Zur aktuellen Ikonographie des Religiösen

Eine Bildexegese

Andreas Mertin

Auf dem Ende September 2009 zu Ende gegangenen Zukunftskongress der EKD konnte der an der Ikonographie der öffentlichen Repräsentation des Religiösen Interessierte zahlreiche Beobachtungen machen. Wie kommuniziert man visuell die Zukunft des Religiösen? Oder doch wenigstens den Bestand einer religiösen Institution? Welche Bilder, welche diese Bilder kommentierenden Sätze fallen einem ein? Nicht mehr als ein Mentalitätswandel des Protestantismus war ja anvisiert und ein solcher muss sich ja auch mit entsprechenden Bildern abzeichnen – sofern man nicht einfach die Corporate Identity einer anderen Institution (wie der Wirtschaft, der Politik oder des Katholizismus) übernimmt.

Der Protestantismus hat immer derartige „starke“ Bilder besessen, die in nuce das repräsentieren, was Evangelisch-Sein ausmacht. Denken wir etwa an das berühmte Altarbild in der Weimarer Stadtkirche, von Lukas Cranach begonnen und seinen Söhnen und seiner Werkstatt fertig gestellt. Hier wird das klassische Thema des Blutstrahls der Gnade bildtheologisch aufgenommen und im Sinne der protestantischen Rechtfertigungslehre interpretiert. Wenn mich jemand fragt, was protestantische Bilder seien, verweise ich ihn zunächst an dieses Bild.

Weitere wirkungsmächtige Bilder in der Geschichte des Protestantismus wären sicher das Kreuz im Gebirge von Caspar David Friedrich, das bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts evangelische Haushalte zierte. Auch Bertel Thorvaldsens etwas zu freundlich geratene Christusstatue in der Frauenkirche in Oslo gehört sicher dazu.   

Heute steht uns diese Bildersprache nicht mehr zur Verfügung, weil sie sich historisch überholt hat. Kunst ist nicht mehr Kunst im Sinn der Darstellung von etwas (auch wenn innerkirchlich immer noch so getan wird als ob), sondern ist selbstreferentiell geworden. Nun kann man die weiterhin vorhandene Kunst nur noch protestantisch deuten, wie dies etwa Paul Tillich mit Picassos Guernica gemacht hat – aber das bleibt immer ein unsicheres und vor allem kontroverses Unterfangen. Ebenso gut könnte man Marcel Duchamps Urinoir oder viele Arbeiten von Anselm Kiefer als evangelisch bezeichnen.

Statt dessen müssen heute Momentbilder herhalten, digitale Repräsentanzen eines Augenblicks im wahrsten Sinne, die den Geist der Zeit punktgenau erfassen. Ein solches Bild für den Protestantismus der Jetztzeit ist vielleicht das Folgende:

Es zeigt Bischof Wolfgang Huber bei der Eröffnungsrede zum Zukunftskongress der EKD, wurde von dpa verbreitet und – was viel wichtiger ist – von der EKD-Plattform www.evangelisch.de zum zentralen Blickfänger gemacht. Hier redet der Ratsvorsitzende der EKD über die Zukunft seiner Institution. Die Inszenierung des Bildes ist uns in mehrfacher Hinsicht merkwürdig vertraut. Zum einen kennen wir diese Inszenierungen von Pop-Stars, die auf der Bühne agieren, während sie für die Masse der Konzertbesucher auf Riesenleinwänden im Blow-Up gezeigt werden. Wir kennen es auch von Parteitagen, wenn Politiker reden und mediengerecht ihr Konterfei im Hintergrund flimmert. Und wir kennen es von den massenmedialen Evangelisationen der Evangelikalen diesseits und jenseits des Atlantiks. All jene, die über mediale Strategien Personen – und nicht etwa Sachen oder Inhalte – verkaufen bzw. vermitteln wollen, bedienen sich dieser Form der Inszenierung. Ob es sich dabei um Pop-Stars, Politiker oder Kirchenfunktionäre handelt, ist dabei gleichgültig, aber keinesfalls gleich gültig. Denn Pop-Stars sind Inkarnationen der medialen Spiegelungen ihrer Zeit und ihr Pop-Star sein erweist sich daran, dass diese Inszenierungen bei ihnen funktionieren. Politiker imitieren Pop-Stars in der Inszenierung, aber ihr Erfolg misst sich am Handlungsimpuls, den sie in Gang setzen (Wahlen z.B.). Kirchenfunktionäre imitieren Politiker, aber woran misst sich ihr Erfolg?

Nun bezieht sich die merkwürdige Vertrautheit des Bildes aber nicht nur auf die Inszenierungsstrategie, sondern auch auf die ikonographische Figur, die wir sehen. Die Kamera hat einen jener Momente erfasst und die evangelische Redaktion hat diesen Moment als repräsentativ ausgewählt und verbreitet, in denen der Ratsvorsitzende der EKD in der antiken Haltung des Oranten vor dem Publikum steht. Man mag das für zufällig halten, aber diese Körperhaltung nehmen wir nicht einfach so ein, es ist eine durch und durch inszenierte Haltung, es ist eine ebenso rhetorische wie liturgische Haltung, die man in entsprechenden Kursen antrainiert bekommt. „Die Orantenhaltung ist eine allgemein verbreitete Körperhaltung beim Gebet … Heute nehmen ostkirchliche wie römisch-katholische Priester und lutherische Pfarrer der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche diese Haltung immer ein, wenn sie als Vorsteher der liturgischen Versammlung ein Gebet, z. B. das eucharistische Hochgebet, sprechen“ schreibt die Wikipedia in ihrem Artikel zur Orantenhaltung.

Die Oranten finden wir in der frühchristlichen Sepulkralkunst unter Aufnahme der antiken Gebetshaltung. Sie verschwinden aus der christlichen Kunst in dem Maße, in dem diese sich von der antiken Kunst löst, sieht man einmal von der Maria orans in der byzantinischen Kunst ab.

Nun tritt aber zur Ikonographie des Oranten noch eine Spiegelsituation hinzu. Wir sehen nicht nur Bischof Huber bei seiner Rede, sondern wir sehen ihn zugleich auch bei der medialen Spiegelung seiner Rede. Aus der Perspektive des Fotografen bzw. Betrachters sieht es so aus, als wenn sich Huber in Überlebensgröße selbst beim Reden zusieht oder mit sich selbst im Dialog steht. In der mittelalterlichen Bildmetaphysik, mit der wir alle noch sozialisiert worden sind, stehen die übergroßen Figuren für bedeutende, göttliche, über den Alltag hinauswachsende Figuren. Popstars und Politiker bedienen sich dieser uns immer noch vertrauten Bildmetaphysik des Raumes.

Zugleich enthält diese Spiegelung mehr Bildinformationen als das, was wir bisher gesehen haben, denn sie zeigt uns, dass rechts neben Huber noch irgendwelche Pflanzen drapiert worden sind und dass der Hintergrund explizit mediengerecht unifarben (um nicht zu sagen uniform) aufbereitet wurde.

Noch etwas zeigt das Bild: die Rede Hubers hat reale Adressaten, die irgendwo unterhalb des Rednerpultes platziert sein müssen, es handelt sich nicht um eine Fernsehansprache und auch nicht um eine Podiumsdiskussion. Aber wir sehen die Adressaten nicht. Auch auf den anderen Fotos, die zur Rede verbreitet wurde, sind sie nicht ersichtlich.  

Man kann nun die verschiedenen Fotos der Veranstaltung, die über evangelisch.de, idea oder epd verbreitet, d.h. aus dem vorhandenen Bildangebot der verschiedenen Agenturen ausgewählt wurden, durchgehen und wird immer wieder und beileibe nicht nur bei der Person von Huber auf analoge Inszenierungen stoßen. Das Bild des Protestantismus im Sinne einer am Zeitgeist orientierten Augenblicksaufnahme im September 2009 ist an Personen orientiert, dabei stark hierarchisch ausgerichtet und zeigt vor allem nicht die Adressaten und nichts von dem, worum es im sachlichen Kern gehen könnte. Diese Bilder passen zu allem, sie sind reibungsfrei und die Bilder sind auf eine sicherlich nicht zufällige Art beliebig.

Ich springe in der Geschichte zurück zu einem anderen Werk von Lukas Cranach, das dieser für die Wittenberger Kirche gemacht hat und das bestimmte Lehrstücke des Protestantismus enthält und im Dialog mit den damaligen protestantischen Theologen entstanden ist. Die Predella dieses Werkes enthält nun ein Bild, das mich in unserem Kontext interessiert und das ich mit der Fotografie des Ratsvorsitzenden Huber in Beziehung setzen möchte.

Zunächst einmal zeigt das Bild auf der rechten Seite eine verwandte, aber nicht analoge Situation zu der von Wolfgang Huber. Sie ist verwandt, weil es in beiden Fällen um rhetorische Positionen geht, sie ist nicht analog, weil Huber auf dem oben besprochenen Bild natürlich nicht predigt, sondern eine Ansprache hält.

Martin Luther dagegen steht auf der Kanzel und predigt, d.h. er legt die Heilige Schrift aus. Die rechte Hand ist demonstrativ erhoben und verweist mit einem Gestus in den Bildraum, der dem klassischen Segensgestus verwandt ist, die linke Hand liegt auf der Bibel. Im Rahmen der alten Raum-Metaphysik – die Bedeutung an der Größe misst – wirkt Luther geradezu klein, fast miniaturisiert. Zudem ist Luther durchaus jung inszeniert. Das Bild ist zwar erst 1547 (also nach Luthers Tod) übergeben worden, vermutlich datieren die Anfänge seiner Erstellung aber bereits in die Zeit nach 1532.

Martin Luther gegenüber am linken Bildrand sehen wir seine Ansprechpartner, die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde, wie wir schnell durch die Gesamtkonzeption des Bildes erkennen können. Man kann etwa 23-25 Zuhörerinnen und Zuhörer unterscheiden, einige von ihnen können wir sogar identifizieren, etwa Katharina von Bora mit Hänschen am Arm oder den Maler des Bildes selbst, Lukas Cranach mit langen Vollbart.

Das Zentrum des Bildes wird scheinbar von einer Darstellung der Kreuzigung Christi eingenommen. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich: Das ist gar keine Darstellung Christi im eigentlichen Sinne (sie wäre ansonsten hyperrealistisch und paradox zugleich in den Raum gesetzt), sondern eine Imagination seiner Kreuzigung.

Das wird deutlich, wenn man den – für Cranach nicht untypischen – wehenden Stoff seines Lendenschurzes berücksichtigt. Für eine derartig dramatische Drapierung fehlt in diesem Raum jeder Anlass. Es ist Luthers Rede, die Christus so bewegt vor dem Auge der Betrachter erscheinen lässt. Wir müssen uns den Raum in der Mitte also zunächst leer vorstellen und ihn nach und nach im Rahmen der Rede Luther mit Leben und Inhalt füllen.

Dabei ist der Raum im Hintergrund selbst etwas absolut Merkwürdiges und Einzigartiges, denn er scheint das Leiden des Gekreuzigten in sich aufgenommen zu haben. Es ist, als ob es der Raum der Geißelung Christi wäre. Entfernt man Kreuz und Korpus Christi aus dem Bild, bleibt dementsprechend der dichte Eindruck des Leidens erhalten – das wird besonders deutlich, wenn man sich die Wandgestaltung direkt links neben Luther anschaut, die von Blutstriemen nur so übersät scheint.

Auch hier finden wir also, wie in der Inszenierung Hubers auf dem Kongress in Kassel, einen den Bildeindruck steuernden Hintergrund wieder. Alles in allem ist auch dieses Gemälde von Lukas Cranach vom Wittenberger Reformationsaltar ein über alle Maße inszeniertes Bild, mindestens ebenso sorgfältig komponiert wie das Dokumentationsfoto mit Wolfgang Huber auf dem Zukunftskongress der Evangelischen Kirche in Kassel.

Aber welch unterschiedliche Bildaussage! Hubers Haltung eine rhetorische, Luthers eine theologische. Zergliedert man das Bild von Cranach in seine Bildräume, haben wir drei unterschiedlich große Räume vor uns. Den größten bildet der Imaginationsraum mit Christus in der Mitte, den zweitgrößten die Adressaten der Ansprache und den kleinsten Raum Luther als Prediger. Die Inszenierung von Kassel zeigt uns nun einen Blow-Up dieses kleinsten Raumes im Zusammenspiel von Redner, Adressat und Inhalt zum allein bildfüllenden Raum.

Ich halte das für nicht zufällig, sondern für symptomatisch. Insofern ist das Bild aus Kassel ein zutreffendes Bild des Protestantismus am Anfang des 21. Jahrhunderts. Er ist weitgehend medialisiert, seine zentrale Botschaft wie seine Adressaten sind in den Hintergrund getreten und sein Führungspersonal bekommt im Blow-Up alle Aufmerksamkeit. Aber was es zu sagen hat, bleibt zweitrangig.

„Politik und Religion schließen sich der Zeitströmung an und suchen, mit den Masseninszenierungen von Sport und Musik zu konkurrieren. Sogar das private Verhalten nähert sich der Schaustellung, wo Idole imitiert, Modellkonflikte durchlebt und eine Identität aus zweiter Hand angezielt wird“ schrieb der Philosoph Rüdiger Bubner Ende der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts zur Ästhetisierung der Lebenswelten. Mit dem Bild vom Zukunftskongress in Kassel haben wir einen visuellen Beleg dafür.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/61/am299.htm
© Andreas Mertin, 2009