Rathschläge der XXIII. Deutschen evangelischen Kirchen-Konferenz

Eisenach 1898

1.
Die Kirche gehört auf einen offenen Platz und soll sich nicht an andere Gebäude anlehnen. Die Würde des für den Gemeindegottesdienst bestimmten Bauwerks erfordert eine ausgezeichnete und freie Stellung mit reichlichem Licht und bequemen Zugängen von mehreren Seiten.

Soweit Lage und Beschaffenheit des Bauplatzes nicht auf eine andere Richtung weisen, empfiehlt sich die Berücksichtigung der alten Sitte, nach welcher der Altarraum (Chor) der Kirche gegen Sonnenaufgang liegt.

2.
Für den Grundriss wird nicht allein der erforderliche Umfang maassgebend sein können, sondern auch die Gestalt des Bauplatzes eine gewisse Rücksicht verlangen. Bei Anlage des Gebäudes, auch nach seiner Höhe, Breite und Länge, ist vorzüglich Bedacht zu nehmen einerseits auf Gewinnung eines einheitlichen, ansehnlichen Raumes, in welchem die zum Gottesdienste versammelte Gemeinde thunlichst ungehinderten Blick auf Kanzel und Altar haben kann und den dort das Amt verwaltenden Geistlichen gut versteht, andererseits auf Herstellung eines im Innern auszuzeichnenden und auch von Aussen erkennbaren Altarraumes. Für kleinere Kirchen erscheint das längliche Viereck als die zweckmässigste und am Wenigsten kostspielige Grundform.

Für grössere Kirchen, namentlich solche mit ausgedehnten Emporen ist auch die Kreuzgestalt mit gleichen oder ungleichen Armen zu empfehlen. Damit sollen der polygone Centralbau, sowie die zweischiffige, unsymmetrische Anlage nicht ausgeschlossen werden.

3.
Die Würde des evangelischen Kirchengebäudes verlangt ernste und edle Einfachheit in Gestalt und Farbe, welche am Sichersten durch Anschluss an die älteren, geschichtlich entwickelten und vorzugsweise im Dienst der Kirche verwendeten Baustile erreicht wird. Neben-dem ist bei Wahl des Bausystems auf den vorwiegenden Charakter der Bauweise der Landesgegend und auf die örtliche Umgebung der Kirche zu achten. Die einzelnen Bestandteile des Baues und seine innere Einrichtung von Altar und Kanzel, bis zum Gestühl und Geräth, sowie die Orgel müssen dem Stil der Kirche entsprechen.

Brauchbare Reste älterer Kirchengebäude sollten sorgfältig erhalten und maassgebend benützt werden.

4.
Der Kirchenbau erfordert dauerhaftes Material unter Ausschluss des Fachwerks und solide Herstellung ohne täuschenden Bewurf oder Anstrich. Wenn für den Innenbau die Holzkonstruktion gewählt wird, welche der Akustik besonders in der Überdachung günstig ist, so darf sie nicht den Schein eines Steinbaues annehmen. Der Altarraum ist jedenfalls massiv einzuwölben.

5.
Der Haupteingang zur Kirche steht am Angemessensten in der Mitte der dem Altarraum gegenüberliegenden Schmalseite, so dass von ihm bis zum Altar sich die Längenachse der Kirche erstreckt. Mehr als ein Eingang ist bei jeder Kirche erwünscht. In den Altarraum darf von aussen unmittelbar kein Eingang führen. Zur Sicherung gegen Panik, Feuersgefahr und Luftzug sind Windfänge an den Thüren, Aufschlagen der Thüren nach Aussen erforderlich und überhaupt die baupolizeilichen Vorschriften sorgfältig zu beachten.

6.
Ein Thurm sollte nirgends fehlen, wenn die Mittel irgend ausreichen. Wo es daran zur Zeit mangelt, ist Fürsorge zu treffen, dass er später zur Ausführung kommen kann, und dass das für jede Kirche erforderliche Geläute vorläufig im Giebel oder einem Dachthürmchen angemessene Unterbringung findet. Zu wünschen ist, dass der Thurm, bzw. die Thürme in organischer Verbindung mit dem Kirchengebäude stehen.

7.
Der Altarraum oder Chor ist über den Boden des Kirchenschiffes um einige Stufen zu erhöhen, deren Zahl nach der Große der Kirche zu bemessen ist. Auf die Anlage des Altarraumes, bei dem es weniger auf Tiefe als auf Breite besonders nach dem Schiff der Kirche hin ankommt, ist die größte Sorgfalt zu verwenden. Er muss für die gottesdienstlichen Handlungen, welche vor dem Altar vollzogen werden, insbesondere für Abendmahlsfeiern, Confirmationen und Trauungen genügenden Raum gewähren. Vom Kirchenschiff darf er nicht durch Schranken getrennt sein.
Weder Emporen noch festes Gestühl sollten im Altarraum angebracht werden. Die künstlerische Ausschmückung des Innern der Kirche findet hier ihre bevorzugte Stelle.

8.
Der Altar muss massiv gebaut sein und frei stehen, so dass der Umgang der Kommunikanten um denselben möglich ist. Mindestens um eine breite Stufe ist er über den Boden des Altarraumes zu erhöhen. Auf den Altar gehört, soweit nicht konfessionelle Gründe entgegenstehen, ein Crucifix. Wenn über dem Altartische sich ein architektonischer Aufsatz erhebt, so hat das etwa damit verbundene Bildwerk, Relief oder Gemälde, stets nur eine der Hauptthatsachen des Heils darzustellen.

9.
In Kirchen, welche besondere Taufkapellen im Vorräume oder neben dem Chor besitzen, kann der Taufstein dort belassen werden. Es darf dann ein kleiner Altar nicht fehlen. Bei Neubauten empfiehlt es sich, den Taufstein im Innern der Kirche vor den Stufen zum Altarraum, am Besten seitwärts gegenüber der Kanzel, aufzustellen. Ist der Altarraum gross, so kann der Taufstein auch dort in der Nähe der zum Schiff führenden Stufen seitwärts oder in der Mitte stehen. Durch einen tragbaren Tisch sollte er ohne Noth nicht ersetzt werden.

10.
Für die Kanzel ist die richtige Stelle da, von wo der Prediger in allen Theilen der Kirche am Besten von der Gemeinde gehört und gesehen werden kann. Sie sollte aber weder vor noch hinter oder über dem Altar stehen, in größeren Kirchen überhaupt nicht im Chor. Meist steht sie am Zweckmässigsten da, wo Chor und Schiff zusammenstossen, an einem Pfeiler des Chorbogens nach dem Schiff zu; in mehrschiffigen grossen Kirchen an einem dem Chor nicht zu fern liegenden Pfeiler des Mittelschiffes. Die Höhe der Kanzel richtet sich nach der Grosse der Kirche und der Höhe der Emporen.

11.
Die Empore für die Orgel und den Sängerchor hinter den Altar bzw. die Kanzel zu verlegen, ist aus liturgischen, ästhetischen und praktischen Gründen zu verwerfen. Meist empfiehlt sich für die Orgel die Schmalseite gegenüber dem Altarraum. Vor übermässiger Ausdehnung der Orgelempore, des Orgelprospektes, wie der Orgel selbst ist zu warnen, sofern nicht in grossen städtischen Kirchen eine breitere und tiefere Empore zur Darstellung von Tonwerken geistlicher Musik Bedürfnis wird.

12.
Wo ein Lesepult sich findet, gehört es, entweder vor den Altar auf eine der Stufen, die aus dem Schiff zum Chor emporführen oder an einen Pfeiler des Chorbogens, um für den Zweck der Katechese, Bibelstunde oder dergleichen vor den Altar hingerückt zu werden. Beichtstühle sind, falls sie ausnahmsweise als Ersatz für die nicht ausreichende Sakristei vorkommen, im Chor anzulegen.

13.
Die abgesehen von der Orgelempore erforderlichen Emporen sollten an den beiden Langseiten und den Kreuzarmen möglichst organisch mit der Struktur der Kirche verbunden und so angelegt werden, dass sie den freien Ueberblick nicht stören. Auch dürfen sie sich nicht in den Altarraum hineinziehen oder bis dicht an die Kanzel heranreichen. Die Tiefe der Emporen, deren Bänke aufsteigend hintereinander zu setzen sind, sollte massig gehalten werden, soweit nicht die Anlage von Kreuzarmen grössere Tiefe gestattet. Mehrere Emporen übereinander sind zu vermeiden. Bei Neubauten empfiehlt es sich, statt langer Fenster, welche durch die Emporen unterbrochen würden, über den Emporen höhere Fenster, die zur Erhellung der Kirche dienen, unter den Emporen niedrigere Fenster zur Erhellung des von den Emporen beschatteten Raumes anzubringen.
Die zu den Emporen führenden Treppen müssen ausser dem Ausgang nach aussen, auch einen Eingang in das Innere der Kirche haben. Ein Zusammentreffen mit den aus dem Schiff der Kirche führenden Ausgängen ist zu verhüten.

14.
Bei Anordnung des Gestühls im Schiff der Kirche ist die Verbindung von Auge und Ohr der Gemeinde mit Kanzel und Altar und der leichte Verkehr nach den Ausgängen zu sichern. Womöglich ist überall, auch in solchen Kirchen, welche seitliche Erweiterungen haben, ein breiter Hauptgang in der Richtung der Längsachse vorzusehen, und vor den Stufen des Altarraumes ein angemessener Raum von festem Gestühl frei zu halten. Bänke mit mehr als acht Sitzplätzen bedürfen von beiden Seiten eines Eingangs.

Im Uebrigen ist die Anordnung des Gestühls von der Gestalt des Schiffs und der Stellung der Kanzel abhängig.

15.
Notwendiger Nebenraum ist in jeder Kirche die Sakristei, nicht als Einbau, sondern als Anbau neben dem Altarraum, geräumig, hell, trocken, heizbar, von kirchenwürdiger Anlage und Ausstattung. Ausser ihrem Hauptzweck, dem Geistlichen zur Sammlung und Vorbereitung für den Gottesdienst, sowie zur Bereithaltung der Geräte und Bücher für denselben zu dienen, kann sie auch als Beichtstuhl und in Filialkirchen als Sprechzimmer für die Seelsorger gebraucht und eingerichtet werden.

Bei grösseren Kirchen, wo mehrere Räume neben dem Altarraum Platz finden, kann, falls nicht eine Taufkapelle hergestellt wird, ein grösserer Raum für Bibelstunden, Kindergottesdienst und Confirmandenunterricht an die Kirche angeschlossen werden, welcher nach Bedürfnis auch für die Versammlung der Hochzeitsgäste und für Sitzungen der Kirchengemeindeorgane verwendet werden kann.

Nebenräume für Übungen des Sängerchors und für Aufbewahrung von Gerätschaften werden passender mit der Anlage des Thurmes und der Orgelempore in Verbindung gebracht.
Weitere Nebenräume, insbesondere die bauliche Verbindung der Kirche mit Pfarrhaus, Küsterwohnung und Gemeindehaus sind auszuschliessen.

16.
Bei Neubauten ist überall auf Heizbarkeit der Kirche, sei es durch Öfen, sei es bei grossen Kirchen durch Centralheizungs-Anlagen Bedacht zu nehmen. Die hierfür erforderlichen Einrichtungen dürfen die kirchliche Würde des Bauwerks nicht beeinträchtigen. Bei der zunehmenden Bedeutung der Abendgottesdienste in städtischen und ländlichen Gemeinden ist die angemessene Beleuchtung der Kirche überall zu ermöglichen.

17.
Die künstlerische Ausstattung des Inneren der Kirche durch sinnbildliche Zier und farbigen Schmuck der Wände und Fenster ist mehr, als dies bei evangelischen Kirchen früher zu geschehen pflegte, zu fördern. Nur sind hierbei zur Wahrung der evangelischen Kirchen geziemenden Würde und Einfachheit, Überladung, Tand und Unächtes fern zu halten. Figürliche Darstellungen sind ausser an Altar und Kanzel vorwiegend auf die Fenster zu beschränken, deren farbige Ausstattung nur die Helligkeit des Kirchenraumes nicht beeinträchtigen darf. Historische Darstellungen sollten aus der biblischen Geschichte entnommen werden, solche aus der Geschichte der Kirche nur in Vorhallen und Nebenräumen Platz finden.

Bei der religiösen Symbolik des Zieraths sind Nachahmungen der nur für katholische Kirchen geeigneten Formen zu vermeiden. Vor der hier drohenden Gefahr der Geschmacksverirrung sind Bauherrn und Baumeister zu warnen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/58/prog06.htm
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