Kitsch - Kopie - Nostalgie


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Ein Tremor – ein Bass – ein Ben

Das Schau-Spiel einer Bibel-Lesung

Anne Gidion

Eigentlich fahre ich nur zum HSV-Handball zur Color Line Arena. BEN BECKER liest die BIBEL – freiwillig hätte mich das am Freitagabend nicht hingebracht. Aber nun: als Pastorin soll ich mir das ansehen, anhören, anfühlen, und das find ich aufregend, setze mich ins Dunkel, Gedanken an die Sonntagspredigt in den Hinterkopf geschoben.

Die Bibel soll nun also vorgelesen werden vom Schauspieler Ben Becker, begleitet vom Filmorchester Babelsberg und einer Berliner Band. Dazu gibt es bewegte Bilder auf drei Leinwänden, die Bühne steht am Kopfende der gut gefüllten Halle. Es geht los, in Bildern bewegt sich der Kosmos wüst und leer, und das Orchester legt den Klangteppich darunter, anschwellender Schöpfungsgesang. Gleich kommt er. Gleich wird er sagen: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Er erscheint in schwarz, blond gegelt, mit Totenkopfring, steht er am dunkelblauen Lesepult mit Glitzerkreuz vorne drauf.

Raubtierhaft packt er das Mikrophon, liest den alten Luthertext, fast singend, ganz Spannung. Die rechte Hand rudert, der Ring blitzt.

Mit der Vertreibung aus dem Paradies geht es weiter, dann Kain und Abel. Danach das erste Lied: Elvis, In the Ghetto. Wegen James Dean in “East of Eden”? Oder weil Becker nicht nur Gottvater darstellt, sondern nebenbei auch noch Elvis, the King?

Dann Noah und die Flut. Die Multimediashow fängt an, mich zu nerven. Sie nimmt vorweg, malt Nebengleise zu sehr aus. Wie Becker hingegen die alten Worte liest, zieht mich in den Bann. Ich lauere, was er streicht, was er auswählt, zucke beim immer wieder brutalen, rächenden, zerschmetternden Gott, von dem er so erzählt, der das Schilfmeer für Moses und die Seinen teilt und ganze Volksstämme krachend den Wogen überlässt. Ich frage mich: Wie klingt für Menschen, die im Beruf nicht ständig mit diesen Texten umgehen? Wie wirkt die archaische Brutalität, der Bildtextton-Tsunami, den Becker auf uns dröhnen lässt? Nicht schlicht abstoßend?

Die nächste Geschichte. Ich merke Ermüdung. Die Stimme ist gewaltig, ohne Frage, aber sie ist fast durchgehend so. Gott oder Pharao, Jakob oder Mose – ein Tremor, ein Baß, ein Ben.

Ein Panther in Trance, der sich zum Beifall reckt und räkelt.

Jona im Bauch des Wals, Gottes Reue und Güte für die Stadt Ninive packen und tragen mich. Plötzlich finde ich das ganze Projekt gar nicht mehr so überzogen und selbstherrlich wie in der ersten halben Stunde, sondern freue mich einfach am gesprochenen Wort. Großes Kino. Pause.

Dann das Neue Testament: „Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“. Die Geschichte von Geburt, Leben, Wunderwirken und schließlich Sterben vom Gottessohn Jesus gibt es nach Matthäus. Ein harter Moment: Ben Becker liest - ja, liest, nicht betet – das Vaterunser. So wie es da steht im sechsten Kapitel, fast erwarte ich, dass jemand aufsteht. Tut aber niemand, und als Becker ausgelesen hat, donnert der Beifall.

Dann fällt der Gospelchor ein, Becker greift wieder das Gesangsmikro, und tanzt uns die Bergpredigt. Da muss ich lachen.

Schließlich die Auferstehung, natürlich begleitet mit Sonnenaufgang auf der Leinwand. Ich hätte erwartet, dass Becker am Seil durch die Arena schwebt, Himmelfahrt konkret. Aber er bleibt  da. „Siehe ich bin bei Euch bis an der Welt Ende.“ Und tanzt wieder am Schluss. Jetzt dürfen die Fotografen nach vorne. Becker umarmt den Gitarristen mit der offenen Soutane, freut sich wie ein großes Kind, lobt das Publikum „Ihr seid so schön!“, die Halle jubelt, steht auf.

Ein Gospelgottesdienst in Stellingen? Nein. Niemand klatscht mit, immer nur hinterher. Es ist Kunst, Performance, Inszenierung, mit der Bibel als Text und Ben mit seinem Ensemble als Interpreten. Das ist kein Gottesdienst und auch keine Gottesdienstkarikatur. Da saßen mehrere tausend Menschen gegen kein geringes Eintrittsgeld und lauschten gebannt. Es gab kein ausdeutendes Wort, höchstens die Lieder ließen sich als Kommentar verstehen. Meine Gottesdienste sind ohne Eintritt, ich lese dieselben Texte, nur so voll ist es nicht…

BB ist kein Prediger. BB ist Schauspieler. Gibt es da verbotene Rollen? Ich glaube nicht.

Und ob Martin Luther an dem Abend Freude gehabt hätte? Wild genug dafür wäre er gewesen.


Artikelnachweis: https://www.theomag.de/57/ag1.htm
© Anne Gidion, 2009