Made in Germany

Kunstvorstellungen

Andreas Mertin


Info Andreas Mertin
Von den drei großen Kunstausstellungen in Deutschland im Jahr 2007 ist die Ausstellung in Hannover vielleicht die Interessanteste – vor allem, wenn man sich auf die jüngere Kunst und ihre Perspektiven beziehen will. Die Ausstellung zeigt eine Vielfalt von Positionen und sie belehrt nicht, sie bekehrt nicht, sondern lässt den Besucher seine eigenen Wahrnehmungen machen und seine eigenen Schlüsse ziehen. Die von der Kestnergesellschaft, dem Kunstverein und dem Sprengel-Museum zusammen gestellte Schau verbleibt weitgehend im Rahmen des White Cube – entfernt sich also weit von allen aktuellen Spielereien mit grünen, rosa oder grauen Wänden und der Überbetonung des Inszenatorischen, wie wir es auf der documenta finden. Was wir gezeigt bekommen, sind vor allem die um 1970 geborenen Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland bzw. in Deutschland lebend. Letzteres verhindert die fatale Fokussierung auf „deutsche Kunst“ die der Titel „Made in  Germany“ ja auch hätte provozieren können.

Zur Ausstellung ist ein preiswerter Kurzkatalog erschienen, der die Orientierung erleichtert, sich aber leider häufig einer Sprache befleißigt, die mehr vernebelt als erhellt. Es ist stellenweise eine Phrasendreschmaschine, die einen zu Wutanfällen reizt. Hier hätte etwas mehr Präzision gut getan. Aber inzwischen scheint die nichts sagende Sprache den Diskurs über zeitgenössische Kunst zu beherrschen.

Kestnergesellschaft

Von den Arbeiten, die in den Räumen der Kestnergesellschaft zu sehen sind, möchte ich einige Exponate hervorheben. Zum Beispiel die Arbeiten von Michael Sailstorfer (*1979), der im so genannten Non-Space im hinteren Lichtgraben der Kestnergesellschaft eine neue Zwischenebene aus Aluminiumplatten eingebaut hat, die einen zunächst zögern lassen, ob sie wirklich betretbar sind, zu fragil erscheint die Konstruktion. Geht man über die Platten, so bleibt das Moment des Unwägbaren erhalten, denn sicher fühlt man sich nie, man agiert in einer Art Zwischenraum. Simon Starling (*1967) hat ein merkwürdiges spiralartiges Gerüst in einen Raum eingebaut, über das gut wahrnehmbar ein 35mm Film läuft, der an einer Stelle von einem Filmprojektor an die Wand geworfen wird. Während man das Filmmaterial das Gerüst entlanglaufen sieht, sieht man zugleich den Film über eine Berliner Metallwerkstatt. Die Aufmerksamkeit wird so zwischen Filminhalt und Materialität des Films hin und her bewegt. Bjørn Dahlem (*1974) zeigt die Arbeit „Schwarzes Loch M-Sphären II“, die kosmologischen Modellen nachspüren soll. Das geschieht aber – wie bei Dahlem üblich - mit einfachen Holzlatten, Styropor, simplen Leuchtröhren und Fundstücken. Das Ergebnis ist eine raumgreifende Installation, eine skulpturale Zeichnung in den Raum. Haegue Yang (*1971) hat ein Laboratorium geschaffen, indem das Subjekt untersucht, erkundet und gespiegelt wird. Der Raum ist durch Jalousien, bewegliche Wandspiegel und Lichter separiert, man bewegt sich vorsichtig durch den Raum wie durch einen intimen (Gedanken-)Raum eines unbekannten Menschen, in den man unvermittelt geraten ist. Alexander Laner (*1974) hat im bewusstem Kontrast von High und Low einen Do-it-yourself-Flügel gebaut (Für Elise), der die Konstruktion eines derartigen Musikinstruments ebenso einsichtig macht wie unterläuft. Andreas Hofer (*1963) hat einen Raum im Raum gebau, der mit seiner merkwürdigen Fantasy-World-Akzentuierung im umgebenden White-Cube fehl platziert wirkt. Aus dem Raum tönen merkwürdige Töne. Betritt man den inneren Raum stößt man auf eine Skulptur, die eine Mischform von Standuhr und einem Wesen aus der H.R. Giger-Welt zu sein scheint. Es ist weniger eine individuelle Mythologie, die hier artikuliert wird, als ein Reflex auf die verbreiteten Mythologien der Popularkultur unserer Zeit.

Kunstverein

Die überzeugendsten Arbeiten finden sich meines Erachtens im Kunstverein. Schon beim Entree stößt man auf die Arbeit von Julius Popp (*1973), der Informationen aus dem Internet auf einer frei herabfließenden Wasserwand sichtbar macht. Nur kurz blitzen die Nachrichten auf, um dann wieder auf Dauer zu verschwinden. Dauerhaft ist paradoxerweise nur das Medium, auf dem die Informationen sichtbar werden: das fließende Wasser. Andreas Gefeller (*1970) macht auf eine irritierende und überraschende Weise Räume sichtbar: „Wie ein lebender Scanner schreitet Gefeller systematisch das Motiv mittels einer am Körper befestigten Kamera ab. Anschließend werden hunderte von Einzelaufnahmen zu einem digitalen Gesamtbild zusammengefügt, das die Spuren menschlicher Zivilisation in einer Weise abbildet, wie wir sie noch nie gesehen haben“. In der Ausstellung wird das am Beispiel einer Plattenbauwohnung und am Holocaust-Denkmal in Berlin vorgeführt. Jeppe Hein (*1974) hat eine Art interaktive Plastik geschaffen, die auf das Auftreten des Betrachters reagiert. Ein „raumgreifendes Mobile“ aus spiegelnden Kugeln wandert durch den Raum und zwingt den Betrachter zu Ausweich- und Wanderungsbewegungen durch den Raum.  Julian Rosefeldt (*1965) hat mich über die volle Länge vom 33 Minuten vor den Doppelbildprojektionsflächen gefesselt, was im Rahmen einer größeren Gruppenausstellung aus Zeitmangel ja eher selten ist. Er zeigt in seiner Arbeit „Stunnend Man / Trilogie des Scheiterns Teil II“ zwei scheinbar identische Wohnräume, die von derselben Person bewohnt werden, die aber höchst unterschiedlich agiert: eine Jekyll-und-Hyde-Situation. Während das eine Ich in seiner Wohnung agiert und arbeitet, aufräumt und kocht, zerstört das Alter Ego in seiner Welt die Umgebung in unvermittelten und exzesshaften Gewaltausbrüchen. Spannend wird es, wenn die Protagonisten die Wohnung tauschen, der Exzentriker also in die heile Welt wechselt und dort Chaos anrichtet und sein Alter Ego in das Chaos eintaucht und dort für Ordnung sorgt. Das hält einen wirklich in atemloser Spannung, zumal nie sicher ist, ob die Situation, die man gerade wahrnimmt, nicht schon eine Wieder-Holung des Geschehenen ist. Höchst faszinierend. Candice Breitz (*1972) zeigt uns in einer Simultanprojektion 16 Michael-Jackson-Fans, die synchron, aber jeder für sich Michael Jackson Lieder intonieren und performen. Das führt zu einer Vielfalt von Ausdrucksformen – von der Imitation des Vorbilds über die eigenständige Darstellung bis zur erstarrten Haltung.

Sprengel-Museum

Von der Arbeit „Woman to go“ von Mathilde ter Heinje (*1969) kann man sich Elemente mit nach Hause nehmen. So steht nun eine Postkarte mit einem Porträt einer englischen Aristokratin aus dem 19. Jahrhundert in meinem Bücherregal. Mathilde ter Heinje hat gleich im Foyer des Sprengel-Museums zahlreiche Postkartenständer platziert, die aber nicht die üblichen Museumsdevotionalen präsentieren, sondern Foto-Postkarten ganz unterschiedlicher Frauen aus der ganzen Welt. 320 verschiedene Schicksale werden hier in Bild und Text in Erinnerung gerufen. Es sind außergewöhnliche Biografien, die die Künstlerin jeweils recherchiert und dokumentiert hat. Wer findet in der Geschichtsschreibung Berücksichtigung und wessen Schicksal geht unter? Elmgreen & Dragset (*1961/*1965) präsentieren eine Living Sculpture gleich am Anfang der großen Ausstellungshalle. Ein junger Mann, der auf einen Podest steht, gibt jedem, der ihn anspricht, einer Art Visitenkarte in die Hand, auf der der Besucher dann lesen kann:

ARE YOU COME HERE FOR FORGIVENESS

Anders als beim Deutschen „Vergebung“, das inzwischen nahezu vollständig säkularisiert erscheint (s. wikipedia-Artikel „Vergebung“), ist das angelsächsische „Forgiveness“ deutlich religiös aufgeladen (s. den wikipedia-Artikel „Forgiveness“). Was aber löst die Frage im Besucher der Ausstellung aus, der ja vermutlich eher auf der Suche nach ästhetischer Erkenntnis als nach religiöser Erlösung in die Ausstellung gegangen ist. Florian Slotawa (*1972) gestaltet monumentale Bilder, die wie abstrakte Gemälde aus der Zeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aussehen und sich dann aber beim Näherkommen als komplexe Möbel- Assamblage erweisen. Wenn man an das Bild herantritt, mag man seine Konstruktion kaum glauben.

Es gibt noch eine Fülle weiterer Arbeiten in allen drei Ausstellungsorten, die der Erwähnung wert sind. Die Ausstellung „Made in Germany“ zeigt sich jedenfalls perspektivenreich und demonstriert sinnfällig, dass der White Cube noch nicht als Inszenierungsort ausgereizt ist – auch wenn andere Kuratoren einem im Jahr 2007 dies nahe legen mögen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/49/am226.htm
© Andreas Mertin