Wahrheit der Kunst — Wahrheit des Evangeliums

Einer Anregung Eberhard Jüngels folgend und widersprechend

Horst Schwebel

Im Folgenden soll danach gefragt werden, wie sich das Verhältnis zwischen Kirche und Kunst definieren lässt. Man wird Rainer Volp zustimmen können, wenn er von der »Kunst als Generator von Stilen und Codes«[1] spricht. Zahlreiche Beispiele verdeutlichen, wie über Kunst neue Stile (auch von Lebensprozessen) eingeführt werden, wie neue Codes erschlossen werden, um dem Leben in seinen vielfältigen Dimensionen zum Ausdruck zu verhelfen. Der Begriff ‘Generator’ scheint mir glücklich gewählt, weil darin der Schaffensprozess als kreatürlicher Akt ebenso enthalten ist wie das die Kräfte Speichernde des technischen Geräts ‘Generator’. Wer sich mit Kunst einlässt, lässt sich mit lebendiger Substanz’ ein. Er wird mit Lebensprozessen nicht nur konfrontiert, sondern alsbald von ihnen umschlungen, hineinverwoben, es sei denn, er ergreift vorzeitig die Flucht. Bleiben wir im Bild des Umschlungen- und Umranktwerdens, so ist der Begriff ‘Partnerschaft’ für dieses Verhältnis fast noch zu schwach — könnte es nicht auch eine tödliche Umarmung sein?

Darum ist es sinnvoll, das Zu- und Gegeneinander von Kunst und Theologie weiter zu präzisieren. Ein anregender Aufsatz von Eberhard Jüngel könnte dazu verhelfen.[2]

Die Verhandlungsebene: Aktuelle Kunsterfahrung contra philosophische Ästhetik

Jüngel beschäftigt das Problem, dass spätestens seit dem 19. Jahrhundert Ästhetik bzw. das Kunstwerk an die Stelle von Religion und Theologie getreten zu sein scheint« (S. 106). Da er an der Ablösung von Religion und Theologie durch die Kunst offensichtlich Zweifel hegt, will er dem ästhetischen Verhältnis’ nachgehen, um seine Stärken und Schwächen ausfindig zu machen.

Herausgefordert wurde Jüngel durch die Beschäftigung mit Ästhetiken, speziell mit denen von Kant, Novalis, den idealistischen Ästhetiken, ebenfalls Heidegger und Jauß. Es sind also nicht primär Kunstwerke dieses Jahrhunderts — etwa von Picasso, Beckett, Bacon, Beuys —, mit denen Jüngel sich beschäftigt, sondern Reflexionen über die Wahrnehmung und Bedeutung von Kunstwerken. Nicht die Primärerfahrung von Kunstwerken steht im Zentrum, sondern die Denkerfahrung im Umgang mit jenen Reflexionsgebilden, die wir Ästhetiken nennen. Gleichwohl sind solche Reflexionsgebilde ergiebige Beschäftigungsobjekte, zumal sie gegenüber anderen von der Philosophie errichteten Gebäuden einen besonderen Zuschnitt, eine besondere Schräge und eine besondere Luftigkeit haben. Produzierende Künstler indes verabscheuen — zu Recht oder zu Unrecht — solche Gebilde, weil sie sich selbst in ihrem Wollen und Streben darin nicht wieder finden. Rückt jedoch — wie in letzter Zeit geschehen — die Rezeption von Kunstwerken ins Zentrum, so finden auch jene Gebilde wieder Beachtung, die die Wahrnehmung von Kunst anderen Formen von Erfahrung gegenüberstellen, der ethischen und der religiösen Erfahrung.

Sprechen wir mit Jüngel von ästhetischer Wahrnehmung bzw. einem ästhetischen Verhältnis, so wird der Eindruck erweckt, als handele es sich immer um dieselbe Sache. Demgegenüber muss man in Rechnung stellen, dass die Ästhetiker des 19. Jahrhunderts griechische Tempel, die Laokoon-Gruppe und Goethe-Verse vor Augen hatten, während unser Jahrhundert bei der Frage nach der Kunst an ‘Guernica’, ‘Warten auf Godot’, Pollock, Rothko und andere, eher ms Schwarz tendierende künstlerische Ausdrucksformen denkt. Auch bei zeitgenössischen Vorstellungen der Ästhetik variieren die Begriffe. Der ‘Kunstgenuss’ bei Jauß ist nicht identisch mit dem ‘Glück des Standhaltens’ bei Adorno, das bereits in eine ethische und religiöse Dimension eintritt. Wird darum im folgenden von einer durch Kunst vermittelten Wahrnehmungsweise gesprochen, so sei ein Vorbehalt angemeldet, zumal das ‘Glück’, einen griechischen Tempel zu betrachten, etwas anderes ist als die Anstrengung, Becketts ‘Endspiel’ durchzustehen. Jüngel siedelt den Kunstbegriff in der Nähe von Kunst als ‘schönem Schein’ an, um ihn der Offenbarung Gottes im Gekreuzigten entgegenzustellen. Entwickelte er eine ästhetische Position, die auf der Erfahrung von Gegenwartskunst beruht, wäre diese Gegenüberstellung — Kunst gegen Kreuz — nicht einfach nachzuvollziehen: Denn Kreuz, Leiden, die sub-contrario-Erfahrung sind der Kunst dieses Jahrhunderts keineswegs fremd, sondern genau genommen sogar ihr Grundzug. Der ‘Kunst des Schwarzen’ lässt sich die theologia crucis nicht so eindeutig polar entgegensetzen wie der Kunst des schönen Scheins. Doch nun der Reihe nach.

‘Schöner Schein’ contra Ideal des Schwarzen

»Auch das Schöne muss sterben«, dieses Schillerzitat markiert die erste Halbzeile von Jüngels Aufsatztitel. »Schönheit im Lichte der Wahrheit« - gemeint ist die christliche Wahrheit, die Wahrheit des Gekreuzigten - ist der zweite Teil des Titels. Was ist das für eine Schönheit, die beim Erscheinen der Wahrheit des Gekreuzigten sterben muss?

In seinen Ausführungen über die Kunst oder das Schöne begegnen bei Jüngel zwei Sichtweisen. In der einen Sichtweise wird das Kunstwerk in seinem Werkcharakter in den Vordergrund gerückt. In der anderen geht es um den Betrachter, um den Vorgang der Wahrnehmung. Die Anknüpfung erfolgt bei Kant. Das Schöne unterbricht den durch Kausalität und Zwecke determinierten Wirklichkeitszusammenhang als Zweckmäßigkeit ohne Zweck’ und entspricht damit auf Seiten des Betrachters dem interesselosen Wohlgefallen (S. 110). »Schön ist, was aus dem Rahmen fällt — aus diesem durch Kausalität und Zweck bestimmten Rahmen« (ebd.). Indem das Schöne den natürlichen Zusammenhang durchbricht — aus dem Rahmen fällt —, tritt es — metaphorisch gesprochen — dem Ganzen gegenüber. Das Kunstwerk »überbietet ... den Wirklichkeitszusammenhang ... Es überbietet ihn, indem es ihn in sich versammelt« (ebd.). Im Brennspiegel der Kunst wird zum einen der Wirklichkeitszusammenhang exemplarisch ‘repräsentiert’ (S. 111), zum anderen tritt das Kunstwerk auf Seiten des Wahrnehmenden in einen neuen Zusammenhang. Das Schöne repräsentiert die Ganzheit, indem es deutlich macht, dass der Wirklichkeit und damit auch der menschlichen Existenz die Ganzheit fehle. Das Schöne lässt »den gewohnten Lebenszusammenhang ‘neu sehen’« (ebd.). Zugleich wird im Schönen Zukunft antizipiert im Schein möglicher Vollendung. »Das Schöne ist — nicht unähnlich dem, was die Alten unter Sakrament verstanden — ein signum efficax: ein den Schein des Ganzen erzeugendes Zeichen« (S. 112). Der schöne Schein als Repräsentanz für das ausstehende Ganze führt beim Betrachter zu einer ekstatischen Erlebnisform. »Wir wollen sie die ästhetische Freiheit nennen und darunter die Freiheit einer elementaren Enthemmung verstehen, die weder auf das natürliche Reich der Kausalität noch auf das moralische Reich zweckgerichteten Handelns Rücksicht nimmt, aber gerade deshalb zumindest auf das Zweite ungeheuren Einfluss zu nehmen vermag« (S. 113). Die ‘elementare Enthemmung’ ist ein anderes Wort für das, was die Ästhetiken des 19. Jahrhunderts und neuerdings vor allem Jauß' ästhetischen Genuss nennen. Das Schöne führt zur Selbstvergessenheit, es nimmt gefangen, es steigert das Lebensgefühl. »Auf jeden Fall enthemmt das Schöne den es als schön Wahrnehmenden: es kommt zur Enthemmung des Entzückens, der Bewunderung, der Betroffenheit des Entsetzens — eine Enthemmung, die man gern als ausgesprochen religiöses Ereignis bezeichnet hat und die selbst den kritischen Kant veranlasst hat, sie als ‘etwas einem religiösen Gefühl Ähnliches’ zu bezeichnen« (S. 114).

Indem die Wahrnehmung des Schönen derart entweltlicht wird, dass Wirklichkeit — im gewöhnlichen Sprachgebrauch verstanden — in der Kunsterfahrung nicht mehr vorkommt, gewinnt die ästhetische Erfahrung theologische Relevanz. Zum Ewigen im Jetzt hochstilisiert, wird die Erfahrung von Kunst religiös derart aufgeladen, dass der christliche Glaube ins Hintertreffen zu geraten droht. Die Wirklichkeit zu verlassen und jenseits der Zwänge das himmlische Manna zu kosten, führt naturgemäß zum Konflikt mit der Theologie. Jüngel: »Es könnte vielmehr die durch das Schöne ausgelöste Enthemmung zu einer solchen Steigerung des Lebensgefühls und Lebensvollzuges führen, die in ihrer unbestreitbaren Religiosität vom christlichen Glauben als ausgesprochener Baalsdienst identifiziert werden und mit Kierkegaards Entweder-Oder konfrontiert werden muss« (S. 115).

Halten wir an diesem Punkt kurz inne. Das Kunstwerk an der Schnittstelle von Wirklichkeit und etwas anderem ist ein Topos, der im Denken über Kunst oft wiederkehrt. Der kritisch-polemische Aspekt und der utopisch-verheißende Aspekt werden dabei unterschiedlich bewertet.[3] Je nachdem, ob man das Gewicht mehr auf die gesellschaftliche und existentielle Verfassung des Menschen richtet, oder ob man das Prinzip Hoffnung in den Vordergrund rückt, ist der Akzent ein anderer. Betont Ernst Bloch den Charakter von Kunst als ‘Vorschein’, ist Adorno hierbei zurückhaltender: »Ästhetische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das der Identitätszwang in der Realität unterdrückt. Nur vermöge der Trennung von der empirischen Realität, die der Kunst gestattet, nach ihrem Bedürfnis das Verhältnis von Ganzem und Teilen zu modeln, wird das Kunstwerk zum Sein zweiter Potenz.«[4] Die Hoffnung der Kunst wäre nach Adorno eine ‘Hoffnung gegen alle Hoffnung’ um es einmal biblisch auszudrücken. Nur negativ ließe sich formulieren, was Kunst leistet. »In der falschen Welt ist alle ήδονή falsch. Um des Glücks willen wird dem Glück abgesagt« (Adorno, a. a. O., S. 26). »Glück an den Kunstwerken wäre allenfalls das Gefühl des Standhaltens, das sie vermitteln. Es gilt dem ästhetischen Bereich als ganzem eher als dem einzelnen Werk« (ebd., S. 31).

Jüngels Begriff der ‚elementaren Enthemmung’ für das, was im Erleben von Kunst widerfährt, erscheint der Kunst der Moderne gegenüber seltsam fremd. Picassos ‚Guernica’ gegenüber wäre m. E. die Kategorie ‚Enthemmung’ denkbar ungeeignet. Die bedeutendsten Werke dieses Jahrhunderts führen eher in Erfahrungen anderer Art: dass man verstummt, dass man die Sprache verliert, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dass man aufschreien will, dass man durch die Zirkuskuppel geschleudert wird, ohne zu wissen, ob man aufgefangen wird usw. Wenn in der Gegenwartskunst ein Begriff ausgesprochen unpassend ist, so ist es der Begriff ‘schöner Schein’. Adorno: »Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz. Viel zeitgenössische Produktion disqualifiziert sich dadurch, dass sie davon keine Notiz nimmt, etwa kindlich der Farben sich freut. Das Ideal des Schwarzen ist inhaltlich einer der tiefsten Impulse von Abstraktion ... In der Verarmung der Mittel, welche das Ideal der Schwärze, wenn nicht jegliche Sachlichkeit mit sich führt, verarmt auch das Gedichtete, Gemalte, Komponierte; die fortgeschrittensten Künste innervieren das am Rande des Verstummens« (S. 65 f.).

Gleichwohl wäre aber daran festzuhalten, dass auch das — im metaphorischen Sinn — schwärzeste Bild, sofern es ein Kunstwerk ist, in sich eine Ordnung repräsentiert, die von anderer Qualität ist als der bloße Aufschrei des Gequälten. Solche Bewältigung an einem Kunstwerk zu erfahren, es Glück zu nennen und zu weinen, weil es innerhalb der falschen Welt noch Gültiges gibt — wenn auch bloß fragmentarisch —, dies ist freilich viel. Wem Kunst etwas bedeutet, ist daran gelegen, dass das Unsagbare der ästhetischen Erfahrung nicht durch Worte des Kulinarischen oder des Erotischen ‘niedergemacht’ wird. Im Kunstwerk geht es nicht weniger um Erkenntnis als in anderen Formen, in denen Wahrheit auf dem Spiel steht. Gleichwohl ist die Weise, wie Wahrheit erschlossen wird, im Kunstwerk eine andere als im begrifflichen Denken. Ob damit der Weg der Kunst — wie Adorno meint - dem Weg der Philosophie - einer zu Ende gegangenen Philosophie freilich — überlegen ist, sei dahingestellt. Der Weg ist jedenfalls ein anderer.

Die Distanzierung von den Begriffen ‘schöner Schein’ und ‘elementare Enthemmung’ soll nicht vergessen machen, dass Jüngel letztlich zuzustimmen ist, wenn er die Erfahrung von Kunst in die Nähe der Religion stellt und dem Kunstwerk einen theologischen Stellenwert beimisst. Man müsste es nur anders formulieren: Indem in der ästhetischen Form des Kunstwerks der Wirklichkeitszusammenhang durchbrochen wird und der Riß, der das Leben durchschneidet, ‘symbolisch’ artikuliert wird, wird evident, dass es bei Kunst um Fragestellungen letzthinniger Relevanz geht. Wo man im Idealismus vom ‘schönen Schein’ sprach, müsste man heutzutage vom ‘Riß’ reden. An diesem Punkt entspricht die Kunst der Gegenwart nicht der Religion in der Barthianischen Fassung von Selbsterlösung, Baalsdienst usw. Dass angesichts der vielfachen ‘Offenbarungen des Schreckens’ in der Gegenwartskunst aus der Vergangenheit oft Matthias Grünewald als Kronzeuge herangezogen wird, belegt erneut, dass der ‘schöne Schein’ eine ungeeignete Kategorie ist, um die Wirkung von Gegenwartskunst zu beschreiben. Trotzdem: Jüngel ist zuzustimmen, wenn er von einem theologischen Stellenwert (S. 114) spricht. Aber: Es ist nicht die Ferne, sondern gerade die Nähe zur Kreuzeserfahrung, die in solcher Kunst in den Diskurs gebracht werden müsste.

Was ist wahr? Was ist schön?

Müsste angesichts dessen auf den Begriff des Schönen generell verzichtet werden? »Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne«, schreibt Adorno (a. a. O., S. 41). Bedeutet dies, dass man nur dann von einem echten Kunstwerk sprechen kann, wenn man die Zerrüttung, »das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert« (Adorno, ebd.), wahrnehmen kann? Adorno würde den Begriff des Schönen als Konstitutivum für Ästhetik ablehnen. »Dass Kunst im Begriff des Schönen nicht aufgeht, sondern, um ihn zu erfüllen, des Hässlichen als seiner Negation bedurfte, ist ein Gemeinplatz ... Wenn überhaupt, ist das Schöne eher im Hässlichen entsprungen als umgekehrt« (ebd., S. 74/81).

An diesem Punkt kommt es zu einer inneren Verbindungslinie zwischen Adorno und Tillich.[5] Tillichs Entscheidung für das Expressive als Charakteristikum des Religiösen in der Kunst zielt tendenziell in die gleiche Richtung. Überall dort, wo in zeitgenössischer oder historischer Kunst das expressive Stilmerkmal dominiert, sieht Tillich eine Nähe zu Religion im Sinne dessen, »was unbedingt angeht«.[6]

Speziell der Protestantismus, der im Unterschied zum substanzorientierten Katholizismus das kritische, sprengende Moment des Glaubens an die erste Stelle rückt, ist mit dem expressiven Element — so Tillich — besonders verbunden. Das Kriegsbild ‘Guernica’ von Picasso nennt Tillich darum ein protestantisches Kunstwerk’[7], weil hier die Wirklichkeit von allem Schein und Trug entblößt, weil hier der Mensch in seinem Sein coram Deo sichtbar wird. »Das protestantische Prinzip ... betont die unendliche Distanz zwischen Gott und Mensch. Es betont, dass der Mensch endlich ist und dem Tode unterworfen; vor allem aber, dass er seinem wahren Sein entfremdet ist und beherrscht wird von den dämonischen Kräften der Selbstzerstörung« (Tillich, a. a. O.). Die Wiedervereinigung mit Gott kann nie als menschliche Möglichkeit vorgestellt werden. Das Neue Sein ist schlechthin unverfügbar. Hier ist Gott allein der Handelnde, der Mensch ist lediglich Empfangender. Weiter Tillich: »Solches Empfangen ist natürlich nicht möglich in Passivität, sondern erfordert den höchsten Mut; den Mut nämlich, das Paradox anzunehmen, dass der Sünder gerechtfertigt ist, dass es der Mensch in Angst, Schuld und Verzweiflung ist, der von Gott unbedingt bejaht wird« (a. a. O.).

Die Kunst mit dem Stilmerkmal Expressivität bekommt damit eine eminent theologische Rolle zugewiesen. Durch die expressive Kunst wird die falsche Maske weggezogen und die Tiefendimension, der Riss in allem Leben, offenbar. Tillich sieht in solcher Kunst einen Bundesgenossen der Theologie, weil sie von Sünde und Entfremdung des Menschen weiß. Die innere Verbindung zwischen Tillich und Adorno ist offenkundig: Das Expressive von Tillich hat eine Entsprechung in der Entlarvungsfunktion der Kunst bei Adorno, in der die gesellschaftliche Wirklichkeit als Entfremdungs- und Verblendungszusammenhang aufgezeigt wird. Die Bestreitung des Schönen, mehr noch die Denunzierung des Schönen als falschen Scheins, der den Riss zukleistern könnte, verbindet den Philosophen mit dem Theologen. Gleichwohl bleibt ein Unterschied, weil Tillich dieser das Sein coram Deo aufweisenden Kunst die Verkündigung vom Neuen Sein in Christus gegenüberstellt. Dem Philosophen ist ein solcher Zweitakt naturgemäß versagt. Das heißt, Adorno findet keinen Punkt, der jenseits der Negativität des Entfremdungszusammenhanges bliebe. Alle Versuche, das Kunstwerk dialektisch zu einem Vehikel der Versöhnung zu machen, werden bei Adorno negiert. Vermöge der in ihm anwesenden Kraft der Negativität ist das Kunstwerk wahr. Die Versöhnung durch die Kunst ist im dialektischen Sinn ‘unvorstellbar’ und ‘undenkbar’ und hält damit in ihrer Negativität an Wahrheit fest. Von den Kunstwerken, die als einziges in der empirischen Welt ein Stück Wahrheit aufleuchten lassen, heißt es: »Im Verhältnis zur empirischen Realität erinnern sie an das Theologumenon, dass im Stande der Erlösung alles sei, wie es ist und gleichwohl alles ganz anders« (Adorno, a. a. O., S. 16). Eine Ästhetik als Theorie des Schönen ließe sich darauf nicht aufbauen und wäre nach Adorno ein Missverständnis.

»Schönheit« als ästhetische Kategorie?

Sollte man darum mit Adorno auf den Begriff des Schönen vollends verzichten? Verzichtet man auf den Begriff des Schönen, kommt man in die unglückliche Situation, für ein wichtiges Phänomen, das im Umgang mit Kunst widerfährt, keinen Namen mehr zu haben. Ein Beispiel: Der künstlerische Weg von Franz Marc aus der Welt des Menschen in die Welt des Tiers bis hin zur vollständigen Abstraktion ist ein dramatischer Weg, bei dem persönlich Erfahrenes, die großen Aufbrüche der Moderne und der Schrecken des Ersten Weltkriegs eine Rolle spielen. Aber zweifellos gab es bereits zur Zeit von Franz Marc Zeitgenossen, und erst recht gibt es heutzutage Menschen, die diese Bilder als ‘schön’ bezeichnen würden. Es sind Bilder, die wir Kunstwerke nennen, weil in ihnen aufgrund des ihnen immanenten Ordnungsprinzips ein Stück Welt neu errichtet wurde. Mag apokalyptische Erfahrung’ beim Künstler im Spiel gewesen sein, was er schuf und was Bestand hat sind jene die Negativerfahrung artikulierenden und im doppelten Sinne aufhebenden Kunstwerke. Ähnliches ließe sich von Kandinsky sagen. Hat man einmal begriffen, dass die gegenstandslose Kunst nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern eigene Bildwelten schafft, so mögen die Bildwelten von Kandinsky als Gegenwelten, als eigener, autonomer Bereich begriffen werden. Vor allem den später Geborenen fällt es schwer, das Explosiv-Dissonante, wie es beim ersten Erscheinen eines Kunstwerks anzutreffen war, noch einmal nachzuvollziehen. Chagall ist möglicherweise der beliebteste Künstler dieses Jahrhunderts. Wer in seine Färb- und Symbolwelt eindringt und die Konstitution der Bildwelt Chagalls als Selbstverständliches hinnimmt, muss sich jedoch darüber im klaren sein, dass bei Chagall nicht nur geträumt wird und dass auch seine Kunst bei den Nationalsozialisten als entartet angesehen wurde. Matisse wird heutzutage nicht als ein Fauve, sondern als ein ‘Klassiker der Moderne’ verehrt. Und selbst bei Beuys, der vor Jahren noch geschmäht wurde, ist sich die Fachwelt — zumindest in Bezug auf die frühen Zeichnungen — einig, dass dies einzigartige, sensible Gebilde seien von eigener ‘Schönheit’. — Picassos ‘Guernica’ ist ein erschütterndes Bild. Selten wurde der Aufschrei der leidenden Kreatur angesichts des Krieges in einer solch gültigen Weise präsent. Aber dieses Bild ist nicht allein eine Anklage gegen den Krieg, sondern es ist ein Kunstwerk, für viele das bedeutendste Kunstwerk dieses Jahrhunderts. Das ‘Schöne’ von Picassos ‘Guernica’ ist nicht identisch mit dem Begriff von Schönheit als dem ‘sinnliche(n) Scheinen der Idee’ (Hegel). Die dem Schönen widerstreitende Linie ließe sich fortsetzen mit Bacons ‘Cruzifixions’, Arnulf Rainers Übermalungen, Falkens ‘Christussen’, Knaupps Menschenbildern, Hrdlickas Pasolini-Zyklus usw. Allen diesen Kunstwerken, so schockierend sie sein mögen, wohnt ein Eigenes inne, das das Schreckliche in eine Form gebracht hat, die kraft ihrer Gültigkeit uns von einem Kunstwerk sprechen lässt. Sollte man deshalb am Begriff des ‘Schönen’ festhalten?

Im Kunstwerk ist der Wirklichkeitszusammenhang — metaphorisch gesprochen — ‘unterbrochen’. Aus gesprungenem Material wurde kraft der künstlerischen Gestaltung ein Neues geschaffen, das die Zerstörung nicht negiert, sie aber im Bild zu bezeichnen und zu bannen vermag. Will man daraufhin am Begriff des Schönen festhalten, müsste man ihn zumindest in solcher Dialektik begreifen. Gegen Adorno müsste man sagen, dass der Begriff des Schönen, dialektisch verstanden, als Konstitutivum für Kunst beibehalten werden müsste. Ohne eine solche auf die bewältigte Form bezogene Definition ließe sich der Schrei des Gefolterten nicht vom ‘Schrei’ in den Werken von Munch, Bacon oder Falken unterscheiden. Von seinem unmittelbaren Wirklichkeitsbezug betrachtet, ist der Schrei des Gefolterten mehr als der ‘Schrei’ in den Kunstwerken. (Der Tod und die Verletzungen der zweitausend Menschen von Guernica sind ebenfalls ‘grausamer’ als das Picasso-Bild.) Nicht die Authentizität in Bezug auf eine Wirklichkeitserfahrung konstituiert das Kunstwerk, sondern die Bewältigung solcher Erfahrung m der gültigen Form des geschaffenen Werkes. Schönheit, so verstanden, hat aber nichts mit dem ‘schönen Schein’ zu schaffen; sie ist ihm als ‘Bewältigung des Dunklen’ geradezu entgegengesetzt.

Wahrheit der Kunst und theologica crucis

Erneut folgen wir Eberhard Jüngels Aufsatz, in dessen zweitem Teil es um eine Zuordnung des Schönen zur Wahrheit des christlichen Glaubens geht. Um die Schönheit der Kunst mit der Wahrheit des Evangeliums in Beziehung zu bringen, bedient sich Jüngel der Lichtmetaphorik, die er für Gott, Welt, Kunstwerk und Evangelium je anders beschreibt.

a.     Gott ist das unzugängliche Licht im Sinne von 1. Tim 6, 16, der allen Dingen Anteil an seinem Licht gegeben hat und weiter gibt.

b.     Diesem Licht steht das Weltlicht entgegen, das in seinem Schein, besser noch in seinem Blenden, die Dinge verunklärt. Das irdische Blendwerk verhindert, Gott in seinem Licht, das aus den Dingen hervorleuchtet, zu sehen.

c.     Vom Kunstwerk sagt Jüngel: »Das Schöne, das Kunstwerk, erscheint in eigener Souveränität. Es zehrt nicht vom erborgten Licht. Zwar wird es zweifellos im Sonnenlicht und in seinen metaphorischen Derivaten wahrgenommen. Aber dass es eigens und den üblichen Wahrnehmungszusammenhang unterbrechend in die Sinne fällt, das verdankt es einem von ihm selbst ausgehenden Licht. Das Schöne scheint selbst. Es leuchtet. Es erscheint im Lichte seines eigenen Seins« (S. 117).

Gegenüber den anderen Dingen zeichnet sich das Kunstwerk durch ein von ihm selbst ausgehendes Licht aus im Sinne des von Heidegger gebrauchten Mörike-Zitats: »Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.« Die eigene Strahlung der Schönheit, die in ihrem eigenen Sein aufstrahlt, hebt das Kunstwerk über das Gegebene hinaus. Außerhalb des Glaubens wäre das Kunstwerk das einzig Wahrnehmbare, das an die Wahrheit heranreicht: »In der schönen Erscheinung des Kunstwerks leuchtet die Wahrheit, strahlt sie auf« (S. 117). Es ist ‘Vorschein der Wahrheit’, das ‘Scheinendste von allem’ (S. 121), aber damit noch nicht die Wahrheit selbst. Es steht als Garant für die Wahrheit, hält einen Platz frei, insofern es den Wirklichkeitszusammenhang unterbricht, aber die Wahrheit ist es nicht, es ist endlich, vergänglich, muss »vergehen, damit das Wahre selbst kommen und erscheinen kann« (S. 123).

d.      Damit wird der Weg frei für das Erscheinen der Wahrheit, die mehr ist als Vorschein und schöner Schein. »Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus tilgt allen schönen Schein. Sie muss ihn tilgen, weil sie nicht Vorschein der Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst ist« (S. 124).

Hat man die Hochstilisierung des Kunstwerkes im Sinne der Schein-Metaphysik mit ihren Platonismen noch im Ohr, so kommt diese Wendung keineswegs überraschend. Das Kunstwerk wurde offenbar zuvor derart metaphysisch aufgeladen und ins eigne Glänzen gebracht, dass die christologische Brechung durch den, der »keine Gestalt noch Schöne hat« Qes. 53, 2), nahezu unvermeidlich wurde. Die Exklusivität des Wahrheitsanspruchs in Jesus Christus, die Verborgenheit Gottes in der Gestalt des Gekreuzigten, lässt den Wahrheitsanspruch der Kunst selbstverständlich als nichtig, als vorvorläufig erscheinen. Liest man Jüngels Ausführungen gar vor dem Hintergrund von Picasso, Bacon, Beckett und Celan, so will angesichts von soviel Schwarz im Sinne Adornos die neuplatonische Lichtmetaphorik nicht recht passen. Diese Begrifflichkeit erscheint mir angesichts der Kunstpraxis dieses Jahrhunderts als ganz und gar unangemessen. Offensichtlich bedurfte es einer solchen Licht-Ästhetik als Inszenierung, um die Wahrheit des Gekreuzigten davon abzuheben. Gegenwärtige Kunstwerke und gegenwärtige Kunsterfahrungen geben zu jener sakralisierten Sichtweise von Kunst jedoch keinerlei Anlaß. Hält man gleichwohl am Begriff des Schönen fest, so ist damit mangels eines besseren Begriffs jenes im Werk gemeint, das, dem Leid der Welt abgerungen, im Werk zu einer neuen Form gefunden hat. Spricht man von der ‘Schönheit’ von ‘Guernica’ — im Unterschied zu einer Kriegsreportage im Fernsehen —, so ist dies eine Schönheit sub contrario, die Bewältigung des Dunklen. Erst im Umgang mit dem Abgrund, der sich hier auftut, wird man gewahr, dass hier einer 1937 an einem Punkt eine ‘Sprache’ fand, wo andere sich bloß entsetzten.

Den Wahrheitsanspruch von Kunst gilt es, mit dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens in Beziehung zu setzen. Sagt nun der Theologe, die Kunst ist nicht die ganze Wahrheit, die ganze Wahrheit ist Christus, so ist dies logisch eine Behauptung, theologisch ein Bekenntnis. Eine solche Aussage bewegt sich aber jenseits des rationalen Diskurses, sie ist sogar diskursvernichtend. Andere würden nur von einem Wahrheitsanspruch der Kunst sprechen, auch diese Position wäre diskursvernichtend. Der Vertikalität der diskursverhindernden, christlichen Position wäre entgegenzuhalten, dass alle Aussagen hinsichtlich des christlichen Glaubens im endlich-geschichtlichen Rahmen gemacht werden, wobei der Aussagende sich seiner endlichen, noch nicht abgeschlossenen Erkenntnis bewußt sein sollte. Wird im theologischen Raum Offenheit, das nach vorn hin Offene gefordert, so muss sich eine solche Forderung auch gegen solche Formulierungen wenden, die die Offenheit in Frage stellen und sich dem Diskurs entziehen. Die ästhetische Erfahrung ist nach Jüngel fragil, nur augenblickhaft, »nur eine diesen Weltzusammenhang unterbrechende Erfahrung« (S. 125). Richtig so! Aber ist die Erfahrung des Glaubens einzementiert?

Eine schroffe Entgegenstellung der Wahrheit der Kunst und der Wahrheit des Glaubens will gegenwärtig nicht mehr glücken. Vielleicht ist Jüngels vertikaler christologischer Einbruch nach soviel intensiver Bemühung um die Wahrheit der Kunst ein Indiz dafür, wie schwer es ist, beide so in Beziehung zu setzen, dass einerseits die Wahrheit der Kunst nicht nivelliert und banalisiert und andererseits die Einzigartigkeit des Evangeliums nicht verleugnet wird. Fern von Absolutheitsansprüchen sollte die eine Seite die Suchbewegung der anderen Seite in Richtung auf die von beiden zu findende Wahrheit anerkennen. Das betrifft die christliche Position ebenso wie jene Position, die meint, Kunst und Ästhetik hätten Religion und Theologie längst beerbt und seien deren legitime Nachfolger. Nur wenn beide Seiten bereit sind, dem anderen zu bestätigen, dass seine Aufrichtigkeit in der Suche nach Wahrheit um keinen Punkt geringer ist als die eigene, kann es zu einem Gespräch kommen.

Der Umgang der Kirche mit der Gegenwartskunst belehrt die Kirche, dass auch außerhalb der Kirchenmauern Wahrheitsansprüche angemeldet werden, die strukturell ähnlich sind. Beide, Kirche und Kunst, sind innerhalb der Gesellschaft zu Randphänomenen geworden. Für das ebenfalls an den Rand gedrückte Individuum sind beide Hoffnungsträger, insofern sie beide Anwalt des Menschen mit seinen Abgründen und Sehnsüchten sind. Kunst und Religion ‘fallen aus dem Rahmen’ — um erneut diesen Begriff aufzugreifen —, insofern sie einer funktionalisierten Wirklichkeitssicht ein anderes entgegenstellen. Beide haben es mit menschlicher Ganzheit zu tun, auch wenn die Hoffnung auf Ganzheit auf unterschiedliche Weise wachgehalten und unterschiedlich ausgefüllt wird.

Angesichts des gemeinschaftlichen, irdisch betrachtet nahezu aussichtslosen, Kampfes gegen die Technokratisierung und Verwertbarkeit des Menschen erscheint mir die Betonung der Nähe von Kunst und Kirche wichtiger als die Ausarbeitung ihrer Konkurrenz in der Wahrheitsfrage. Beschäftigt sich die bildende Kunst dabei mit Themen des Christentums, muss man damit rechnen, dass von der Kunst Wege beschritten werden, die mitunter zu neuartigen oder gar fremdartigen Deutungen christlicher Inhalte führen. Eine solche Spannung ist produktiv für beide Seiten.

Der Theologe sollte akzeptieren, dass der Künstler bei seiner Suche nach Wahrheit womöglich einen anderen Weg beschreitet als er. Beide, Kirche und Kunst, sind grundsätzlich in der gleichen Situation. Beide sind Fragende und Suchende gegenüber der Wahrheit, die offen ist und nicht durch Antwortsysteme verstellt werden darf. Mag Kirche ihren eigenen Wahrheitsanspruch womöglich ‘höher’ veranschlagen, so ist — irdisch betrachtet - ihre Form der Wahrheitssuche mit anderen Formen des Suchens aufgrund der grundsätzlichen Offenheit von Wahrheit auf der gleichen Stufe.

Anmerkungen

[1]    Rainer Volp, »10 Thesen zum Verhältnis bildende Kunst und Kirche« (1974); in: Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder beute, hg. von Beck, Volp und Schmirber. München 1984, S. 289-294, S. 292.

[2]    Eberhard Jüngel, »’Auch das Schöne muss sterben’ — Schönheit im Lichte der Wahrheit. Theologische Bemerkungen zum ästhetischen Verhältnis.« Zeitschrift für Theologie und Kirche, 1984, S. 106 — 126.

[3]    Die Gegenüberstellung des kritischen gegenüber dem utopisch-verheißenden Potential von Kunst wird eigens thematisiert in: Günter Rombold, Kunst — Protest und Verheißung. Eine Anthropologie der Kunst. Linzer Philosophisch-theologische Reihe, Band 7, Linz 1976.

[4]    Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt 1970, S. 14.          

[5]    Adorno war in Frankfurt kurze Zeit Tillichs Assistent, welcher auch Adornos Habilitation betreute. Wer wen in Sachen Kunst beeinflusst hat, ist schwer sichtbar zu machen. Die >unterirdische< geistige Verwandtschaft beider Denker ist womöglich größer als angenommen. Der Bereich der Kunstauffassung ist nur ein Spektrum innerhalb des Komplexes philosophischer-theologischer Gemeinsamkeit.

[6]    Hierzu die Aufsätze von Paul Tillich, Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Gesammelte Werke IX, Stuttgart 1967, S. 312-368.

[7]    Paul Tillich, »Protestantismus und Expressionismus«; in: Almanach für das Jahr des Herrn 1959, Hamburg 1959, S. 80.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/56/hs9b.htm
© Horst Schwebel, 2008