädische Nachzeichnung von Ches Leben. Der als Spiegelwerk angelegte Film berichtet vom Gelingen des Guerillakriegs auf Kuba (Teil 1) und vom Scheitern der Revolution in Bolivien (Teil 2). Teils Actionkino in üppigen Breitwandbildern und im zweiten Teil ein Thriller der Desorientierung eines Mannes, der sich im Dschungel Kubas fand und im Dschungel Boliviens wieder verlor, gehört "Che" zu den Filmen, die als Hagiographie auf eine beinahe bedingungslose Würdigung ihres Protagonisten bedacht sind.

Ches Entwicklung vom argentischen Mediziner zum Truppenarzt und Strategen, der sich 1954 Fidel Castro anschloss, 1956 auf Kuba landete und am 1. Januar 1959 siegreich in Havanna einzog, steht im zweiten Teil das bolivianische Abenteuer gegenüber, das als Chronik des Scheiterns das bittere Ende Ches verfolgt, der mit lächerlich wenig Männern und ohne Rückhalt in der Bevölkerung agiert. Rückhalt aber, das wussten Revolutionstheoretiker von Mao Tse-Tung bis Ho Chi-Minh, ist die Voraussetzung für erfolgreichen Guerillakrieg.

Also stolpern die zerlumpten Genossen durch Dschungel und Dickicht, waten durch Flüsse und überqueren karstiges Hochland, bis sie von der bolivianischen Armee aufgerieben werden. Wie "Der Baader Meinhof Komplex", ist der Film nicht an der Dekonstruktion des Mythos interessiert, schafft vielmehr, den "Mesrine"-Filmen und "Public Enemies" ähnlich, verblüffende Ergebnisse in der ikonografischen Rekonstruktion, die über die bekannten Originalaufnahmen hinausgehen und ihre eigene Wertigkeit schaffen. Sie lösen sich von den Vorbildern und gewinnen eine fiktionale Authentizität, die ihre immanenten Widersprüche zur Schau und zur Diskussion stellt.

Das Konzept Soderberghs geht auf, weil Hauptdarsteller und Co-Produzent Benicio del Toro (wie Vincent Cassel und Johnny Depp) es nicht nötig haben zu erklären. Che ist und handelt. Del Toro widersetzt sich in seinem bewusst anti-psychologischen Spiel wohlfeilen Deutungen. Er bleibt so eng wie möglich an Che, zeichnet ihn aber weder als Held mit Schattenseiten, noch gibt er Einblick ins Privatleben. Soderbergh hat den Ansatz als "Hanging Out With Che" bezeichnet.

Jeder, der die Erklärung des Mythos oder die Dekonstruktion des Revolutionärs erwartet, greift daneben. Denn – zum wiederholten Mal – ein Mythos lässt sich nicht erklären, und dass Che noch heute in aller Welt von der Jugend geliebt wird, lässt sich nicht kulturkritisch gefällig reflektieren. Es ist so und hat mit Aufbruch und Rebellion der jungen Generation zu tun. Wer wissen will, warum Che Revolutionär wurde, der findet in Walter Salles' "Die Reise des jungen Che" die entsprechenden Begründungszusammenhänge.

Sie werden nicht vorgetragen, beredet und wortschweifig analysiert, sondern in Bildern vorgestellt. Wie "Che", der auf dem Kubanischen Tagebuch (1956-59) und dem Bolivianischen Tagebuch (1967) von Guevara basiert, greift Salles auf ein Tagebuch Ches zurück, die "Diarios de Motocicleta". Im Jahr 1952 reisten der Medizinstudent Ernesto Guevara und sein bester Freund Alberto Granada von Argentinien aus mit einem klapprigen Motorrad nach Norden durch den lateinamerikanischen Kontinent. Am Ende der Reise – das Motorrad hatten sie lange vorher verloren – landeten sie in Venzuela und waren andere Menschen. Aus abenteuerlustigen Studenten waren Männer mit Sozialblick geworden.

Land und Leuten auf der Spur, ist der an Originalschauplätzen gedrehte Film, der akribisch den Stationen der legendären Reise folgt, selbst ein Tagebuch. Es wechselt spannungsvoll die Tonarten, erzählt von Lebenserkenntnis und Reifeprozessen, ohne dass es dialogisiert werden müsste, und ist so spontan, leidenschaftlich, träumerisch, poetisch, unbestechlich, humorvoll, witzig und so widersprüchlich wie die Wirklichkeit, wie Geschichte und wie Film.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/61/hg1.htm
© Hans Gerhold, 2009