das unbekannte meisterwerk

Caravaggio (Detail)

Im Zentrum der documenta

Andreas Mertin

Info Andreas MertinÜber manche Kunstwerke der documenta 12 ist sehr viel geschrieben worden. Über manche so gut wie gar nichts. An keinem Kunstwerk der documenta wurde der Kult des Vergessens bzw. der Verdrängung aber so demonstrativ geübt, wie an dem im folgenden im Blick stehenden, so dass man sich fragt, warum eigentlich?

Das beginnt schon mit dem orientierenden Flyer, den man beim Erwerb der Eintrittskarte der documenta 12 in die Hand gedrückt bekommt. Schnell wird einem deutlich, dass hier nicht alle Exponate bzw. Künstler benannt sind, die auf der documenta ausgestellt werden.

Und es setzt sich fort im offiziellen Katalog der documenta, in dem das hier im Fokus stehende Werk zwar abgebildet, aber falsch verortet wird. Wer also in die Gemäldegalerie im Schloss Wilhelmshöhe fährt, um die Arbeit zu betrachten, kann dort noch so lange suchen, er wird nicht fündig. Auch biografische Angaben über den Künstler des Werkes, der sogar ein Teilnehmer der ersten, zweiten und dritten documenta war, fehlen im Katalog. In vielen reproduzierten Künstlerlisten und auch auf bei der Mehrzahl der publizierten fotografischen Rundgänge durch die documenta tauchen Künstler und Bild nicht auf.

Nun hat es Roger M. Buergel auch mit einigen anderen Arbeiten geschafft, sie in der Wahrnehmung des Publikums geradezu zum Verschwinden zu bringen (etwa mit den öffentlichen Arbeiten im Aue-Park oder unterhalb des Herkules oder dem Werk von Artur Žmijewskis). Aber im konkreten Falle des hier gemeinten Kunstwerks liegt das nicht daran, dass es nicht präsent wäre, sondern dass es so zentral hängt, dass es offenbar niemand wahrnimmt.

Es ist, also wolle Roger M. Buergel die berühmte Einsicht Edgar Allan Poes aus „Der entwendete Brief“ illustrieren, man verstecke einen Gegenstand dadurch am Besten, indem man erst gar nicht den Versuch unternehme, ihn zu verstecken. Wer also das Fridericianum betreten und den Spiegelsaal durchschritten hat, stößt unweigerlich auf folgende Inszenierung:

Im Zentrum des von Roger M. Buergel explizit rekonstruierten ursprünglichen Treppenaufgangs der documenta hängt das – neben Picassos Guernica - vielleicht am gründlichsten geschichtsphilosophisch durcharbeitete Bild des 20. Jahrhunderts: Paul Klees „Angelus Novus“. Dies Bild erwarb der Philosoph Walter Benjamin 1921 und machte es mit der neunten geschichtsphilosophischen These philosophiegeschichtlich relevant und zugleich weltberühmt. Die folgende Beschreibung des Brockhaus macht zugleich einsichtig, warum - der Interpretation Walter Benjamins folgend - das Bild auf der wieder eingerichteten Treppe des Fridericianums auch als orientierendes Werk für eine Lektüre der documenta verstanden werden kann:

„Benjamins Denken war auf das Konkrete des Lebens und der Geschichte gerichtet, wobei er von Einzelnem ausging, um größere historische Phänomene zu erfassen; dahinter stand zunehmend eine dialektisch-materialistische Geschichtsphilosophie. Gleichwohl war Benjamins Denken von seiner jüdischen Herkunft bleibend geprägt durch einen eschatologisch-messianischen Geschichtsbegriff (so die nachgelassenen »Thesen über den Begriff der Geschichte«, 1940) … Den Verlust der Autonomie des Kunstwerks (»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, gekürzt französisch 1936, vollständig deutsch 1963) interpretierte er als historische Notwendigkeit.“

Es ist nicht unplausibel, das Werk im Treppenhaus als Sinnbild zu deuten. Natürlich ist vieles an seiner Hängung ironisch und ein intertextuelles Verwirrspiel. Dass dort ‚nur’ eine Ausstellungskopie hängt, sagt viel über „Kunstwerke im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“. (Aber warum wird das überhaupt bekannt gegeben – deutet das nicht doch auf einen Kult der Authentizität?) Dass es in dieser Ausstellung vor allem um den Ausstellungswert und keinesfalls um die Autonomie und Aura von Kunstwerken geht, ist offensichtlich. Und dass der Blick auf die Katastrophe auch bei dieser documenta – wie schon bei den beiden vorherigen – erkenntnisleitend ist, dürfte jedem Besucher der d12 einleuchten.

Etwas anderes wird aber auch an diesem Bild deutlich: Niemand kann sich ihm wirklich unbefangen nähern. Immer hat man schon seine Rezeptionsgeschichte im Kopf. Diese Rezeptionsgeschichte ist weniger vom Werk selbst, als vielmehr durch die Deutungen von Walter Benjamin und Gershom Scholem Gedicht zum Angelus Novus bestimmt:

Vielleicht gilt das ja auch für eine Vielzahl von Werken dieser documenta – dass ihre Wahrnehmung nicht zuletzt durch die vorab publizierten Deutungen von Roger M. Buergel und Ruth Noack bestimmt sind. Ob auch für ihre Ausstellung gilt: Ich bin ein unsymbolisch Ding - Bedeute was ich bin - Du drehst umsonst den Zauberring - Ich habe keinen Sinn?

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/48/am219.htm
© Andreas Mertin