Kultur preisgegeben

Ein Menetekel

Andreas Mertin

Der aufgrund eines Kabinettbeschlusses der Landesregierung Hessen von Juni 1981 geschaffene, anfangs mit 60.000 Deutsche Mark und derzeit mit 45.000 Euro dotierte Hessische Kulturpreis wird seit 1982 jährlich für besondere Leistungen in Kunst, Wissenschaft und Kulturvermittlung vergeben. So steht es lapidar am Anfang des entsprechenden Artikels zum Hessischen Kulturpreis in der Wikipedia. Und die dort aufgeführte Liste der Geehrten ist beeindruckend und spiegelt die Vielfalt kulturellen Lebens in Deutschland wieder.

Erstmalig sollten nun in diesem Jahr 2009 Repräsentanten der großen Religionen für ihren Einsatzes für das „friedliche Miteinander der drei großen abrahamitischen Weltreligionen – Christentum, Judentum und Islam“ bedacht werden. Das Eintreten der Geehrten für einen „respektvollen und toleranten Umgang zwischen den Glaubensgemeinschaften“ nannte der hessische Ministerpräsident Roland Koch ein „ermutigendes Beispiel“. Verliehen wurde der Preis an Salomon Korn von der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, an Karl Kardinal Lehmann, den Bischof von Mainz, an den evangelischen Kirchenpräsidenten Peter Steinacker und an den türkischen Gelehrten Fuat Sezgin, den Gründer des Instituts für Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften in Frankfurt.

Letzterer lehnte die Annahme des Preises ab, weil der mit ihm geehrte Salomon Korn die Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina so kommentiert habe, dass Sezgin den Preis nicht mit ihm gemeinsam annehmen könne. Daraufhin suchte die Jury einvernehmlich einen anderen für die Ehrung aus, den iranisch-deutschen Schriftsteller Navid Kermani.

Dennoch wird es die Preisverleihung in der vorgesehenen Form nicht geben. Was war geschehen? Am 14. März war in der Neuen Zürcher Zeitung ein Essay des Schriftstellers Kermani erschienen, der sich mit einem Kunstwerk von Guido Reni beschäftigte. Darin hatte der Schriftsteller seine persönlichen prinzipiellen Vorbehalte gegen das Kreuz und die Darstellung der Kreuzigung im Rahmen einer religiösen Darstellung erläutert: „Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt. Nicht, dass ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vorwurf. Es ist eine Absage. Gerade weil ich ernst nehme, was es darstellt, lehne ich das Kreuz rundherum ab. Nebenbei finde ich die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch, körperfeindlich, ein Undank gegenüber der Schöpfung, über die wir uns freuen, die wir geniessen sollen, auf dass wir den Schöpfer erkennen. Ich kann im Herzen verstehen, warum Judentum und Islam die Kreuzigung ablehnen.“ Das Verhältnis der Juden und Muslime zur Kreuzesdarstellung empfand er als zu liberal: „Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie.“ Das ist eine durch und durch nachvollziehbare Aussage, korrespondiert sie doch dem, was selbst Teil biblischer Verkündigung ist, nämlich, dass die Lehre vom Kreuz ein Skandalon ist. Man kann Kermani also unterstellen, dass er einen guten Teil der Lehre vom Kreuz verstanden, wenn auch nicht für sich angenommen hat. Das muss er auch gar nicht. Ich finde es schon bemerkenswert, wie präzise er die Kreuzigung als Gotteslästerung beschreibt. Dass Christen in dieser Umkehrung der Werte gerade den Sinn des Geschehens sehen, ist eben ein Teil ihres Glaubens.

Freilich endet Kermanis Artikel damit nicht, sondern er fährt fort: „Und nun sass ich vor dem Altarbild Guido Renis in der Kirche San Lorenzo in Lucina und fand den Anblick so berückend, so voller Segen, dass ich am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre. Erstmals dachte ich: Ich – nicht nur: man –, ich könnte an ein Kreuz glauben.“ Das geschieht natürlich nicht im Sinne des sacrificium intellectus, sondern in nachvollziehbarer subjektiver Aneignung: „Dieser Jesus ist nicht Sohn Gottes und nicht einmal sein Gesandter. Gerade weil sein Schmerz kein körperlicher ist, nicht Folge denkbar schlimmster, also ungewöhnlicher, unmenschlicher Folterungen, stirbt dieser Jesus stellvertretend für die Menschen, für alle Menschen, ist er jeder Tote, jederzeit, an jedem Ort. Sein Blick ist der letzte vor der Wiederauferstehung, auf die er nicht zu hoffen scheint.“

Was Kermani vorführt, ist die kulturhermeneutische Aneignung eines Kunstwerks der europäischen Kulturgeschichte. Er zeigt, dass man mit Kultur nicht nur in Form petrifizierter Kulturgüter umgehen kann, sondern sie auch rezeptionsästhetisch erschließen kann, indem man sie auf die eigene Lebenswelt bezieht. Das ist es, was wir etwa von Schülerinnen und Schülern als Transferleistung in der Schule als Lernziel erwarten. Und das ist es auch, was ich von jedem, der einem Kunstwerk gegenübertritt, erwarte. Er soll den Erwartungshorizont bestimmen, die Wahrnehmung des Artefakts dazu in Beziehung setzen und Schlussfolgerungen daraus ziehen.

Ich persönlich habe mich mit dem Werk Guido Renis niemals anfreunden können und lese nun staunend, wie stark Kermani sich von ihm angesprochen fühlt. Trotzdem ist mir weiterhin ein Caravaggio lieber als ein Guido Reni. Ich halte auch das betrachtete Bild aus der Kirche San Lorenzo eher für oberflächlich und sentimental. Das wird anderen anders gehen, die mit diesem Bild einen anderen Horizont und eine andere Geschichte verbinden. So weit, so gut.

Kardinal Lehmann jedenfalls muss den Essay in der NZZ gelesen haben und hat dann einen geharnischten Brief an die Preisverleiher geschrieben. Die NZZ schreibt dazu: „Glauben wir einem, der den Brief gelesen hat, so stand dem Sinne nach darin: Die Äusserungen Kermanis über das Kreuz Christi seien von einer derart schockierenden religiösen Intoleranz, dass es dem Kardinal unmöglich sei, in Gemeinschaft mit Kermani aufzutreten und den gleichen Preis entgegenzunehmen.“ Wenn man den Artikel Kermanis liest und die Reaktion von Lehmann erfährt, mag man es nicht glauben. Keinesfalls rechtfertigt der Inhalt des Essays diese Reaktion. Sie ist vollständig unangemessen. Und der evangelische Kirchenpräsident Peter Steinacker schließt sich diesem Protest auch noch an und stellt damit die Jury vor die Wahl. Und die Jury beschloss, lieber die religiösen Mehrheitsführer zu ehren und den Muslim auszuladen, als die einzig mögliche intellektuell anständige Lösung zu wählen, nämlich Kardinal Lehmann und Kirchenpräsident Steinacker den Preis abzuerkennen. Sie haben ihn nicht verdient.

Denn was ist Toleranz? Wenn das Wort auch nur einen minimalen inhaltlichen Sinn haben soll, dann muss man die Haltung Kermanis als tolerant und die von Lehmann und Steinacker als intolerant beschreiben. Toleranz meint, einen Schaden zu erleiden und ihn im übergeordneten Interesse sanktionsfrei zu halten, obwohl man ihn sanktionieren könnte. Kermani war in der Kirche San Lorenzo in Lucina gelandet und stand nun vor dem Kreuzigungsbild von Guido Reni. Er hätte das Bild insofern sanktionieren können, als dass er sich umdreht und dem Bild die ästhetische, kulturelle und religiöse Erfahrung verweigert. Das wäre sein gutes Recht. Er hat es aber nicht getan, sondern den „religiösen Schaden“ eines nach seiner Ansicht idolatrischen Bildes in Kauf genommen, um das Bild für sich zu erschließen. Dass das Bild in religiöser Perspektive idolatrisch ist, diese Meinung würde ich sofort teilen. Denn nicht nur Juden und Muslime teilen die kritische Perspektive auf diese Bilder, sondern auch der größte Flügel der protestantischen Reformation, die reformierte Theologie. Kermani hat diesen Schaden aber zurückgestellt und das Bild in dieser Hinsicht toleriert, um ihm gerecht zu werden. Und das gelingt ihm auf erstaunliche (wenn auch auf eine von mir nicht immer nachzuvollziehende) Weise.

Schauen wir uns unter diesem Aspekt die Haltung Lehmanns und Steinackers an: Sie lesen den Essay von Navid Kermani über Guido Reni und fühlen sich getroffen: So sollte niemand über das Kreuz sprechen. Das Kreuz, die Kreuzesdarstellung ist ihnen heilig, jede abweichende Meinung eine Schädigung. Wer anders denkt, soll wenigstens schweigen. Unterstellen wir also, Lehmann und Steinacker fühlen sich geschädigt. Und hier wiederhole ich: Toleranz meint, einen Schaden zu erleiden und ihn im übergeordneten Interesse sanktionsfrei zu halten, obwohl man ihn sanktionieren könnte. Genau dies haben die beiden aber nicht getan. Sie haben zur äußersten Sanktion gegriffen, nämlich derartig die Jury unter Druck gesetzt, dass diese Kermani den Preis entzogen hat. Das nennt man klassisch Intoleranz.

Da der Preis in diesem Falle für religiöse Toleranz ausgelobt wurde („Die Preisträger haben nach Ansicht des Kuratoriums in einer besonderen Weise zur toleranten, weltoffenen und zukunftsgewandten Perspektive der deutschen Gesellschaft beigetragen“), wäre die zu ziehende Konsequenz eigentlich eindeutig gewesen. Der Schaden, der jetzt entstanden ist, betrifft somit auch die persönliche Integrität der beteiligten Mitglieder der Jury als Repräsentanten der hessischen Kultur, also u.a. Dr. Ina Busch (Direktorin des Hessischen Landesmuseums Darmstadt), Professor Peter Eschberg (ehem. Intendant von Schauspiel Frankfurt), Bernd Loebe (Intendant der Oper Frankfurt), Professor Klaus Reichert (Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung), Helmut Seemann (Präsident der Stiftung Weimarer Klassik) und Dirk Schwarze (Autor für Kultur der HNA Kassel). Und es trifft im nachhinein alle bisherigen Preisträger, denen nun klar werden muss, dass sie einen Preis für politische Wohlgefälligkeit erhalten haben.

Was ist die Schlussfolgerung aus diesem Eklat? Sezgin wollte den Preis nicht annehmen, weil er nicht tolerant sein konnte oder wollte, Steinacker und Lehmann bekommen den Preis, obwohl sie intolerant waren, Kermani bekommt den Preis nicht, obwohl und weil er tolerant war.

Angst macht mir die Tatsache, dass die begründete Äußerung einer kulturellen bzw. religiösen Meinung heute schon wieder sanktionsbewehrt ist. Und das nicht etwa in der Bildzeitung – da sind wir es ja gewohnt -, sondern bei den kulturellen und religiösen Eliten. Wenn es nicht mehr möglich ist, dass jemand seinen Glauben und seiner Meinung äußert, um sie dann kulturhermeneutisch fruchtbar zu machen, dann ist das ein Menetekel. Es kündet vom Ende der Kultur. Wer das will, sollte mit Lehmann und Steinacker feiern. Ich kann es nicht.

Parerga …

Peter Steinacker hat in einer persönlichen Stellungnahme erklärt, warum er den Kulturpreis nicht gemeinsam mit Kermani annehmen wollte. Diese Erklärung macht es aber noch viel schlimmer, weil sie sich nun gegen die Kultur an sich wendet. Zunächst verweist Steinacker – in einem wie ich finde falschen Ton – auf seine eigenen Verdienste im interkulturellen und interreligiösen Dialog, mit wem er alles gesprochen und wen er empfangen habe. Mit anderen offen zu sprechen, ist eine Selbstverständlichkeit und kein Verdienst, auf den man sich etwas einbilden sollte. Dann fährt Steinacker fort: „Bei meinen vielen Gesprächen sind manche Differenzen der Religionen auch mit allem Nachdruck und sogar Härte besprochen worden. Aber niemals in all diesen Jahren habe ich es erlebt, dass im Dialog eine Seite der anderen vorgeworfen hat, das Zentrum ihres Glaubens – und das ist für das Christentum die Kreuzestheologie – sei Gotteslästerung und Bilderdienst.“ Da fragt man sich, was für Dialoge Steinacker eigentlich geführt hat und ob er sich jemals Gedanken über die Glaubenswelt der Muslime gemacht hat? Und zugleich hätte man sich an dieser Stelle vom Protestanten Steinacker etwas mehr sola scriptura gewünscht, etwas mehr Besinnung auf das, was Kermani wirklich geschrieben hat: „Nicht, dass ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vorwurf.“ Er wirft eben nicht den anderen vor, Gotteslästerung und Idolatrie zu begehen, sondern schreibt exakt, dass er sich, wenn er an die Kreuzestheologie glauben sollte, für blasphemisch und idolatrisch halten würde. Wenn andere, so schreibt er, dies anders sähen, respektiere er das. Und das hat nicht einmal etwas mit Toleranz zu tun, wie Steinacker meint. An dieser Stelle geht es noch gar nicht um Toleranz, sondern um die Grundlagen von Kommunikation. Ich kann und darf einem Gesprächspartner, mit dem ich über gemeinsam interessierende kritische Fragen diskutiere, nicht verschweigen, dass ich seinen Grundansatz für falsch und gefährlich halte. Mein Gesprächspartner hat ein Anrecht auf diesen Einspruch. Auch ich sage meinen lutherischen Gesprächspartner inzwischen, dass ich die vollfigurale Darstellung Christi im Gottesdienstraum innerhalb der Liturgie wegen des ersten und zweiten Gebotes für eine Gotteslästerung und Idolatrie halte. Soll ich meinen Glauben verleugnen? Ist das die Toleranz, die verlangt wird, wenn Religionen und Konfessionen miteinander sprechen? Dann sollte das Gespräch unterbleiben, denn dann geht es nur noch um bürgerliche Höflichkeit. Aber wie bereits gesagt, Kermani unterstellt den anderen nicht einmal Gotteslästerung, sondern bezieht es expressis verbis auf sich: „pro me“.

Steinacker ergänzt nun: „Grundlage des Dialoges kann nur sein, dass man sich gegenseitig das Recht auf Selbstinterpretation zubilligt und dies nicht als blasphemisch (gotteslästerlich) denunziert.“ Der Satz ist sprachlich etwas verunglückt (es geht ja nicht darum, dass das Recht auf Selbstinterpretation als blasphemisch bezeichnet wird), aber er geht an der Sache selbst vollständig vorbei, denn Kermani hatte ja nun unmittelbar zuvor das Recht auf Selbstinterpretation hervorgehoben. Was Steinacker aber offensichtlich meint ist, dass ich das Ergebnis des Rechtes auf Selbstinterpretation nicht diskutieren darf, sondern hinzunehmen habe. Der Dialog wird so zum gegenseitigen Monolog, es geht nicht mehr um Rede und Gegenrede, sondern um bloße Verlautbarungen. Das ist kein interreligiöser Dialog. Steinacker agiert hier quasi als religiöser Staatsmann, der nichtchristliche Äußerungen über das Christentum als Einmischung in innere Angelegenheiten deklariert.

Aus Steinackers Statement wird aber etwas anderes deutlich, wenn man Steinacker als früheren Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche von Hessen-Nassau als repräsentativ für die führenden Schichten des Protestantismus einschätzt: Es geht darum, dass der Protestantismus die individuelle Gewissensprüfung in Glaubensfragen, die Individualisierung der Religion, mithin: sich selbst aufgibt. Denn der unbedingte Zweifel, die Krise der eigenen Glaubensüberzeugung und dazu zählt auch der Zweifel an der Kreuzestheologie, gehört konstitutiv zu dem, was man den protestantischen Stil nennen könnte. Die Ausgrenzung, die sich hier abzeichnet, betrifft nicht nur die Muslime, sondern ebenso auch Christen, die "für sich" die Kreuzestheologie kritisch betrachten. Das ist das binnenkirchliche Signal, das von diesem Eklat ausgeht.

Noch fataler ist aber das Signal, das die beiden christlichen Vertreter gegenüber der Kultur abgeben. Der Preis, um den es geht, ist ein Kulturpreis. Ausgezeichnet werden Kulturleistungen. Den Preis erhalten haben Künstler wie Bernhard Schultze, E. R. Nele, Horst Antes, Thomas Bayrle; Kuratoren wie Nicolaus Schafhausen und René Block, Philosophen wie Jürgen Habermas und viele andere. Und nun sollten im Rahmen dieses Kulturpreises erstmalig die Religionen mit bedacht werden. Die Vertreter des Christentums meinen nun der Kultur vorschreiben zu können, was die Kriterien der Preisvergabe sein sollten, m.a.W. was wahre Kultur in der Frage der Religion ist. Sie sagen unmittelbar: Ihr habt Euch geirrt, was die Auszeichnung des Preisträgers Kermani angeht, denn dieser Mann ist nach unserer Einschätzung nicht tolerant.

Dieses Urteil wird – so viel ist bis heute deutlich geworden – von niemandem in der kulturellen Welt geteilt. Ganz im Gegenteil. Kermani ist Villa Massimo Preisträger. Lange bevor der Skandal bekannt wurde, hatte ein Studienleiter einer großen evangelischen Akademie exakt diesen Text von Kermani seinen Gesprächspartnern als Beispiel religiöser Toleranz(!) zur Lektüre empfohlen. Kermani selbst wird im christlich-islamischen Gespräch als Dialogpartner geschätzt. Seine kulturhermeneutische Auseinandersetzung mit einem christlich geprägten Kontext ist intellektuell scharfsinnig, so dass man sagen kann, wir bräuchten viel mehr Auseinandersetzungen dieser Art.

Das alles zählt für die Vertreter des Christentums nicht. Der Abschlusssatz von Steinacker ist dann selbst wiederum ein Skandal: „Aber ich habe kein Verständnis dafür, dass ein Muslim, der mit mir für Toleranz und Respekt gegenüber dem ihm Fremden geehrt werden soll, mein Glaubenszentrum als Gotteslästerung bezeichnet. Ich tue dies im umgekehrten Fall auch nicht über islamische Glaubensinhalte. Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich mich außerstande sehe, mich zusammen mit dem Autor dieses Artikels für einen toleranten interreligiösen Dialog als Lebensleistung, wie die Absicht des Preises ist, ehren zu lassen.“ Dieser Satz sagt implizit nichts anderes als das der Preis „für einen toleranten interreligiösen Dialog als Lebensleistung“ Kermani nicht zustehe. Das kann man nun mit guten Gründen anders sehen.

Helmut Seemann, der Präsident der Klassik Stiftung Weimar und Mitglied der Jury des Kulturpreises Hessen, hat auf die Frage „Wen halten Sie denn nach all dem Hin und Her wirklich noch für preiswürdig?“ geantwortet: „Eigentlich nur noch Navid Kermani.“ Und er hat dies in aller Klarheit erläutert, so dass man sich seiner Beschreibung nur anschließen kann: „Es ist ja jetzt ein anderer Weg gewählt worden, es ist jetzt einfach der Weg gewählt worden zu sagen, wir nehmen die Repräsentanten, und diese Repräsentanten haben nun wie Repräsentanten reagiert. Einer hat gesagt, ein anderer dieser Repräsentanten ist sozusagen für mich nicht satisfaktionsfähig, und ich finde eigentlich, da muss man sagen, ja, dann ist das in diesem Jahr jetzt mal kein Kulturpreis im engen Sinne, sondern das ist ein Preis für Repräsentanten der monotheistischen Konfession, aber kein Kulturpreis. Das ist mir eigentlich ganz wichtig, denn wenn man ihn als Kulturpreis versteht, dann müsste man eigentlich sagen, der, der hier ausgegrenzt werden soll, ist eigentlich der am stärksten Kulturaffine und außerdem muss man, wo Zensur im Gange ist, muss man immer den, der zensuriert wird, als den eigentlich zu Schützenden und zu Ehrenden in den Vordergrund stellen.“ So ist es.

Auf dem Frankfurter Kirchentag 2003 ist Navid Kermani zur Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs befragt worden. Seine Antwort darauf ist überaus lehrreich. Und geradezu prophetisch hat er die aktuelle Diskussion vorweggenommen. Seine letzten Sätze lauten: „Statt die Harmonie zum Programm zu erklären, sollte der interreligiöse Dialog Mut zur Dissonanz haben, zum intellektuellen Streit, zur belebenden Provokation. Wenn alles gleich aussieht, sieht man nur Nebel. Wo alle sich liebhaben, hat die Liebe keinen Platz. Nur die Unterschiede schärfen den eigenen Blick.“

Und im Gespräch ausgerechnet mit Ulrich Parzany (der ihn gleich zum Christentum zu bekehren sucht) in der Zeitschrift chrismon sagte Kermani: „Toleranz heißt doch, dass ich die Glaubensüberzeugungen des anderen nicht mag, aber ihn dennoch respektiere. Dass der andere so sein kann, wie er ist. Insofern bin ich zutiefst überzeugt von der Errungenschaft des säkularen Staates auch für die Religion - mit all den Gefahren, die der Säkularismus den Religionen bringt. Man kann sagen: "Das ist eine Irrlehre" - aber der andere hat alle Freiheiten, an diese Irrlehre zu glauben, weil nicht der Staat über die Lehren urteilt, sondern der Einzelne. Das muss gewährleistet sein, damit man auch auf dem provozierenden, radikalen Anspruch seiner eigenen Wahrheit beharren kann. Religionen sprechen nun einmal von Wahrheit. Das ist ja das Ärgerliche an Religionen, dass sie eben nicht sagen: Schaun wir mal.“

Diese Haltung, die Navid Kermani repräsentiert, nennt man Kultur. Andere dagegen haben diese Kultur preisgegeben.

… und Paralipomena

Über die Äußerungen Kardinal Lehmanns in seinem Brief an die Staatskanzlei sollte man besser kein Wort verlieren, sie sind unchristlich bis ins Mark. Eine subtile Diffamierung hat Peter Michalzik das zu Recht in der Frankfurter Rundschau genannt. Über den mit ihm geehrten Kermani lässt sich Lehmann u.a. so aus: Es wäre „ein Hohn, wenn ich gleichzeitig mit jemand auftrete, der ein so geringes Mass an Toleranz und auch an Willen, andere und fremde Religionen zu verstehen, erkennen lässt“. Und dann noch spitzer: "So hat er mit 41 Jahren und angesichts der bisher zugänglichen Veröffentlichungen und erbrachten Leistungen ein unglaublich großes Verzeichnis an Auszeichnungen und Preisen vorzubringen. ... Er ist zweifellos intellektuell begabt und recht gebildet, in der Zwischenzeit auch habilitiert. Aber - lassen Sie mich dies wenigstens fragen - ist es denn mit 41 Jahren schon ein Lebenswerk, das hier die Auszeichnung eines Hessischen Kulturpreises verdient und dies bei den vielen Menschen, die sich in unserem Land gerade auch ehrenamtlich für Kultur einsetzen." Das ist nicht nur blasiert, es ist infam. „Recht gebildet“ sei der Schriftsteller und „in der Zwischenzeit auch habilitiert“, was ist das für eine herablassende Wortwahl und wer maßt sich hier eigentlich an, so zu sprechen (ich will an dieser Stelle gar nicht auf die Biografie Lehmanns verweisen). Der Gipfelpunkt ist aber die Frage, ob ein 41-Jähriger es denn verdiene, den hessischen Kulturpreis zu bekommen. Diese Frage hat Konsequenzen für eine Vielzahl der bisherigen Preisträger: Die Sopranistin Christine Schäfer war 40 als sie den Preis bekam, der Publizist Florian Illies 32, der Kurator Nicolaus Schafhausen 38, der Schauspieler Til Schweiger 40, die Musikerin Tabea Zimmermann 36. Sie alle lebten noch nicht lange genug, um für ihre Lebenswerk und ihre Kulturleistung geehrt zu werden, wenn man Lehmann folgt. Das zeigt vor allem eines, dass sich Lehmann mit dem Preis und den bisherigen Preisträgern überhaupt nicht beschäftigt hat. Und so schädigt er den Preis und die Sache der Kultur massiv. Aber nehmen wir ihn einmal ganz unironisch beim Wort und überlegen, wer noch in dieser herabsetzenden Logik der Jugendphobie ebenfalls nicht preiswürdig gewesen wäre, weil er nicht das entsprechende Alter aufweisen kann: mir fielen spontan Novalis (29 Jahre), Jesus Christus (34 Jahre), Heinrich Kleist (34 Jahre), Wolfgang Amadeus Mozart (35), Franz Schubert (31) und Franz Marc (36 Jahre) ein und vermutlich werden jedem sofort noch eine Fülle weiterer Namen einfallen. Da wäre Navid Kermani ja in guter Gesellschaft.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/59/am286.htm
© Andreas Mertin, 2009