Gestenkultur

Caravaggio (Detail)

Eine kleine Notiz

Andreas Mertin

Handfestes Christentum ...

... nennt Klaas Huizing sein neuestes Buch, das dem Leser "Eine kleine Kunstgeschichte christlicher Gesten" verspricht. Mit diesem Buch eröffnet der Autor eine künftig zu erweiternde Bibliothek der Gesten: von Dürers Handgesten, Rembrandts sinnenden und diakonischen Gesten, Caspar David Friedrichs Umarmungen, über die zärtlichen Begegnungen der Nazarener und Franz Marcs Familiengesten bis hin zu Picassos Erlösungsgesten, Piet Mondrians prophetischen Linien, Franz Bacon und die Gesten des Schreckens. Intention ist es, Elementargesten des Christentums zu entdecken und darzustellen.

Damit liegt das Buch in der Logik früherer Werke von Huizing, in denen er an herausragenden Beispielen der medialen Gestenkultur nachgegangen ist. Seinerzeit war die Bildende Kunst nur am Rande Thema der Erörterung, dieses Mal rückt sie ins Zentrum des Interesses.

In gewohnter Weise verknüpft Huizing subjektive Erfahrung mit wissenschaftlicher und religiöser Deutung. In zwölf Schritten durchmisst er den potentiellen Raum einer gestenästhetischen Kulturerschließung. Grundlegend ist dabei sein 'Bezugsheiliger' Aby Warburg mit seinen detaillierten Studien der künstlerischen Pathosformeln.

Andrea del Castagnos "David"Die Auswahl der Künstler ist mit Albrecht Dürer, Rembrandt, CD Friedrich, den Nazarenern, Franz Marc, Pablo Picasso, Piet Mondrian, Francis Bacon und Herrmann Nitsch sicher gut protestantisch repräsentativ und deshalb aber auch keine wirkliche Entdeckungskultur. Faktisch werden hier eher Eulen nach Athen getragen als dass man überraschende Erkenntnisse gewinnen würde. Ich hätte mir gewünscht, eine andere Auswahl an Künstlern hätte das Paradigma der gestischen Kultur plausibler gemacht.

Und da wir gerade bei den kritischen Anmerkungen sind: unglaublich ist die schlechte Qualität der Abbildungen auf dem für Kunstwerke völlig ungeeigneten Papier des Buches. Gut zweidrittel der Abbildungen sind unbrauchbar. So wird jede Erkenntnis vernichtet, da hätte man gleich auch auf die Abbildungen verzichten können. Andrea del Castagnos "David" ist im Buch zwar gleich zweimal abgebildet, aber jedesmal nicht zu erkennen. Es iAndrea del Castagnos "David" (Detail)st nicht einmal mehr ein Grau in Grau, was man da sieht, sondern ein dunkelschwarzes Etwas, weder für die Betrachtung noch für den Nachvollzug der Argumentation verwendbar. Wenn es nur um den Nachvollzug der Geste ging, hätte man den David wie nebenstehend abgebildet aus dem Bild lösen und somit grafisch hervorheben können. So aber muss man mehr vermuten als sehen, was auf der Abbildung vor sich geht. Das ist mehr als ärgerlich und auch diese 'Geste' könnte eine paradigmatisch protestantische sein, insofern die Bedeutung der Bildsprache selbst nur beiläufig zur Geltung gebracht wird.

Rembrandt, Steinigung des StephanusEin ähnliches Schicksal erfährt Rembrandts Steinigung des Heiligen Stephanus, das aufgrund seiner dunklen linken Bildhälfte in der Schwarz-Weiß-Darstellung des Buches so gut wie gar nicht mehr wahrnehmbar ist. Nun scheint mir aber gerade in einem Buch, das den Gesten in der Malerei und der Skulptur nachgeht, eine höchste Abbildungsqualität der erschlossenen Werke unverzichtbar. Der Verlag sollte für den Leser auf einer Webseite alle abgebildeten Werke in hoher Auflösung zugänglich machen, damit dieser der Argumentation folgen kann. Ohne derartige Abbildungen weiß man nicht, ob Huizing wirklich den Gestus eines Werkes trifft. Faktisch muss man ihm hier blind vertrauen.

In der Sache selbst finde ich die vorgelegte Materialbasis für die These einer sich in der Kunst äußernden christlichen Gestenkultur zu gering. Nicht, dass es diese Gestenkultur in der Kunstgeschichte nicht gäbe, das scheint mir unstrittig zu sein. Was ich bezweifle ist die Tragweite des dabei in Anspruch genommenen Adjektivs "christlich". M.E. wird dessen Bestimmung außerästhetisch generiert und nur im Akte einer Illustrationsverifikation in der Kunst aufgefunden bzw. zugewiesen. Präziser ist Huizings Essay daher eher als Sammlung von Illustrationen christlicher Gesten (oder dessen, was man dafür hält) in der Kunstgeschichte zu begreifen.

Empirisch wäre aber ein umgekehrtes Vorgehen sinnvoller. Sich eine spezifische christliche Szene zu suchen und dann im Querschnitt der Kunstgeschichte zu schauen, ob es dazu eine spezifische als christlich zu deutende Geste gibt. Also - um den Hinweis von Bill Viola aufzugreifen, den dieser in dieser Angelegenheit gibt ("The Greeting") - müsste man etwa die Begegnung von Maria und Elisabeth auf eine spezifische Geste (die sich nicht aus der menschlichen Natur der Begegnung zweier Frauen ergibt) hin untersuchen. Ich bin mir nicht sicher, Rogier van der Weyden, Kreuzigung (Detail)ob man dabei zu tragfähigen Ergebnissen kommen kann.

Vielleicht gelingt dieses Verfahren am ehesten noch bei den Gesten unter dem Kreuz, die in der Kunstgeschichte reich differenziert vorliegen und ihrer Entdeckung harren (jenseits des allgeliebten langen Zeigefingers des Johannes aus der Kreuzigung des Isenheimer Altars). Hier lassen sich vermutlich eine Fülle von unserer visuelles Gedächtnis tief beeinflussenden Gestenrepertoires beobachten. Aber sie müssten präzise aufgezeigt werden.

Dagegen sind Huizings Deutungen oftmals der visuellen Ähnlichkeit von Gesten geschuldet. Dass diese Gesten aber spezifisch christlich - und nicht eben einfach menschlich - sind, kann nur thetisch vertreten werden. Die bloße Ähnlichkeit etwa einer Kreuzabnahme Rogier van der Weydens mit dem legendären Benetton-Bild eines sterbenden Aids-Kranken ist in diesem Sinne keine Übernahme einer christlichen Geste, sondern im vorgängigen menschlichen Gestus der Zuwendung zum Sterbenden in der Trauer begründet.

Was die Moderne betrifft, so sind mit Marc, Picasso, Mondrian Bacon und Nitsch zwar ausreichend prominente Vertreter versammelt, aber dennoch überzeugt mich die Argumentation im Buch nur selten. Sie bedarf in der Regel der Stützung durch außerästhetische Wahrnehmungen, sei es der Vita, der Psychoanalyse oder der Sekundärliteratur. Mit der visualisierten Geste selbst wird mir daher zu wenig gearbeitet. Die Bildsprache sui generis findet mir ganz allgemein zu wenig Beachtung, sie erscheint in der Regel nur als Ausdruck von etwas. Wenn aber der Satz "Der liebe Gott steckt im Detail" zutrifft, dann muss auch bei einer Kunstgeschichte christlicher Gesten in der Nachfolge Aby Warburgs en Detail der visuelle Nachweis geführt oder wenigstens evident (im Wortsinne) gemacht werden.

Daher kann Huizings Buch im Moment nur als Anregung zu einem derartigen Projekt begriffen werden. Dem Verlag aber wäre dringend zu raten, künftig Bücher, die sich mit Bildender Kunst beschäftigen und vor allem mit Bildern der Kunst auch argumentieren, entsprechend auszustatten.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/47/am210.htm
© Andreas Mertin