Die Welt ist eine Scheibe

Digitale Bibliotheken

Andreas Mertin

Zenodot, den ersten Vorsteher der Bibliothek von Alexandria, gibt es bald nicht mehr. Zumindest virtuell, denn die Verlagsgesellschaft gleichen Namens überlagert im Internet alle Einträge ihres Namensgebers. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass Zenodot im Vergleich etwa zu seinem Nachfolger Kallimachos doch eher sekundär war. Kallimachos jedenfalls wird in der gleich vorzustellenden Bibliothek der Zeno.org ungleich häufiger erwähnt als Zenodot selbst. Beide waren in ihrer Zeit Leiter der legendären Bibliothek von Alexandria, an der sich die Verlagsgesellschaft Zeno.org orientiert. Wissen zu sammeln und Wissen zu präsentieren ist das verbindende Ziel.

Die Digitale Bibliothek ist von tà katoptrizómena schon häufiger mit ihren Produkten vorgestellt worden (1234567891011121314), denn sie steht – wie auch tà katoptrizómena selbst -  für das Zugänglichmachen von ansonsten nur bestimmten Kulturen vorbehaltenem Wissen. Mit der Zeit ist hier ein Wissensmagazin entstanden, das wirklich beeindruckend ist. Natürlich handelt es sich bei den Texten, Bildern und Übertragungen in aller Regel nicht um neuestes Material. Das verhindert das 70 Jahre währende Urheberrecht, das es kaum möglich macht, künstlerisch und literarisch aktuelles Material zu präsentieren. Dort aber, wo diese Schranken nicht gelten oder dort, wo Print-Verlage ein Interesse an der Verbreitung ihrer inzwischen nicht mehr lieferbaren Bücher haben, dort springt die Digitale Bibliothek ein und präsentiert das Wissen auf einer silbernen Scheibe.

Wir haben in den bisherigen Besprechungen oftmals kritisch auf manche Fehler und Unzulänglichkeiten des Projekts hingewiesen – zuletzt bei der Veröffentlichung der DVD mit den 40.000 Meisterwerken. Das soll aber nicht heißen, dass das Projekt als solches kritisch zu beurteilen wäre. Ganz im Gegenteil. Manche der rezensierten CD-ROMs und DVDs gehören inzwischen in der Nutzung zu meinen alltäglichen Hilfsmitteln. Ich habe sie auf die Festplatte kopiert und möchte sie für die tägliche Arbeit nicht mehr missen.

Was wäre das Schreiben über Kunst und Kultur ohne den schnellen Blick in das „Lexikon der Kunst“ aus dem Seemann-Verlag oder in „Kindlers Malerei-Lexikon“? Auch „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ bzw. „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ gehört zu den regelmäßig genutzten „Scheiben“. Unverzichtbar die DVD „Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky“, ohne die mancher Artikel dieses Magazins anders oder gar nicht geschrieben worden wäre. Und natürlich schätze ich als jemand, der über Adorno wissenschaftlich gearbeitet hat, dass ich nun mittels CD-ROM bestimmte Begriffe und Argumentationen präzise nachschlagen kann. (Wo steht noch einmal: Der Bürger wünscht die Kunst üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser?)

Seit Neuestem sind Teile der Digitalen Bibliothek unter der Adresse www.Zeno.org im Internet präsent. Dort findet man:

  • das literarische Werk von mehr als 700 Autoren,
  • eine umfassende Auswahl philosophischer Werke von der Antike bis ins 20. Jahrhundert,
  • Klassiker der Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts,
  • kulturgeschichtliche Dokumente wie Anstandsbücher, Autobiographien berühmter Persönlichkeiten und ästhetische Schriften wie beispielsweise Sulzers Theorie der Schönen Künste,
  • eine riesige Bildersammlung mit mehr als 40.000 Werken von etwa 4.500 Künstlern und Künstlerinnen,
  • Biografien der bedeutendsten deutschen Komponisten und
  • eine umfangreiche Auswahl bedeutender historischer Lexika in Volltext und Faksimile, unter anderem Pierers Conversations-Lexikon (1857–1865) und den ersten Brockhaus (1809–1811).
  • und nicht zuletzt eine Spiegelung eines bestimmten Daten- und Textbestandes der Wikipedia.

Noch dürfte die digitale Bibliothek nicht an ihr antikes Vorbild herankommen (und an die Neue Bibliothek von Alexandria schon gar nicht, deren Datenbestand mit drei Petabyte angegeben wird). Dennoch: dass die Digitale Bibliothek ihren gemeinfreien Datenbestand online zugänglich macht, kann nicht genug gelobt werden.

Ergänzend zum Online–Angebot der Zeno.org gibt es nun auch noch (fast) das Ganze als DVD-Sammlung. Genau genommen ist die DVD-Sammlung so zusammengesetzt: Eine DVD, die das Angebot von Zeno.org (unter Verzicht auf die Wikipedia) im Internet spiegelt und als virtueller Webserver auf dem Heimcomputer installiert wird. Zusätzlich gibt es zwei DVDs mit hoch auflösenden Bildern aus der Gemäldesammlung der Digitalen Bibliothek, die freilich komplett auf der Festplatte installiert werden müssen, um nutzbar zu sein. Insbesondere letztere erweisen sich damit aber als deutlich preiswerter als die DVD mit den 40.000 Meisterwerken.

Wer über eine schnelle DSL-Verbindung verfügt, mag sich fragen, ob er dieses Angebot dann noch wirklich braucht. Dazu ist zu sagen, das man ja nicht immer und überall online ist und z.B. unterwegs der Zugriff auf die DVD via Notebook schnell und bequem ist. Zum anderen gibt es den gerade erwähnten Bonus der hoch auflösenden Kunstwerke, die man unter zeno.org nicht zur Verfügung hat.

Ich hoffe, dass der Verlag Zenodot seine Bibliothek laufend erweitert: online und regelmäßig auch auf DVD. Es ist eine inspirierende Sammlung, die zum stöbern und recherchieren einlädt!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/51/am237.htm
© Andreas Mertin 2008