Menschwerdung oder Entgöttlichung

Was bedeutet Kenosis?

Christoph Fleischer

Rezension von Onno Zijlstra (ed.) Letting go. Rethinking Kenosis. Peter Lang Bern 2002, ISBN 3-906769-24-0

Bei aller auch möglich kritischer Würdigung ist heute die herausragende Bedeutung des Denkens von Gianni Vattimo aufzugreifen, der bereits jetzt eine erhebliche Wirkungsgeschichte angestoßen hat. Das Denken dieses postmodernen italienischen Philosophen widmet sich in den letzten Jahren der Wiederkehr der Religion. Seine Hauptthese ist allerdings, die christliche Religion sei eigentlich nie weg gewesen, sondern befinde sich im Bereich der Säkularisierung bei ihrem eigenen Thema, der sog. Kénosis Gottes in Jesus Christus. Die Menschwerdung, ja vor allem die Kreuzigung Jesu sind ein völliger Machtverzicht Gottes, sind Entgöttlichung und Vermenschlichung. Klar ist so, dass Vattimo sowohl eine Vorlage gibt, um die Verbindung zwischen Theologie und Philosophie neu zu denken, andererseits aber zugleich Positionen vertritt, die theologisch und philosophisch kritisch zu bedenken sind. Dabei sind außerdem wichtige philosophische Denker und Denkerinnen zwar mit in seinem Boot der Postmoderne, setzen aber in der Position in Bezug auf die Religion andere Akzente: Julia Kristeva, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida.

Dieses Buch der niederländischen theologischen Universität Kampen (NL) dokumentiert einen internationalen und interdisziplinären Diskussionsprozess. Die Arbeit der hier dokumentierten Wissenschaftler lässt sich als sprachliche und inhaltliche Drehscheibe bezeichnen, die einen multiplen Dialog zwischen vielen westeuropäischen Denkern erzeugt, der dringend einer deutschsprachigen Bearbeitung bedarf. Es ist doch bezeichnend, dass so manche Begriffe in deutscher Sprache auftauchen, die z.B. über Vattimo von Heidegger oder über die Theologen von Karl Barth oder Hans Urs von Balthasar in die Diskussion eingebracht werden, dass aber die deutschsprachige Theologie im wesentlichen in der Vergangenheit liegt und in der Gegenwart keine Rolle mehr zu spielen scheint. Dass Fritz de Lange in seinem Bericht über die Arbeit Vattimos noch nicht einmal auf die Idee kommt, Dietrich Bonhoeffers Position zur Mündigkeit zu erwähnen, obwohl er selbst ein Buch über Bonhoeffer geschrieben hat, ist bezeichnend. Die deutschsprachige Theologie hat sich anscheinend aus dieser internationalen Diskussion ausgeklinkt oder wird, falls sie sich doch daran beteiligt, nicht wahrgenommen. Doch darunter leidet die Qualität dieses Buches keinesfalls.

Es bietet zwei sehr gute Exegesen zu Philipper 2, 5-11, wobei ich die Arbeit von Graham Ward mit besonderem Interesse verfolgt habe, der im Übrigen der einzige Nicht-Niederländer unter den Autoren ist, seinerseits Theologieprofessor in Manchester (GB). Die Exegese von Philipper 2, 5-11 geht von der Grundbedeutung von kénosis als der Inkarnation aus, beobachtet aber sehr scharf, dass hier im Text zweimal von morphé, Form, die Rede ist. Der, der "in the form of" war, erweist sich nun als "taking the form of". Inkarnation also ist eine Rede von Gott, die zugleich eine Rede vom Menschen ist. Christologie begründet hier zugleich eine Anthropologie, als dem Bild Gottes. Morphologisch gesagt: "Christus existierte in der Form von Gott aber in der Entleerung wurde er die Form des Sklaven." Er nahm die menschliche Gestalt (Bild) an und befand sich in menschlicher Form. Seine Machtlosigkeit findet sich in der Übernahme der Sklavengestalt wieder. Doch dabei bleibt es nicht. Er bekommt einen neuen Namen, der Name über alle Namen ist. Diese Neubenennung setzt sich in der Kirche fort. Es geht nach Philipper 2 in der Kenosis um drei Schritte: die Gegenwart des Göttlichen in Christus, die stellvertretende Hingabe Christi und die Neubenennung sowie ihre Übernahme im Glauben. Christus zeigt die Form Gottes in der Form des Sklaven. So wie das Johannesevangelium die Kreuzigung mit der Erhöhung identifiziert, so wird hier "Gott" und "Sklave" eins. In der Gestalt des Sklaven wurde Christus als Mensch geboren. Die menschliche Existenz endet in der Sklavenform. Sie ist nicht, sondern sie wird. Der Weg zum Vater führt zur Form Gottes zurück. Der Tod, die Kreuzigung, die die Existenz des Menschen Jesus auslöscht, die Abwesenheit Gottes und Einsamkeit Jesu sind nicht das Ende der Kenosis, denn Auferstehung und Neubenennung gehören hinzu. Wir gehen auf den Tod zu und über ihn hinaus. So wie Graham Ward hier den Schwerpunkt legt, landet er natürlich nicht wie Vattimo allgemein bei der säkularen Welt christlichen Ursprungs, sondern in der Kirche, die in der Feier der Eucharistie die Neubenennung des Erniedrigten immer wieder nachvollzieht. Interessant ist, dass hier die anglikanische Sichtweise in unserer Region eher als katholisch bezeichnet werden dürfte.

Doch dazu wird sicherlich die Linie Vattimos nicht verfolgt worden sein, um letztendlich zu einer positiven Kirchlichkeit zu finden. Deutlich ist aber schon, dass sich Vattimo einscheinend eher (wenn auch z. T. kritisch) an die Traditionslinie der katholischen Theologie anfügt und etwa die lutherischen und neulutherischen Auseinandersetzungen um den Kenosisbegriff nicht zu kennen scheint, den Rinse Reeling Brouwer in seinem Artikel verfolgt. Allerdings wird dadurch klar, dass Vattimo gleichwohl als Philosoph ein theologisch sehr zentrales Thema aufgegriffen hat. Die Theologen sagen nun natürlich irgendwo zu Recht, das Vattimo theologisch nicht differenziert genug argumentiert. Dennoch hat er gleichwohl eine der wichtigsten Grundfragen gestellt.

Dass Vattimos Denken heute einen Markierungspunkt darstellt, der nicht unbeachtet bleiben darf, zeigt auch Frits de Lange in seinem Artikel: "Kenotic Ethics: Gianni Vattimo, Reading the 'signs of time'". Er führt sehr gut die Entstehungsgeschichte seines Denkens aus der Literatur Nietzsches und Heideggers auf. Bewusst sollte gerade in unserer Fragestellung sein, dass er einen besonderen Umgang mit dem Ende des metaphysischen Denkens mit letzten Wahrheiten ins Gedächtnis gerufen hat, der schon Heidegger bewegte, dass nämlich die Metaphysik nicht einfach abgeschafft ist, sondern nur irgendwie verwunden werden kann (wie man eine schlechte Erinnerung verwindet, aber in sein Denken integrieren muss). Klar sind aber die Grundfakten: Es gibt kein anderes Sein als das Sein in der Zeit und das Sein als Sprache. Die Wahrheit ist immer schon Interpretation. Ein wirklich ebenbürtiger Gegenpart zu Vattimo schient allerdings immer noch Emmanuel Levinas zu sein, der sich ebenso wie Vattimo als Postmoderner versteht, aber den Gottesbegriff mit dem Begriff des Anderen phänomenologisch verbindet. Demgegenüber wirkt die Lehre Vattimos immer ein wenig individualistisch, wenn auch dieser Individualismus dem eigenen Selbst gegenüber eine gewisse Rechtfertigung besitzt.

Eine Anfrage habe ich gegenüber dem Artikel von Pieter H. Vos über das Denken Kierkegaards (im Vergleich zu Vattimo). Für Kierkegaard ist die Inkarnation eine Dialektik von Schwäche und Stärke. Vattimo dagegen sagt, Gott selbst habe sich vorbehaltlos in das menschliche Fleisch gegeben, Gott und Sklave, ganz im Gegensatz zur Omnipotenz. Für Kierkegaard entfernt sich das "schwache" Christentum von der Welt. Von diesem Gegensatz her wird die Geschichte in Frage gestellt. Das Sterben für die Welt geschieht mitten in der Welt und wird so zur Kritik an der Welt. Dieser Punkt fehlt anscheinend bei Vattimo, der schwaches Denken und Kenosis miteinander identifiziert. Dennoch frage ich mich, ob der Autor Kierkegaard wirklich richtig versteht, der seine Ausarbeitungen zum Christentum ja eher als außerkirchliche Kritik versteht: 'Wenn die Kirche ihren eigenen Glauben ernst nehmen würde, dann würde sie anders aussehen.' Kierkegaards Position ist mit den Aussagen seiner Texte über den Glauben nicht gleichzusetzen. Ob er so gesehen viel anders argumentieren würde als Vattimo sei dahingestellt, beide verstehen sich auf ihre Art als Atheisten, oder besser gesagt als Christen, die glauben wollen, aber nicht können.

Wichtig ist noch einmal auch die feministische Theologie, die von Akke van der Kooi ins Gespräch gebracht wird, sowie die Philosophie von Julia Kristeva, die Graham Ward erläutert. Erst durch die Argumente der feministischen Theologie wird wirkliche Konkretion mitbedacht: Wo Frauen unsichtbar gemacht werden, wird Gott erniedrigt. Frauen werden dadurch Opfer einer symbolischen Unterdrückung, durch die Vermännlichung der Bilder von Gott. Die Symbole müssen hinterfragt werden. Sie erinnert zu recht an die Trinitätslehre und daran, dass Gott sich als Beziehungswesen darstellt. Daraus erst leitet sich Gottes Beziehung zur Menschheit ab. Hier scheint in Bezug auf die Geschichte der Kenosis auf, dass der eigentlich Gewinn in der Gewinnung neuer Sprachmöglichkeiten jenseits der Gewalterfahrungen besteht. Vattimos Position vom "schwachen Denken", das der Gewaltlosigkeit verpflichtet ist, wird ausdrücklich gewürdigt.

Persönlich sehr interessant fand ich den Artikel von Gerrit Neven, der an die Theologie Oepke Noordmans (NL) erinnert. Es handelt sich dabei um eine sehr praxisbezogene Hermeneutik. Metaphysik lässt sich immer wieder überwinden, wenn man zum einen stark an der Realitätserfahrung bleibt und zum anderen die Sprachlichkeit jedes Redens auch der Religion ernst nimmt. Kenosis ist letztlich ein Sprachgeschehen. Der Vergleich zwischen Vattimo und Noordmans kommt zu folgendem Ergebnis:

  1. Die Transmission des Glaubens in die heutige Kultur ist heute gefragt. Die Sprache des Glaubens funktioniert nur als Sprache der Liebe. Der Grund liegt darin, dass Gott zum Menschen kommt.
  2. Die Theorie der religiösen Erfahrung setzt voraus, dass der Interpret in den Prozess der Übertragung persönlich einbezogen ist. Jeder hat nur eine Stimme. Die Vielzahl der Interpretationen gilt es zu akzeptieren. Entscheidend ist keine übergeordnete Autorität, sondern die Verantwortlichkeit der Interpreten.
  3. Das Grundbekenntnis ist die Freundschaft Gottes. Bei der Entdeckung dieses Gottes vollzieht sich eine Umkehr. Ein zurück zur gewaltgeprägten Theologie der Väter ist nicht möglich. Jesus weitet uns dem Blick auf das Kommende, nicht auf das Zurückliegende. Hierzu gehört die Offenbarung der Selbsterniedrigung als kreative Ermöglichung. Es geht nicht mehr um das Gericht, sondern um die Liebe.

Die Frage der Gewaltlosigkeit in der religiösen Sprache mag in der Perspektive Karl Barths oder sogar Jacques Derridas manchmal zunächst etwas anders erscheinen. Es ist ja auch die Frage, ob Vattimo wirklich den Gottesbegriff, oder das, was davon übrig ist, lediglich ins Diesseitige hinein auflöst. Klar ist andererseits, dass die Linien, die sich von Gianni Vattimo in die Theologie hinein ausziehen lassen, ruhig auch in unterschiedliche Positionen hinein differenzieren, nicht aber zurück in die Begrifflichkeit der Opferung und der Gewalt im Gottesbild.

Dieses Buch über Kenosis hätte eine deutsche Übersetzung verdient, damit diese Auseinandersetzung mit der Philosophie Gianni Vattimos auch im Land Nietzsches und Heideggers einen neuen Schub erhalten möge. Und damit möge auch hierin etwas mehr Klarheit entstehen, die zum einen darin besteht, den bestehenden Gegensatz zwischen Theismus und Atheismus als überholt zu entlarven und zweitens das Christentum von seiner Wurzel der Inkarnation her zu erneuern: Vattimo stellt sich ein Christentum vor, so schreibt Onno Zijlstra in seiner Einleitung, dass vom metaphysischen Denken befreit und dank der Säkularisation von gewaltsamen Strukturen und Dogmen befreit: Ein "schwacher Glaube" für nachmetaphysische Zeiten.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/55/cf12.htm
© Christoph Fleischer, 2008

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