Skulptur Projekte Münster

Renaturing

Karin Wendt

Wollte man einen gemeinsamen Zug der künstlerischen Beiträge zu den diesjährigen Skulptur Projekten in Münster festhalten, so scheint es mir der Versuch zu sein, der wachsenden Bedeutung von natürlichen Faktoren im Selbstverständnis zeitgenössischer Kulturen nachzugehen. Die meisten Arbeiten verzichten auf ästhetische Sichtbarkeit und beschränken sich auf akzenthafte Interventionen, Markierungen, subtile Erweiterungen oder temporäre (Wieder-)Bespielungen. Es geht weniger darum, Räume zu erschließen als vielmehr Raum zu lassen. Der Gestus ist zurücknehmend, beobachtend, aussetzend. Es ist, als würde sich die Kunst bewusst zurückziehen, um verborgene, vergessene oder verschüttete positive wie negative Energien freizulegen. Nicht nur die Wege zu den Projekten sind weit in das Umland gelegt, auch die je eröffneten Perspektiven weisen oft weit zurück in die Geschichte des Verhältnisses von Mensch und Umwelt. So braucht man Zeit, wenn man sich die Kunstwerke anschauen will und es entsteht nicht zuletzt eine Vorstellung davon, welchen Luxus gerade diese Ressource für unsere Gegenwart bedeutet. Es sind vielleicht auf den ersten Blick eher unsinnliche Projekte, es ist jedoch auf den zweiten Blick eine umso mehr anthropologisch gesättigte Ausstellung. Je mehr man den Projekten nachgeht und sie im täglichen Umgang erfährt, desto spürbarer wird eine Haltung von geteilter Verantwortung für die von uns geschaffenen Lebenswelten.

Vielleicht ließen sich die Arbeiten mit Hilfe des Begriffs „Renaturing“ vorläufig deuten. Er umfasst Prozesse der Revitalisierung von Städten und Landschaften, die interdisziplinäres Wissen mit der Sensibilität für die Probleme der Gegenwart verknüpfen. Dabei spielen nicht nur historische, ökologische und wirtschaftliche Faktoren eine Rolle sondern ebenso das Moment von Authentizität. Grundlegend ist die Einsicht, dass die Lösungsmodelle zu einer rekultivierenden Gestaltung von Umwelt weitaus komplexer sein müssen als die einfache Rückführung in einen bestimmten ökologisch ‚gesunden’ Zustand, für den von einer klaren Trennung zwischen Natur und Kultur auszugehen wäre. Sie umfassen vielmehr  Ideen wie die der „ökologischen Versöhnung“, des „Ökodesign“ oder der „invented nature“. So heißt es in einer Ausschreibung zu einem internationalen Projekt zum Thema „Models for Renaturing Cities and Landscapes: A Transatlantic View“ des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung:

“While the term ‘restoration’ is widely used in the United States and is growing in use in Europe, many projects and activities falling under the rubric of restoration might more appropriately be labeled ‘renaturing’. […] These renaturing models include "reconciliation ecology", "ecological rehabilitation", "designer ecosystems", and "invented nature". Common to each of these renaturing models is the acknowledgement that the issues are more complex than returning a landscape back to a single desired ecological reference point. Renaturing activities in Europe and increasingly in the U.S. often must grapple with accommodating the multiple layers of history present at a site, histories that are difficult separate into discrete categories of ‘natural’ and ‘cultural’.”[1]

Solch komplexe und reflexiv angelegte Wiederbelebungen von Kultur-Landschaften nähern sich dem jeweiligen Problemfeld aus unterschiedlichen Perspektiven und versuchen, der zeitgenössischen Vielfalt menschlicher Werte gerecht zu werden. “Restoration/renaturing activities take on many different approaches. All are guided by human values, which frame whith aspects of the historical record and other information sources are chosen to inform any given project.”

Ich möchte den Begriff nicht überstrapazieren, dennoch scheint er mir auch geeignet, um die gegenwärtige Dynamik von Skulptur im öffentlichen Raum – wie gesagt eher assoziativ – zu fassen. Der These vom „entöffentlichten Raum“ oder auch überkultivierten Raum, wie sie im Rahmen der die Skulptur Projekte begleitenden Vortragsreihe „Blumenberg Lectures“ vorgetragen wird, leuchtet mir ein, und eine Art des Umgangs damit sind Bewegungen der Verwilderung im vorgenannten Sinne.

Die von dem Kuratorenteam Kaspar König, Brigitte Franzen und Carina Plath konzipierten Skulptur Projekte finden in diesem Sommer zum vierten Mal statt. Der große zeitliche Abstand zur Ausstellung 1997 verbietet den Vergleich zwar nicht, dennoch muss man sich klarmachen, dass die gegenwärtige Kunst natürlich in vielerlei Hinsicht veränderte Realitäten spiegelt. Waren die Arbeiten der 90er Jahre von einer spielerischen, poetischen, oft relaxten Sinnlichkeit, wie die eindrucksvolle Bar auf einer der Hörsaalterassen von Tobias Rehberger [(vgl. tà katoptrizómena, Heft 1), wie die von Andrea Zittel in einem kleinen Wassergraben an der Promenade ausgesetzten Fiberglasinseln „Deserted Islands“ oder der in den Aasee hineingebaute Holzpier von Jorge Pardo – der anlässlich der Ausstellung endlich wieder begehbar ist – ist der Tenor der diesjährigen Ausstellung ernster, aber auch bescheidener. Einem Gestus der Achtung verdanken sich vielleicht auch die Renovierungen einiger der aus vergangenen Projekte dauerhaft installierten Arbeiten. So wurden u.a. die Giant Pool Balls von Claes Oldenburg geweist und die Skulptur „100 Arme der Guan-yin“ von Huang Yong Ping hat ihre Arme wieder.

Für die diesjährigen Projekte wurden letztendlich 33 Arbeiten realisiert, die über die ganze Stadt und zum Teil bis in den Grüngürtel hinaus zu finden sind. Neben einem Busschuttle ist daher auch ein Fahrradverleih Teil des Besucherangebotes. Die nachfolgenden Notizen nehmen Arbeiten in den Blick, die mich besonders beeindrucken oder mir weniger gefallen.

Mark Wallinger „Zone“

Fast unsichtbar und geradezu bestechend einfach verdeutlicht die Arbeit „Zone“ von Mark Wallinger, mit welcher Präzision wir den Raum um uns vermessen, ihn nach bestimmten Kritierien in Zonen einteilen, ihn beschneiden und damit aus- und eingrenzend verfahren (müssen). Ungefähr fünf Meter über dem Boden verläuft eine Angelschnur durch die Stadt, tritt scheinbar in Häuserwände ein und wieder heraus, schneidet Fußwege, Straßen und Plätze und einen See. Nur im Abschreiten des etwa fünf Kilometer um die Innenstadt gezogenen Fadens – oder aus der Luft – lässt sich ermessen, welches Ausmaß das umgrenzte Gebiet hat und wo sein Mittelpunkt liegt. Folgt man der Arbeit eine Weile, so ist es, als laufe ein feiner Riss durch die Häuser- und Straßenarchitektur. Er macht spürbar, wie ungeordnet gewachsen auf der einen Seite und wie brutal domestizierend auf der anderen Seite der Raum unserer Städte ‚verplant’ ist. Aufmerksam wird man auf die Schnur, wenn man den Blick leicht hebt, wenn die Sonne zufällig dagegen strahlt oder wenn sie sich kurz wie ein flüchtiger Schatten vor einer Fassade abzeichnet. Die Arbeit berührt, weil sie in diesem Moment kurz innehalten lässt, während die großflächige Umgebung unscharf wird. Der Blick folgt der fast unsichtbaren Linie, bis sie sich verliert oder von Häusern unterbrochen wird. Wallingers Zonierung erschließt kein bestimmtes Gebiet, sondern macht das gewaltsame Prinzip als solches erfahrbar. Zonen bilden wir nicht nur im Raum, sondern auch im Denken. Dass dies Projektionen sind, im freien Raum (willkürlich) gezogene Grenzlinien sozusagen, ist ein Bild, das sich einprägt.

Zonierungen beinhalten auf der anderen Seite auch immer Schnittmengen, d.h. die Zusammenführung von Heterogenem zu einem bestimmten Schutzgebiet. In diesem Sinne verweist der britische Künstler als Quelle für seine Arbeit auf den Londoner Eruv. Eruvim sind jüdische Wohngebiete innerhalb einer Stadt, meist lediglich durch einen Draht oder ein Seil markiert. Sie bilden einen jüdischen privaten Binnenraum innerhalb der Stadt aus, in dem bestimmte Vorschriften aus dem Talmud aufgehoben sind. Das hebräische Wort Eruv (עירוב) bedeutet Mischung bzw. mischen und erläutert die Verfahren des jeweiligen Regelumgangs. So verkörpert die Konzeption des Eruv eine starke Symbolik vom bedeutsamen Privatraum einer religiösen Gemeinschaft in der Unbestimmtheit einer säkularen Öffentlichkeit. Sie erlaubt die Lesart vom Raum als physische und als referentielle Größe, die Bedeutung hervorbringt. „The eruv creates a modern urban form and condition out of the opposition that was set in the Talmud between the Temple and the desert, and temporarily defines the territories relating to them. The conception of the temple appropriates a symbolic urban ‘private’ space within the homogeneity of the urban desert, which lacks all signification. Such a reading is made possible by the way the Talmud defines the city: it assumes that the city does not exist in its physical embodiement alone, and that its material elements are always pointing toweards something else.” Ein Eruv macht zwei Städte, die sichtbare und die ideale, unterscheidbar und er bringt sie zugleich zusammen. So legt sich gewissermaßen eine metaphorische bzw. temporäre Stadt über die bereits existierende: „Thus the eruv bridges two cities - one that is perceived and tangible, the other aesthetically ideal. The urban deweller appropriates the city he lives in. He deciphers but must also write each new interpretative framework. A second metaphorical or ‘mobile’ city is overlaid upon the existing one by the practice of moving through the city.[2] Wallingers Arbeit ist so auch ein Plädoyer für eine genauere Wahrnehmung von neben- und ineinander gefügten Ordnungen, deren Grenzen oft im Unsichtbaren verlaufen und gleichwohl Wirklichkeit sinnfällig oder auch widersprüchlich strukturieren.

Pavel Althamer: „Pfad“

Fern ab vom Stadtzentrum und ebenso unauffällig wie Wallingers Arbeit ist die Projektidee des in Warschau lebenden Künstlers Pavel Althamer. Sie führt nicht durch die Stadt sondern gezielt aus dem Zentrum heraus. An einer Wegkreuzung nahe des Aasees beginnt sein Pfad und zieht sich etwa einen Kilometer in nordwestlicher Richtung am Waldrand entlang durch Wiesen und Kornfelder, quert eine Ausfallstraße, führt wieder in die Felder hinein und endet offen, nahe einer Zufahrt zu einem Bauernhof, dem Haus Bakenfeld. Keine Beschriftung oder Beschilderung unterbricht den Weg oder gibt eine Entfernung an. Macht uns Althamer zu Pilgern der Kunst? In der Wikipedia heißt es zum Pilgerweg: „Ein Pilgerweg ist die Reisestrecke, die Pilger auf einer Wallfahrt zurücklegen, um an das Ziel – meist ein heiliger Ort – zu gelangen. Alle großen Religionen der Welt kennen Pilgerwege und Pilgerorte. Diese Orte können Ortschaften sein, wie Jerusalem, Rom, Santiago, Lourdes, Einsiedeln, aber auch bestimmte Punkte einer Landschaft wie ein Berg, eine Quelle, ein Brunnen, eine Höhle oder ein Heiligtum. Auf dem Weg gibt es Stationen des Innehaltens, an denen Gebete gesprochen oder Gottesdienste gefeiert werden können.“ Anders als bei einem religiösen Pilgerweg fehlen auf Althamers Pfad Stationen und es gibt vor allem kein erklärtes Ziel. Ist es ein ästhetischer Pilgerweg, der sich einer zielgerichteten ergebnisorientierten Bewegung generell verschließt? Der Weg ist nicht das Ziel, der Weg ist der Weg. Althamers Pfad ist ein Angebot, sich nicht nur dem neuzeitlichen Pilgertourismus sondern auch dem Kunstangebot zu entziehen und die Bewegung selbst zu erfahren. Da man jedoch mindestens zu Anfang im Bewusstsein läuft, einen künstlerisch angelegten Weg zu folgen, wird die wahrgenommene Natur auch zum ästhetischen Spiegel. „Vincent van Gogh hätte keine besseren Landschaftsausschnitte wählen können.“, schreibt Camela Thiele in einer Rezension. Der angelegte Pfad muss allerdings aufgesucht und gegangen werden, was nicht ohne jede Mühe geht. Darin liegt eine tatsächliche Anstrengung, die das Werk von Pavel Althamer generell auszeichnet. So lädt die Arbeit wirklich zur Erfahrung ein und bleibt nicht ein reines Statement. Im Vergleich zu früheren Projekten des sozial engagierten Künstlers ist es wiederum eine sehr reduzierte fast melancholische Arbeit.

Bijl: Archeological Site / Genzken: Ohne Titel (Passionsspiel)

Die ebenfalls weit nach draußen verlagerte Arbeit „Archeological Site (A Sorry Installation)“ von Guillaume Bijl überzeugt mich nicht. Die Simulation einer sich selbst als eine solche entlarvenden Ausgrabung auf der Sentruper Höhe zwischen dem Freilichtmuseum Mühlenhof und dem Zoo wirkt ästhetisch kokett. Als lediglich inszeniert in einem vordergründigen Sinne empfinde ich auch den Beitrag von Isa Genzken, „zwölf Assemblagen mit billigem, farbschreiendem Plastikkitsch und unter ihnen begrabenen klassischen Designmöbeln, in denen sich die Hauptdarsteller – Kinderpuppen – verfangen zu haben scheinen. Die üppigen Ballungen der schillernden Konsumwelt ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich. Plastikblumen in Plexisitzschalen, dazu Schwimmreifen und Wasserpistolen – es scheint improvisiert und ist doch präzise komponiert. Schildmützen, Sonnenhüte und viele bunte Schirme schützen die Kinderpuppen vor Sonne und Regen. Sie brauchen jeden Schutz, den sie bekommen können, denn sie stecken in unmöglichen Situationen fest – das Leiden heißt Wohlstandsverwahrlosung.“ (Ausstellungstext) So treffend ihre Gesellschaftsanalyse ist und so anschaulich sich dies in der Beschreibung der Ausstellungsmacher anhört, mir erscheinen die Arrangements eher schwach und nicht eindrücklich genug.

Susan Philipzs: The Lost Reflection

Auf dem Weg in das Umland oder auch erst auf dem Rückweg in die Stadt kommt man an der Torminbrücke vorbei, einer vierspurigen Straße über den Aasee. Unter der Brücke jeweils an den beiden Pfeilern findet sich die Klanginstallation „The Lost Reflection“ von Susan Philipsz. Zu hören ist eine Melodie aus Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen, gesungen von einer zarten Frauenstimme ohne jegliche Begleitung. Sie gehört in den vierten Akt der Oper, der E.T.A. Hoffmans Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“ erzählt: die verhängnisvolle Begegnung des Dichters mit der venezianischen Kurtisane Giulietta, der er sein Spiegelbild schenkt, im trügerischen Glauben dadurch ihre Liebe zu gewinnen. Der sehnsüchtig vorgetragene Gesang, das Halbdunkel unter der mächtigen Betonbrücke und der starke Halleffekt schaffen einen fremden, seltsam entrückten Klangraum, der auch an die (legendäre) Atmosphäre in der Lagunenstadt erinnern mag. Die Künstlerin sagt über ihre Arbeit: „Meine Arbeiten befassen sich mit den räumlichen Eigenschaften von Tönen und mit der Beziehung zwischen Ton und Architektur. Ich interessiere mich für die sinnlichen und psychologischen Eigenschaften von Klängen und dafür, wie sie zur Veränderung des individuellen Bewusstsein benutzt werden können. Ich habe Klänge und Songs im öffentlichen Raum benutzt, um sie in die Geräusche des alltäglichen Lebens zu injizieren. Indem ich meine eigene Stimme benutze, versuche ich, die Aufmerksamkeit der Zuhörer anzuregen und ihre Wahrnehmung ihrer eigenen Person an einem bestimmten Ort und Zeitpunkt vorübergehend zu verändern.“ (S. Philipsz) Die von beiden Ufern abwechselnd eingespielte Melodie reflektiert nicht nur das Spiegelmotiv der Erzählung und die Struktur eines unendlichen, sich nie erfüllenden Versprechens, sondern auch die symmetrische Anlage der Hohlkörperbrücke – selbst ein virtueller Klangraum – die Nord- und Südhälfte des Sees miteinander verbindet. Der Gesang intensiviert aber auch unser zeitliches Erleben, das der Philosoph Edmund Husserl in Protention und Retention unterschieden hat. Nur weil unsere Wahrnehmung vorausgreifend und erinnernd verfährt, können wir überhaupt eine Melodie anstelle von einzelnen Tönen hören. So schärft die Arbeit das „Bewusstsein für die Dauer eines Songs, seine stillen Momente, für die Länge der ‚leeren’ Zeit nach dem Lied, bevor der Zuhörer wieder anfängt, die unmittelbare Umgebung wahrzunehmen. Jedes Lied kommt bekannt vor, aber man erinnert sich nicht, dass es so geklungen hat. Ob unmittelbar oder durch Anspielung, Philipsz’ Stimme entlockt dem Zuhörer vergangene Momente und persönliche Erinnerungen und projiziert diese in die Gegenwart.“[3] Der Ort unter der Brücke wird die dort eingespielte Musik sicher auch noch dann in Erinnerung rufen, wenn die Ausstellung lange vorbei ist.

Suchan Kinoshita: Chinese Whisper

Einen Klangraum als Denkraum hat die chinesische Künstlerin Suchan Kinoshita geschaffen. Über einen Hinterhof gelangt man in einen niedrigen Schauraum, den sonst die Handwerkskammer für die Präsentation von Abschlussarbeiten nutzt. Kinoshita hat den Raum in ein weißes Tonstudio verwandelt. Aus vier Lautsprechern hört man Menschen sprechen. Scheinbar sinnvolle Bemerkungen wechseln mit dadaistisch verfremdeten Sätzen oder auch nur Satzfragmenten. Wenn man länger auf den seitlichen Bänken sitzen bleibt, wiederholen sich die Stimmaufzeichnungen. Die Künstlerin nennt ihre Arbeit „Chinese Whispers”, ein Spiel, das wie „Stille Post“ funktioniert. Zur Beschreibung heißt es: „Suchan Kinoshita suchte Sätze aus Illustrierten, aus Schriften verschiedener Philosophen und Sprachtheoretiker aus und ließ ihre Sprecher selber Sätze erfinden. Dazu brachte die Künstlerin ‚Störenfriede’ ein, die bewusst die Sätze veränderten und einen neuen Anfang setzten, indem sie sie in eine andere Sprache übersetzten.“ Während man dort sitzt und zuhört, geht der Blick nach draußen. Das Geschehen auf der Straße, die vorbeifahrenden Autos, Fahrräder und Fußgänger, die die Seiten wechseln, alles erscheint mehr und mehr wie die Hintergrundkulisse für einen Film, während die gesprochenen Worte und der eigene innere Kommentar, aber auch die stille Anwesenheit der anderen Besucher, ein ganz eigenes Gewicht bekommen.

Martin Boyce: We are still and reflective

Stille Aufmerksamkeit erfordert auch die strenge Arbeit von Martin Boyce. Auf dem Vorplatz eines ehemaligen Zoogeländes an der Himmelreichallee hat er irregulär beschnittene Gussbetonplatten ausgelegt. Nur wenn man den Blick senkt, sieht man das abstrakte Muster. Boyce zitiert hier das Formenvokabular der französischen Bildhauern Jan und Joel Martel. Ihre in den 1920er Jahren entworfenen abstrakten Betonbäume bilden für Boyce „eine perfekte Einheit von Architektur und Natur“. Verweilt man länger, so erkennt man, dass die in einigen Zwischenräumen eingelassenen Messingprofile Buchstaben und schließlich den Satz: „We are still and reflective“ bilden. Wir sind unbewegt und reflektierend – ist das ein Widerspruch oder ein Bedingungsgefüge? Worin liegt die Bewegung der Reflexion und nach welchem Muster verfährt unser Denken? Gibt es eine Architektur der Gedanken? Eine schöne nach-denkliche Arbeit.

Bruce Nauman: Square Depression

Dass die Arbeit „Square Depression“ von Bruce Naumann, die 1977 nicht realisiert werden konnte, verwirklicht wurde, ist kennzeichnend für die sorgfältig kuratierte Schau. Eine 25 mal 25 Meter große Senke im Boden auf einem offenen Gelände vor dem Naturwissenschaftlichen Zentrum ist eine brillante Studie zum Verhältnis von körperlicher und ästhetischer Erfahrung.

Mike Kelley: Streichelzoo

Nostalgisch wirkt der von Mike Kelly eröffnete Streichelzoo („Petting Zoo“) in einem Innenhof an der Von-Steuben-Straße in der Nähe des Bahnhofs. Nostalgie leitet sich von den griechischen Wörtern „nostos“ (Rückkehr, Heimkehr, Vergangenheit) und „algos“ (Schmerz) ab. Zur Inszenierung heißt es im Ausstellungstext: „Die Engel, die nach Sodom und Gomorrah gekommen waren, dem sprichwörtlichen Treiben ein Ende zu setzen, warnten allein Lot und seine Familie, die Stadt zu verlassen. Obwohl es Lots Frau verboten war, warf sie einen Blick zurück – und erstarrte zur Salzsäule.

Die traurige Legende von denen, die sich Gottes Geboten widersetzen, bekommt einen versöhnlichen Ausklang in einem idyllischen Schlussbild: Tiere sollen seitdem zur Säule kommen und das Salz ablecken. Einen Steinwurf vom Münsteraner Hauptbahnhof entfernt inszeniert der amerikanische Künstler Mike Kelley die Legende neu, er erweitert die Szenerie um den Betrachter und lädt ihn ein, in seinen Zoo zu kommen, der alle Tage für jedermann geöffnet ist. Die Tiere dürfen gestreichelt und angefasst werden: Schafe, Ziegen, Ponys, alles Salz leckende Tiere, drängeln sich um die Säule von Lots Frau, die Mike Kelley nach Vorlagen in Kinderbibeln aus seiner Kindheit gestaltet hat. Das Streicheln von Tieren beruhigt Menschen erwiesenermaßen und soll sogar das Leben verlängern. Doch Zärtlichkeiten schaffen auch Abhängigkeiten, und in dem Wunsch, sich selbst und anderen nur das Beste zuteil werden zu lassen, erweist sich Liebe als blind. Seltsamerweise werden den Tieren Videos vorgespielt. Auf drei Leinwänden werden Filmaufnahmen von drei nach Lots Frau benannten Felsformationen gezeigt, eine am Toten Meer, eine andere in New South Wales in Australien und eine dritte auf St. Helena.“ Die poetische Arbeit gehört für mich zu den schönsten Szenarien, die Künstler in Münster geschaffen haben.

Nairy Baghramian: „Entr’acte“

Fast übersehen könnte man die spröde Arbeit „Entr’acte“ von Nairy Baghramian etwas weiter stadteinwärts auf einem Parkplatz: Eine Metallschiene mit Stoff bespannt und auf einer Seite mit einer spiegelnden Folie versehen. Eine eher labile Absperrung ohne bestimmte Funktion, wie zufällig im Stadtraum abgestellt. Ähnlich einem Paravent teilt sie „den Platz in eleganter Leichtigkeit in zwei Räume, doch keiner wäre privat zu nennen, überall kann man gesehen werden. Die Arbeit übernimmt eine Funktion, wäre als Sichtschutz zu gebrauchen, doch löst sie ihr Versprechen nicht ein, nicht sofort jedenfalls – vielleicht reicht die Unterscheidung aus, die der Paravent macht, dass irgendwann auf der einen Seite etwas anderes passiert als auf der anderen. Entr’acte, der Titel der Arbeit, meint ein tänzerisches Intermezzo zwischen zwei Partnern und verweist zugleich auf die zeitliche Begrenztheit der aufgestellten Arbeit.“ (Ausstellungstext) Eine minimale Intervention mit einem ganz eigenen Zauber.

Fast gegenüber im Hotel Mauritzhof zeigen die Künstler Eva Meyer und Eran Schaerf einen Remix aus Filmreflexionen über die Stadt Münster. Ihr Film „Sie könnte zu Ihnen gehören“ läuft im Konferenzraum des Hotels. „Wir werden an Münster als Film und an den Film als Münster herangehen,“ so Eran Schaerf über die Idee. Teile aus „Alle Jahre wieder“ (1966) von Ulrich Schamoni, aus „Desperate Journey“ (1941/42) von Raoul Walsh und dem Dokumentarfilm „Zwischen Hoffen und Bangen“ mit Privataufnahmen einer Münsteraner Familie aus den Jahren 1937 bis 1939 sind zu einem neuen Film montiert, der ein komplexes Porträt der Stadt schafft, das der gewohnten (Selbst-)Darstellung der Stadt in vielerlei Hinsicht ironisch und kritisch widerspricht.

Nicht originell (der Berliner Künstler Christian Hasucha hat bereits vor zehn Jahren ein sehr ähnliches Projekt mit Bewohnern einer Münsteraner Siedlung durchgeführt, vgl. katoptrizòmena Heft 1), aber in den Kontext der Ausstellung passend ist die interaktive Arbeit von Jeremy Deller „Speak to the Earth and it will tell you“ (Sprich zur Erde, sie wird es dir sagen). Er verteilte an 54 Münsteraner Kleingartenvereine ein großformatiges, ledergebundenes Buch, das die Schrebergärtner als Tagebuch für einen Zeitraum von zehn Jahren nutzen sollen, zusammen mit einem Tütchen mit Saatgut für einen Taschentuchbaum. Wer es jetzt aussät, wird erst zehn Jahre später den in China beheimateten Laubbaum in Blüte erleben.

Maria Pask: Beautiful City

Ein ästhetisches Interesse an einem interreligiösen Raum liegt gegenwärtig nahe. Maria Pask hat ihn eröffnet: In einem Pavillon auf einer Wiese hinter dem Schlossgarten gibt sie Vertretern verschiedener Religionen die Möglichkeit, ihre Sicht vom Menschen und der Welt vorzustellen und mit anderen zu diskutieren. Eine Gefahr sehe ich darin, dass es zu einer (beklemmenden) semiprofessionellen Werbeveranstaltung kommt – auf den Internetseiten www.beautifulcity.de kann man sich ein erstes Bild machen.

Tue Greenfort: Diffuse Einträge (Güllewagen)

Einen treffenden Kommentar zur Tourismuslüge der Stadt stellt die Arbeit „Diffuse Einträge“ von Tue Greenfort dar. Der Güllewagen, den er an der Schauplattform des Aasees aufgestellt hat, macht endlich sichtbar, dass das künstlich angelegte Gewässer schon lange krank ist und die Versuche, die Wasserqualität durch die Einleitung von chemischen Lösungen zu verbessern, eher zweifelhafter Natur sind.

Gustav Metzger: Aequivalenz (Gabelstapler)

Eine der eindrucksvollsten Arbeiten ist für mich Gustav Metzgers Projekt „Aequivalenz – Shattered Stones (Aequivalenz – Zerschmetterte Steine)“. Es ist eine Art ästhetischer Ausgleichsprozess der Zerstörungen durch Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg. An jedem Tag während der hundertsiebentägigen Ausstellung legt ein Gabelstapler einige Pflastersteine in der Innenstadt ab. Die genaue Stelle ermittelt jeden Morgen ein Computer. Parallel dazu findet die gleiche Performance in Coventry statt. Hintergrund ist einer der schwersten Luftangriffe auf die englische Industriestadt im November 1940, auf die die Royal Air Force mit Flächenbombardements, darunter auch Münster, reagierte. Die Website www.aequivalenz.com dokumentiert das Projekt.

Eine Arbeit, die 1977 zum ersten Mal realisiert und von da an mit jeder der folgenden Ausstellungen fortgesetzt wurde, ist Michael Ashers „Installation Münster (Caravan)“. Jede Woche parkt er seinen Wohnwagen an einer anderen Stelle; die Standorte hat er 1977 festgelegt. Wie ein stummer Zeuge scheint der Caravan an- und abwesend zugleich. Er stellt nicht nur die Frage, was von der Kunst sondern auch was vom Leben bleibt.

[Alle Fotos: Reinhard Kuhlmann]

Anmerkungen

[1]    „Models for Renaturing Cities and Landscapes: A Transatlantic View“, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ http://www.ufz.de/index.php?de=14505

[2]    http://www.eruv.net/

[3]    http://www.kw-berlin.de/deutsch/archiv/phi/phi.htm

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/48/kw55.htm
© Text: Karin Wendt / Fotos: Reinhard Kuhlmann