Individualisierung – Spiritualität – Religion

Eine Buchvorstellung

Andreas Mertin

Das erste Buch in der von Wilhelm Gräb und dem Institut für Religionssoziologie der Humboldt-Universität zu Berlin herausgegebenen Reihe „Religion und Kultur“ widmet sich dem Thema „Individualisierung – Spiritualität – Religion“. Auf über dreihundert Seiten bietet es unterschiedliche Facetten zum Thema aus psychologischer, soziologischer, religionswissenschaftlicher und theologischer Perspektive. Entstanden sind die Texte im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts „Individualität“. Der einleitende Aufsatz von Wilhelm Gräb steckt den Rahmen der Untersuchung ab.

Das erste Kapitel des Buches stellt „Konzepte und Verhältnisbestimmungen“ vor. Birgit Weyel untersucht die „Individualisierung und die Transformationen des Religiösen am Beispiel von Kasualien“ (23-29). „Religion erweist sich hier im Wesentlichen als lebensgeschichtliche Biographiearbeit, die durch ihren konstruktiven Charakter dem Individuum ein Angebot unterbreitet, einen roten Faden im eigenen Leben zu entdecken, der Kontinuitäten sucht und Diskontinuitäten nicht überspringt.“ (39) Wilhelm Gräb untersucht den „Containerbegriff“ Spiritualität (31-44), „in den alle Formen individualistischer Religion hineingeworfen werden können, die sich den institutionell geprägten und theologisch verantworteten Formen der Religion nicht zuordnen lassen.“ Spiritualität meine, „dass das religiöse Verhältnis der Individuen entscheidend auf Leistungen zurückzuführen ist, die sich den mentalen Aktivitäten des religiösen Bewusstseins und damit der Sinndeutungsaktivität der Individuen verdanken.“ (31) Hubert Knoblauch beschäftigt sich mit dem Begriff der „Spiritualität und Subjektivierung der Religion“ (45-58): So „sprechen auch analytische Argumente dafür, Spiritualität als eigene Art der Religiosität zu charakterisieren.“ (54) Er hebt hervor: „Charakteristisch an der Spiritualität ist also weniger die Individualität, sondern die Individuation: dass sie jeweils selbst gemacht wird“ (55). Begriffsgeschichtlich arbeitet Hermann Tyrell mit seinem Beitrag „’Individualismus’ vor ‚der Individualisierung’: Begriffs- und theoriegeschichtliche Anmerkungen.“ (59-86)

Im zweiten Kapitel des Buches geht es um „Forschungsperspektiven und interdisziplinäre Zugänge“ mit Beiträgen von Regina Polak, Tatjana Schnell, Stefan Huber, Sebastian Marken und Sussan Namini sowie Michael Utsch. Regina Polak geht unter dem Titel „Spiritualität –neuere Transformationen im  ‚religiösen Feld’“ (89-109) anhand einer österreichischen Studie den sich abzeichnenden Tendenzen im ‚religiösen Feld’ nach: „Das Thema Spiritualität ist so ein wesentlicher Bestandteil – Folge und Ausdruck – eines gesamtgesellschaftlichen Wertewandels, in dem sich diue Fragen nach Sinn und Religion und deren öffentlich-politischer Relevanz verdichten. Zur Disposition steht die Frage, wie sich die persönlichen … Fragen nach Sinn und religion in einer säkularen Gesellschaft öffentlich leben lassen, und welche gesellschaftliche und politische Relevanz sie haben können, dürfen und müssen bzw. nicht haben dürfen.“ (106f.) Tatjana Schnell widmet sich dem Thema „Implizite Religiosität. Vielfalt von Lebensbedeutungen in religiösen Ausdrucksformen.“ (111-135) Stefan Huber stellt den „Religiositäts-Struktur-Test (R-S-T)“ vor (137-171), der als Versuch verstanden werden soll „grundlegende Perspektiven, Erkenntnisse und Impulse von verschiedenen Disziplinen der empirischen Religionsforschung auf der Ebene eines quantitativen Forschungsinstrumentes miteinander ins Gespräch zu bringen und in einem interdisziplinären Modell der Religiosität zu verschränken.“ (137) Sebastian Marken und Sussan Namini setzen sich mit dem Phänomen der „Spirituellen Lebenshilfe“ (173-186) auseinander und gehend aufgrund ihrer Beobachtungen davon aus, „dass spirituelle Lebenshilfeangebote (zunächst) weiter zunehmen und noch synkretistischer bzw. traditionsfreier auf spezifische Bedürfnisse funktional zugeschnitten sein werden.“ (186)  Michael Utsch fragt nach den „Chancen  und Grenzen empirischer Religionspsychologie“ (187-206) und gibt einen ersten Überblick über die aktuellen Tendenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung von Psychologie und Theologie bzw. Religionswissenschaft.

Nicht ganz überzeugt haben mich einige der eher an konkreten Phänomenen orientierten Beiträge im dritten Kapitel „Phänomene und Wahrnehmungen“. Das liegt daran, dass mir nicht immer einsichtig ist, welche empirische Relevanz die betrachteten Phänomene haben. Zunächst aber legt Andreas Feige eine solide empirische Basis vor, wenn er unter der Überschrift „Was mir wichtig ist im Leben“ nach der „Alltagsethik Jugendlicher und Junger Erwachsener“ fragt (209-233). Das ist spannend und detailliert an Einzelfragen beschrieben. David Plüss schildert „Individualisierung und Popularisierung von Religion“ am Beispiel der Alpha-Kurse zur Glaubensvermittlung (235-247). Hier hätte ich mir mehr unabhängige empirische Fakten gewünscht. Wenn etwa für die Schweiz angegeben wird, es hätten 55.000 Menschen den Kurs abgeschlossen, dann sind das ein gutes Prozent der in Frage kommenden Bevölkerung. Wie aussagekräftig ist das, um Schlüsse zu ziehen? Ursula Roth setzt sich mit der „individuellen Trauung“ auseinander (249-259). Hier wird mit viel Verve für eine an der individuellen Erwartung orientierten Pastoralpraxis plädiert, ohne dass es mir wirklich einleuchten würde. Die genannten Beispiele (etwa die Kamera bei der Trauung) sind auch nur scheinbar überzeugend. Was wäre wenn die individualisierte Religion von der pastoralen Praxis Vollzüge verlangen würden, die sich theologisch nicht mehr rechtfertigen lassen würden? Ulrike Popp-Baiers Untersuchung „Sex, Religion und die City“ (261-280) überzeugt mich deshalb nicht, weil es völlig willkürlich erscheint, welches Material man zu seinen Studien heranzieht. Und genauso willkürlich werden dann die Schlussfolgerungen daraus. Es ist ganz gleichgültig, ob man Ally McBeal, Six feet under, die Simpsons, Boston Legal, Gilmore Girls oder was auch immer nimmt, jedes Mal kann man untersuchen, wie Religion darin vorkommt. Aber was bewirkt sie im Leben der Menschen? Seit 20 Jahren laufen die Simpsons, die konsequent Religion thematisieren. Aber was heißt das für individualisierte Religion? Und wie kann man das nachweisen? Hier habe ich meine Fragen.

Das vierte Kapitel „Zum Umgang mit religiöser Vielfalt“ enthält zwei Beiträge von Volkhard Krech und Dietrich Korsch. Volkhard Krech äußert sich „Zum Umgang mitr religiöser Vielfalt aus religionswissenschaftlicher Sicht“ (283-298) und erläutert wie er das Problem religiöser Diversität im Rahmen seiner Forschungen operationalisiert.  Das ist hoch spannend und lässt für die Zukunft viele aufschlussreiche Erkenntnisse erwarten. Bereichernd auch der Beitrag von Dietrich Korsch „Zum Umgang mit religiöser Vielfalt aus theologischer sicht“ (299-309), der sich mit dem Verhältnis von Dogmatik und religiöser Vielfalt auseinandersetzt: „Meine These im Folgende lautet: Die Dogmatik des Protestantismus lässt sich verstehen, als exemplarisches Mittel, christentumsinterne Vielfalt zu generieren und christentumsexterne Vielfalt zu diagnostizieren.“ (301)

Was macht das Buch interessant und aktuell? Zum einen vor allem der Umstand, dass in der öffentlichen Diskussion der Sachkenntnisstand zum Thema Religion, Spiritualität und Individualisierung extrem gering ist. Der Philosoph Florian Rötzer beispielsweise titelte in der Online-Zeitschrift Telepolis erst vor wenigen Tagen: „In ganz Europa geht es seit Jahrzehnten mit der Religiosität bergab“. Das dürfte in der Sache so nicht zu halten sein, weil Rötzer wieder einmal den verbreiteten Fehler begeht, Kirchenbesuch mit Religiosität zu verwechseln. Nach dieser Logik sind letztlich nur Fundamentalisten wirklich religiös, während alle anderen nach Rötzer Worten einem vagen, unbestimmten Glauben: einer fuzzy fidelity, anhängen. Der Sammelband von Gräb und Charbonnier räumt mit diesen Vorstellungen auf. Andererseits hat man das Gefühl, gerade im Blick auf den Begriff der „Spiritualität“ erst ganz am Anfang einer fachwissenschaftlichen Debatte zu stehen, die unterschiedlichen im Buch verwendeten Ansätze zeigen das deutlich. Deshalb darf man auf die folgenden Bände der Reihe gespannt sein. 

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/58/am280.htm
© Andreas Mertin, 2009