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Magazin für Theologie und Ästhetik


Religion und Romantik

Eine Beziehungsgeschichte im Original und als Remake

Hans-Willi Weis

Wo wie im folgenden von Religion und Romantik die Rede ist, hat man es mit einer veritablen Beziehungsgeschichte zu tun, die sich nunmehr über zwei Jahrhunderte erstreckt und während dieser Zeitspanne mehrere Zyklen durchlaufen hat, etliche Wiederholungen und Neuauflagen erfahren hat. Wir beschränken uns für diesmal auf das geschichtliche Original sowie auf das zeitlich jüngste Remake, auf Frühromantik einerseits und aktuelle Erlebnisspiritualität andererseits, um bei einer Gegenüberstellung die Differenz in der Kontinuität aufzuzeigen und zu Akzentuieren. Die historische Diskontinuität des Heutigen wiegt unseres Erachtens schwerer als das, was sich darin an Identischem durchhält. Am schillernden Phänomen der Erlebnisspiritualität als zeitgenössischer Spielart romantischer Religiosität werden von theologischer und kirchlicher Seite mitunter die Parallelen zum historischen Vorbild überstrapaziert. Besonders wo Empfehlungen für eine Veränderung der religiösen Praxis aus einer allzu optimistischen Einschätzung abgeleitet werden. Dem wollen wir nun nicht die pessimistische Variante entgegen halten und es dabei bewenden lassen. Heute spielt die Beziehungsgeschichte zwischen Religion und Romantik in einem gesamtkulturellen Kontext, der, weil er allem und jedem seine Passform aufzwingt, die der Ökonomie und des Konsumismus, in gewissem Sinne totalitär geworden ist. Man kann sich seiner Zurichtung nicht ohne weiteres entziehen. Zwar kann man zu dem, wonach man erst gar nicht gefragt wird, noch einmal ausdrücklich „ja bitte“ sagen; nicht jedoch „nein danke“ und meinen, es hätte eine Wirkung und der Zwangszusammenhang entlasse einen aus seinem Bann. Weshalb wir, was die praktische Seite angeht, anstelle der de facto fiktiv gewordenen Ja/Nein-Option von Zustimmung oder Ablehnung so etwas wie einen mittleren Weg empfehlen. Was in der speziellen Angelegenheit von Religion und Romantik in der Praxis soviel heißt wie: Weder auf den fahrenden Zug der Erlebnisreligiosität aufspringen, noch ihn anhalten wollen und zur Umkehr zwingen. – Inwiefern könnte solch ein mittlerer Weg statt bloßer Ausrede, Lauheit oder Verlegenheit, konsequent beschritten, ein Weg ins Offene sein? Dazu mehr am Ende unserer Überlegungen.

Semantiken des Religiösen, speziell die romantische

Zunächst scheint es mir nützlich, das, woran sich möglicherweise die Geister scheiden, dem logischen Gegenstand nach zu benennen. Logisch, so würde ich sagen, entzünden sich etwaige kontroverse Auffassungen im folgenden an der Semantik des Religiösen. Es sind unterschiedliche (und ihrer Zahl nach nicht gerade wenige) Semantiken des Religiösen in Umlauf. Wobei mit Semantik des Religiösen das vom jeweiligen Gesprächspartner benutzte reflektierte und mehr oder minder systematisierte Bedeutungsgefüge dessen bezeichnet wird, was mit dem Religiösen ideell wie praktisch, vorstellungs- wie verhaltensmäßig gemeint sein soll. In diesem Sinne steht hier primär zur Debatte die Semantik romantischer Religiosität. Die Kontroverse geht wohl darum, ob oder inwieweit wir diese Semantik favorisieren wollen gegenüber anderen möglichen Semantiken des Religiösen. Mein eigenes Erkenntnisinteresse geht dabei nicht auf die Frage, ob die betreffende Semantik, gemessen an einer geschichtlichen oder anthropologischen Empirie bzw. in Einklang mit einer bestimmten Theorie- oder Theologietradition, als wahr oder legitim ausgewiesen werden kann. Vielmehr interessiert mich in erster Linie das, was die Wirksamkeit der einen oder der anderen Semantik im aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zur Folge hat. Erst an diesem Einfluss- oder Folgeeffekt möchte ich dann, nicht als Gläubiger oder in Loyalität zu einem bestimmten Bekenntnis, sondern als intellektuell engagierter Zeitgenosse, meine Parteinahme in der Sache festmachen, also letztlich an dem Kriterium des Beitrags der in Frage stehenden Semantik zu einer mir begrüßenswert oder im Gegenteil problematisch  erscheinenden soziokulturellen Entwicklungstendenz.

Die der Romantik zugehörige religiöse Semantik lässt sich so kurz wie allgemein mit der Rede von der romantischen Gefühlsreligion wiedergeben. Damit das Bestimmungsmerkmal Gefühl hier nicht nach einem engen Verständnis (von Emotion, Gefühligkeit oder gar Affektiertheit) missdeutet wird, sollte man sich gleich anschließend daran und zur Erläuterung die übrigen romantischen Kennwörter in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen. Schleiermachers „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ sowie den Begriff der Anschauung. Dessen, was mittels religiösem „Sinn und Geschmack“ fühlbar und gefühlt wird, werden wir teilhaftig und vergewissern uns seiner durch „Anschauung“. Das religiös Gefühlte, das „Unendliche“, ist uns im Medium der Anschaulichkeit gegeben. Dieses Gegebene wird umso anschaulicher sein, je stärker unsere produktive religiöse Einbildungskraft ausgebildet ist, um die Phantasie als das für die Romantiker zentrale Gemütsvermögen auch gleich noch in den Kreis der relevanten begrifflichen Bestimmungen zu zitieren. Und mit der Einbildungskraft ist dem religiösen Gefühl endlich noch die ästhetische Qualität zugeordnet.  Das Wort „Geschmack“ hat es ja schon angekündigt: Der Ausdruck, welcher die religiöse Phantasie ihrer Anschauung des Unendlichen schließlich verleiht, muss immer schon als ein ästhetischer Ausdruck verstanden werden.

Soweit die Haupttopoi des romantischen Religionsverständnisses.  Um gleich ein mögliches Missverständnis auszuschließen: Zumindest für die Frühromantik, so meine ich, sollte der Begriff „Gefühlsreligion“ nicht einem Irrationalismus zugeschlagen werden. Das Gefühl tritt hier noch nicht in jene denunziatorische Opposition zum Verstand wie dies später bei Klages u.a. geschieht. Das sollte bedacht werden bei der beliebten Gegenüberstellung von romantischer Gefühlsreligion versus der an den Begriffsapparat des Verstandes addressierten  Schrift- oder Offenbarungsreligion der Theologen. Für solche Vorsicht spricht auch:

Die Rede von einem subjektiven „Sinn fürs Unendliche“ unterstellt meines Erachtens im Gegenstand seiner Erfahrung so etwas wie einen objektiven Sinn. Nur sofern das Unendliche als sinnhaft erfahren werden kann, lässt sich auch sinnvollerweise von einem Sinn für dasselbe sprechen (oder wie es wunderbar hintergründig in Novalis’ „Ofterdingen“ heißt: „Also wäre der Sinn ein Anteil an der neuen durch ihn eröffneten Welt selbst ...“). Aufgrund der Wechselbeziehung zwischen Anschaulichem und Sinnlichem realisiert sich eine jede Anschauung des Unendlichen natürlich nur am sinnlich Gegebenen eines Endlichen, Einzelnen, Fragmentarischen, Bruchstückhaften etc. Diese sinnlichen Gegebenheiten sind aber für sich genommen gerade ein seinem Sinn nach Fragwürdiges, ein mitunter widersinnig, ja unsinnig Scheinendes. Wenn aber dennoch allein an ihrer Konkretheit das Unendliche, das Ganze, anschaubar werden kann und zwar als ein Sinnhaftes und Sinnerfülltes, so muss im Rückschluss gefolgert werden, dass die wiederum in diesem Unendlichen, Ganzen, All-Einen, kurz in Gott gegründeten Wirklichkeit eines Endlichen und Partiellen zugleich etwas in ihrem Sinn für uns Erschlossenes darstellt. Mit der Sinnerschließung des Unendlichen muss daher die alles Endlichen zwingend einhergehen. Salopp gesagt, das, wodurch das Unendliche „geschmeckt“ werden soll, muss selbstverständlich genießbar sein. Diese per „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ gekostete Sinnhaftigkeit, die gerade dem Individuellen, Begrenzten, in seine Teile Auseinandergerissenen einen gefühlten Sinn abgewinnt, impliziert nun freilich, dass sie dem Verstand und dem von ihm Einsehbaren nicht schlechterdings widersprechen darf. Wenngleich im einzelnen offengelassen werden kann, wie weit ein religiös gefühlter Sinn der diskursiven Explikation zugänglich wäre (oder, anders gesagt, um „nur die Person des Weltalls vermag das Verhältnis unsrer Welt einzusehn“, um abermals den „Ofterdingen“ zu zitieren).  Ich denke, diese (logische) Implikation harmoniert mit dem optimistischen Weltbild der frühen Romantik, die einerseits in ihrer Zeitgenossenschaft mit der Französischen Revolution ja noch weitgehend die Vernunfthoffnung der Aufklärung teilt, wie sie andererseits für die romantische Kosmos- und Naturfrömmigkeit  in ihrer Sympathie für Spinoza und dessen „Deus sive natura“ die philosophisch passende rationale bzw. rationalistische Unterfütterung parat hat. An solchen Zusammenhängen mag man bereits ermessen, welch (bewusstseins)geschichtliche Welten das Original romantischer Gefühlsreligion und deren jüngste Reprise voneinander trennen.

Als ebenso zentral wie ein rechtes Verständnis des Gefühlsbegriffs erweist sich für die Rekonstruktion der Semantik romantischer Religiosität die Rolle, die dem Begriff des Ästhetischen zukommt. Die sinnfällige Sinnverständigung über Grund und Ziel von Welt und Leben qua religiösem Gefühl soll immer auch mit einer ästhetischen Erfahrung einhergehen. Die Transzendenzerfahrung beim religiösen Durchblick durch irgendein Endliches in die Dimension des Unendlichen ist romantischer Auffassung zufolge jedes Mal eine Begegnung mit dem Schönen. Und zwar keineswegs bloß als Zutat, denn dieses Schöne, das Ästhetische überhaupt, stellt jene Qualität dar, in welcher dem Betrachter das Unendliche im Endlichen einzig aufgehen kann. Allein als das Schöne - inklusive seines Hinüberspielens ins Erhabene mit dem dazugehörigen Schauer oder Schreckmoment – vermag das Unendliche religiös anzusprechen; Schönheit wäre sonach die ureigene Sprache des Unendlichen resp. Göttlichen.

Die Anschauung des göttlich Unendlichen in der romantischen Gefühlsreligion bringt sich ästhetisch zum Ausdruck, zur Sprache. Die Sprache des Ästhetischen, der Schönheit aber ist eine Sprache in Symbolen. Wo anders nun wird die Sprache der Symbole seit jeher gesprochen, ist sie sozusagen immer schon zu Hause, als in der Kunst. Der Kunst als der angestammten Disziplin und Domäne des vom Menschen selbst hervorgebrachten Schönen. Religion und Kunst sprächen demnach eine gemeinsame Sprache, oder pointiert und durchaus im Sinne Friedrich Schleiermachers ausgedrückt: Die Kunst kann die Sprache der Religion genannt werden. Diese von romantischer Seite postulierte Sprachgemeinschaft von Religion und Kunst führt mitten in die heikelste Abgrenzungsproblematik hinein, zu der für eine abschließende Einschätzung der religiösen Semantik des romantischen Religionsbegriffs  meines Erachtens entscheidenden Frage, ob und wie unter der nämlichen Voraussetzung eine Unterscheidung der Kategorien noch möglich ist. Denn Sprachgemeinschaft von Religion und Kunst ist noch zurückhaltend formuliert, fragt sich doch wie auf dieser Basis Religiöses und Ästhetisches auseinandergehalten, zwischen Kunst und Religion überhaupt unterschieden werden soll. Dass da eine Differenz und mithin die Möglichkeit der Unterscheidung bleiben soll, darüber hat uns nicht zuletzt Schleiermacher  nicht im Zweifel gelassen. Eine Kunstreligion im buchstäblichen Sinne und nach dem Vorbild der zeitgenössischen Kunstfrommen unter den „Gebildeten“ schwebte ihm nicht vor. Zwar betonte er die religiöse Bedeutung der Kunst als eine Art Organon unseres Verhältnisses zum Göttlichen, wollte jedoch die quasi hedonistische Abhängigkeit des Kunstgenusses oder der Kunstanbetung unterschieden wissen von jener „schlechthinigen Abhängigkeit“, die ihm allererst für das Religiöse konstitutiv schien. Dem Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit des Individuums von einem transzendenten göttlichen Grund, jenem ästhetisch-erhabenen, geheimnisvollen Anderen und Übermächtigen, wie es exemplarisch (und nach dem übereinstimmenden Urteil damaliger Romantikfreunde) das berühmte Friedrich-Gemälde „Mönch am Meer“ sinnfällig macht. Diese Unterscheidung von zweierlei Abhängigkeit scheint mir der entscheidende theoretische Abgrenzungsversuch zwischen bloßer Kunst und der über sie hinaus gehenden Religion, und nicht erst der kulturspezifische, also christliche Ansatz, etwa die Prämissen der Christologie, das Bekenntnis zur Erlöserfigur Jesu.

Indes habe ich den Verdacht, dass dieser Scheidungsversuch von Kunst und Religion, vorgenommen in einem Gesamtzusammenhang größtmöglicher Annäherung beider, für die praktische „Scheidung der Geister“ schon damals nicht viel hergegeben haben dürfte. Dass sie in einem eher auf Identifizierung gepolten Milieu bereits seinerzeit diskriminatorisch zuwenig prägnant gewesen ist, um vor der performativen Ineinssetzung und Verwechslung von Religion mit Kunst und vice versa zu bewahren. Von der Seite der Kunst her wäre denkbar, dass die Kunstfrommen als die Gebildeten unter den Religionsverächtern die Schleiermachersche Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion etwa folgendermaßen ironisch quittiert haben könnten: Religion das Ergriffensein vom göttlichen Grund? Die Kunst und das Schöne als Auslöser und Ausdruck dieses Gefühls? – Na dann sind wir gerne Religionsanhänger! Wir sind Ergriffene dieses Gottes, Anbeter von Kunst und Schönheit! – Woraufhin es von Seiten der Religion einigermaßen mühsam sein dürfte, die Differenz nicht gleich kollabieren zu lassen. Den Unterschied noch aufrecht erhalten wollen, scheint nolens volens darauf hinauszulaufen mit der Unterscheidung zwischen echter Religiosität und bloßer Kunstreligion sich nun an die Verdolmetschung eines Gefühls, an die Auslegung der „Ergriffenheit“, machen zu müssen. Die authentisch Religiösen müssten so konsequent sein, den Kunstreligiösen zu unterstellen, entweder nicht wirklich ergriffen zu sein, oder ihre Ergriffenheit nicht begriffen zu haben, ihr Gefühl nicht richtig verstanden zu haben. Ein logischer Selbstwiderspruch, in den sich am Ende auch die Sprach-Metapher verheddert: Wenn die Kunst die Sprache des Religiösen ist, wie könnten die, welche wie die nur Kunstfrommen diese Sprache sprechen, sich in ihr nicht religiös äußern? Zumal Sprache hier gerade nicht als ein vom Ausgesagten ablösbares formales Zeichensystem verstanden werden kann, vielmehr als unmittelbarer Selbstausdruck, sozusagen als Heideggersche „Sage“, aufgefasst werden muss, genauso wie das gefühlte Gefühl nicht anders als „richtig“ sein kann.

Unsere Demonstration der logischen Unzulänglichkeit in Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion ergibt im Resultat: Auch die eigentliche Unterscheidungsformel „Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit“ bleibt als reine Gefühlsbestimmung diskriminatorisch unterdeterminiert; nur sobald die begriffliche Bestimmung dessen hinzutritt, wovon dieses Gefühl sich abhängig fühlt, kommt ein taugliches Diskriminierungsmerkmal zustande. Das heißt, nicht schon das Gefühl gibt die definitorische Prägnanz zur Unterscheidung an die Hand, vielmehr erst eine begriffliche Bestimmung, mit der sich der Fühlende nachträglich noch einmal reflektierend über das von ihm Erfahrene verständigt. Dass jenes Wovon der Abhängigkeit sich intuitiv als ein ins Endliche durchscheinender göttlicher Grund erschließe, der, wenngleich dem Erkenntniszugriff entzogen, alles endlich Erfahrene trägt und ihm Sinnhaftigkeit verleiht. Kurzum, wenn das Gefühl die differentia specifica der romantischen Gefühlsreligiosität markiert, dann kann es sie nicht gleichzeitig von der säkularen Kunstfrömmigkeit unterscheiden, die am nämlichen Ergriffenheitsgefühl hängt. Wenn, dann vermag nur eine Reflexionsbestimmung, ein theologischer Begriff vom Unendlichen (wie epistemisch reduziert auch immer) das spezifisch Religiöse vom Ästhetischen abzuheben. Die das Gefühl in den Mittelpunkt stellende und zum Kriterium erhebende romantische Religionssemantik hat von Anfang an die Schwierigkeit, zwischen Kunst und Religion, religiöser und ästhetischer Praxis noch eine Grenze aufrecht zu halten, egal nach welcher Richtung hin. Eine Schwierigkeit, die von den frühen Romantikern schon deshalb kaum realisiert wurde, weil sie ihre Entdeckung der Kongenialität von Kunstsinn und Religiosität, der Wesensverwandtschaft von ästhetischem und religiösem Erleben, gleichsam wie eine Offenbarung feierten. Die hier erstmals zelebrierte Sakralisierung der Kunst und Ästhetisierung der Religion verkörpern meines Erachtens – auf hohem Sensibilitäts- und Reflexionsniveau – jenen Archetyp eines fragwürdigen Ineinanderverschwimmens von Religion und Kunst bzw. Ästhetik, wie er zuletzt noch konstitutiv ist – jetzt freilich auf dem Niveau der Massenkultur – für die Erlebnisreligiosität von heute, deren  Verschmelzen von spiritueller Gestimmtheit mit Lifestyle und Eventästhetik.  

Wilhelm Gräb fasst die frühromantische Urszene der Beziehungsgeschichte zwischen Religion und Romantik in folgenden Worten zusammen: „Man hat von der romantischen `Kunstreligion´ gesprochen, ein Begriff, den vermutlich Schleiermacher in den `Reden´ geprägt hat – freilich um zu behaupten, dass sie keine eigenständige Religionsgestalt je darzustellen vermöchte. Für Schleiermacher hatte die Kunst eine religiöse Dimension, sollte aber nicht in der Lage sein, an ihre Stelle zu treten. Kunst ist, so sagte man es in der Frühromantik und auch Schleiermacher in den `Reden über die Religion´, Ausdruck, Symbolisierung des frommen Gefühls. Das Kunstwerk kann Gegenstand der Andacht und der religiösen Besinnung werden. Wackenroder hat das Konzert mit der Kirche, das Sich-Versenken in die Musik oder in ein Bild, mit dem Gottesdienst parallel gesehen. Seine `Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders´ von 1797 sind der Schlüsseltext romantischer `Kunstreligion´. Museen, Theater, Konzertsäle begannen sich als Tempel zu repräsentieren, als sichtbarer Ausdruck einer Sakralisierung der Kunst. Schleiermacher verwandte später weite Partien seiner Praktischen Theologie darauf, darzulegen, wie angesichts des Allgemeinwerdens der Kunst diese auf spezifische Weise, in der Artikulation eines kirchlich-religiösen Stils, Element der ästhetischen Gestalt des christlichen Gottesdienstes sein und bleiben kann. – Es entstand an der Epochenschwelle um 1800 ein Verständnis von Kunst, zu dem sich Schleiermacher mit seiner Religionstheorie in ein den religionskritischen, aber von der Kunst begeisterten Zeitgenossen verständliches Verhältnis zu setzen suchte. Er verhielt sich nicht nur polemisch zur neuen Kunstfrömmigkeit der Zeit, sondern knüpfte an deren emphatisches Verständnis der Kunst an, wonach die Kunst ein vorzügliches Organon unseres Verhältnisses zum Unendlichen ist, symbolischer Ausdruck der Anschauungen des Universums, Kontakt zur Totalitätsdimension der Wirklichkeit. Für Schleiermacher war die Kunst dennoch nicht, wie für die allein Kunstfrommen, selber der Trost, die Versöhnung mit bzw. die Erlösung von einer schlechten Wirklichkeit, wohl aber die Weise der Darstellung des religiösen Bewusstseins, ein vorzüglicher Modus der Entwicklung des `Sinns und Geschmacks fürs Unendliche´.“  (Zit. nach dem Manuskript seines Vortrags „Die Religion der individuellen Freiheit Schleiermachers und Kierkegaards Neubeschreibung des Christentums als traditionskritische Individuenreligion“, gehalten Kopenhagen 2003).

Diese Beschreibung gibt wohl die romantische Motivlage wie auch Schleiermachers Intention korrekt wieder. Sie setzt sich jedoch über die von mir aufgezeigte Unzulänglichkeit insbesondere von Schleiermachers Differenzierungsbemühung hinweg. Genau besehen fungiert in der Schleiermacherschen Argumentationslogik der „vorzügliche Modus“ gerade nicht wie ein Medium, das als an sich neutrales Zeichensystem mal diesen, mal jenen Inhalt transportiert (mal lediglich Kunstgenuss, mal religiösen Unendlichkeitskontakt).  – Man müsste vielmehr mit McLuhan sagen: „The medium is the message.“ Oder, das Gefühl bzw. das Ergriffensein ist immer schon die Sache selbst, wenn anders die Angelegenheit sich nicht in logischen und performativen Wiederspruch verstricken soll.

Bleibt, um das Bild romantischer Religionssemantik abzurunden, noch die Erwähnung eines Zentralbegriffs der Romantik, der neben dem des Gefühls wie kein zweiter ebenso gut zur Kennzeichnung dieser Spielart von Religiosität herangezogen werden kann, derjenige der Sehnsucht. Der Ausdruck Sehnsuchtsreligion lässt natürlich als erstes an Novalis denken. Während Schleiermachers Formel „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ das romantisch-religiöse Gefühl als eine Art vorübergehende Erfüllung, einen im Moment des Kontakts mit der Unendlichkeit eingetretenen Befriedigungszustand, denkbar erscheinen lässt, vielleicht sogar als den Augenblick einer unio mystica – akzentuiert die Rede von der Sehnsucht umgekehrt das perennierende Getrenntsein vom Objekt oder Ziel des Verlangens.

Ja, dieses muss nicht einmal schnurstracks aufs Unendliche aus sein, das Sehnen kann sich fürs erste auf einen Vorbereitungszustand oder eine Wegetappe richten oder – noch eine Stufe davor – selbstreferentiell als Sehnsucht nach der Sehnsucht in Erscheinung treten. Man denke an das Phantasma eines christlichen Mittelalters, wie es Novalis’ „Die Christenheit und Europa“ vor Augen führt. Gerade diese urromantische Seelendisposition des sehnlichen Suchens leitet, gedanklich, bruchlos über zur heutigen Gestalt der Beziehungsgeschichte von Religion und Romantik.

Remake und Original in der Gegenüberstellung

„Auch heute gibt es viel Sehnsuchtsreligion“, konstatiert Wilhelm Gräb in seinem Vortrag auf der Tagung „Religion als Romantik“ vom September 2006 in Bad Boll (Hier und im Folgenden zitiert nach seinem Tagungsbeitrag „Geschmack am Unendlichen – Von Schleiermacher zur heutigen Religiosität“, abgedruckt in: Bad Boller Skripte 6/2006). Als Professor für praktische Theologie an der Humboldt-Universität beobachtet er von protestantischer Warte aus das Phänomen Erlebnis- und Medienreligiosität. Das Erkenntnisinteresse bei dieser Beobachtung lässt sich folgendermaßen formulieren: Unterstellt (wie es Gräb tut), das zuvor beschriebene romantische Religionsverständnis repräsentiert die adäquate Form moderner Religiosität und darf demzufolge als verbindlicher Bezugs- und Anknüpfungspunkt zeitgenössischen Glaubens und einer ihm dienenden praktischen Theologie gelten – wie ist dann die Sehnsuchtsreligion der Gegenwart in der Gegenüberstellung mit dem Original zu verstehen und zu bewerten? Kann das Remake als aktualisierte Version des Originals durchgehen, und sollte es damit als dessen legitime Fortsetzung zur Richtschnur heutiger Religions- und Glaubenspraxis erklärt werden? Oder verhält es sich nicht eher so, dass primär Diskontinuität vorliegt? Hat sich nicht der kulturelle Kontext so grundsätzlich gewandelt, dass die postmoderne Erlebnisspiritualität anhand der sachlichen Koordinaten der Frühromantik gar nicht angemessen zu verstehen und zu deuten ist, und infolgedessen auch hinsichtlich der Bewertung das positive Urteil, das Muster oder Vorbild moderner Religiosität vorzustellen, aus dem ursprünglichen Zusammenhang nicht einfach auf das Hier und Heute übertragbar ist? – Dieser These möchte ich beipflichten, indem ich mich kritisch an den Gräbschen Einlassungen entlang bewege. Zurecht weist Gräb schon in den einleitenden Beobachtungen darauf hin, dass das Phänomen Erlebnisspiritualität nicht nur in den spezifischen kulturellen Kontext heutiger Verhältnisse eingebettet und entsprechend imprägniert ist, dass vielmehr dieser Kontext selbst bereits religiöse oder spirituelle Anmutungsqualitäten besitzt. Als eine Kultur des Konsums, orientiert am Leitmotiv eines „schönen Lebens“ (man vergleiche dazu u. a. die Arbeiten des Soziologen Gerhard Schulze), wartet das die Individuen umzingelnde soziale und kulturelle Aufgebot immer schon mit Glücks- und Heilsversprechen auf. Oder, wie es der Kommunikations- und Medientheoretiker Norbert Bolz ausdrückt: In der Konsumkultur kommt es nicht auf den profanen Gebrauchswert einer Ware oder Dienstleistung an, sondern auf ihren spirituellen Mehrwert, den sie dem Kunden erfolgreich suggerieren. (Um nur eine der Bolzschen Zuspitzungen zum besten zu geben: „Das Ideal des Marketing ist die religiöse Ikonenverehrung.“) Dieser Umstand bedeutet bei der Beobachtung des religiösen Markts und seines spirituellen Konsumangebots ein Dilemma, in das auch der Beobachter Wilhelm Gräb sogleich hinein gerät. „Die Dinge des Konsums, die Partys, die Drogen, der Sex können die Frage nicht beantworten, ob das Leben wirklich einen Sinn hat. Das ist eine unstillbare Sehnsucht.“ So stelle sich mit dem Liedtext der „Toten Hosen“ exemplarisch für alle Konsumenten die Frage, „warum werde ich nicht satt?“ Einerseits soll nun nach Gräb diese Frustrationserfahrung, der „schale Geschmack“, den noch jeglicher Konsum hinterlässt, gerade Chance und Anlass bieten für eine Bekehrung zum eigentlich Religiösen oder Spirituellen. Andererseits jedoch präsentiert sich das, was im kulturellen Kontext der Ästhetisierung und Eventisierung unseres Alltags als so etwas wie nicht nur nominelle sondern reelle Spiritualität in Erscheinung tritt, ja ebenso als Ware oder Dienstleistung, jedenfalls als ein Angebot und Objekt des Konsums. Wenn es sich aber so oder so um Konsumverhalten handelt, und wenn im einen wie im andern Fall diese soziokulturelle Formbestimmtheit das Ausschlaggebende ist und das durch sie bestimmte Verhalten letztendlich mit Sinnleere konfrontiert und auf Frustration programmiert, dann ist nicht einzusehen, wieso der religiöse Konsum und das spirituelle Verbraucherverhalten in the long run nicht in die selbe Sackgasse münden. Wonach Gräb Eloge auf die Erlebnisspiritualität ihrerseits einen schalen Geschmack bekommt: „Das ist romantische Sehnsuchtsreligion. Sie ist eine solche des Suchens und Fragens, unendlichen Verlangens nach Glück, nach Vollkommenheit, nach Einheit von Materie und Geist... Sie gibt sich mit dem Sichtbaren und Greifbaren, dem Bedingten und Relativen in dieser Welt nicht zufrieden...“

Das skizzierte Dilemma ist mit einer veristischen Argumentation (wahre Religiosität versus Verpackungsspiritualität, Orgelkonzert oder Gottesdienst statt shopping im KdW ) schon deshalb nicht zu parieren, weil in der Prämisse dieses Beschreibungsansatzes die Substitution des rationalen oder diskursiven Kriteriums durch das des Gefühls und der Ergriffenheit festgeschrieben ist. Darin besteht ja eben das Anknüpfen ans romantische Interpretationsschema.  Gemäß dessen Logik kann die konsumistische Ästhetisierung und Eventisierung von Religion und Spiritualität nicht nur nicht als Einwand geltend gemacht und durch inhaltliche Argumente kompensiert werden, Ästhetik und Erlebnis bezeugen vielmehr umgekehrt allererst die religiöse oder spirituelle Authentizität und weisen der Reflexion allenfalls die nachgeordnete Funktion eines Dolmetschers zu. O-Ton Gräb: „Medien- und Gefühlsreligion lebt ganz und gar von ästhetischen Anmutungsqualitäten“, diese „ermöglichen Steigerungen des Lebensgefühls durch eine starke Ausdrucksästhetik“, es werden „Emotionen angesprochen, tiefe Sehnsüchte nach Harmonie und Schönheit, Menschen fühlen sich ergriffen, sie werden angezogen von einem numinosen Objekt...“.  – Der romantische Religionsbegriff, der die „Merkmale ästhetischer Erfahrung“ zur Identifizierung der „religiösen Erfahrung“ erhebt, führt, wie könnte es anders sein, auch beim aktuellen Gebrauch in die oben dargelegten Aporien. Die Möglichkeit der Differenzierung zwischen nur ästhetischem Erleben im gewöhnlichen Konsum und einer genuin religiösen Erfahrung verflüchtigt sich, sodass der Beobachter zuletzt doch gezwungen ist, auf begriffliche Konstrukte, auf theologische Inhalte statt der bloßen Gefühls- und Erlebnisqualität als Unterscheidungskriterium zurück zu greifen. Indem Gräb die ästhetische Oberflächlichkeit der Konsumwelt und ihrer Alltagsästhetik koinzidiert und fürs Religiöse oder Spirituelle das Bedürfnis nach einer „mehr reflektierenden Arbeit am Sinn“ einräumt, legt er implizit den Selbstwiderspruch in seiner Argumentation bloß und vollzieht de Facto deren Selbstaufhebung. „Ästhetische Erfahrung ist Transformationserfahrung“, so sein Axiom. Der Anschluss: „Genau darin liegt die Möglichkeit ihres Übergangs in religiöse Erfahrung“, hebt es jedoch gleich wieder auf. Diesen Folgesatz, dass religiöse oder theologische Reflexionsarbeit erforderlich sei, ernstnehmen, heißt der ästhetischen Erfahrung und mit ihr allem Fühlen und Ergriffensein für sich genommen den zuvor postulierten religiösen oder spirituellen Transformationseffekt absprechen.

Letzteres scheint auch nach meiner eigenen Einschätzung postmoderner Lebensästhetik und der durch sie vereinnahmten religiös-spirituellen Werte- und Traditionsbestände die größere Plausibilität zu besitzen. Vielleicht daß deshalb Vertreter der Gegenthese wie Wilhelm Gräb dieser Auffassung am Ende unter der Hand  Argumente zuspielen. Die Euphorie, mit der zunächst auch protestantische Theologen die päpstlichen Megaevents der jüngsten Zeit zu kommentieren sich hinreißen ließen, weicht dann schnell einem wie ich meine berechtigten Unbehagen. „Das vielzitierte Charisma dieses Papstes, der monarchische Prunk, die Stilsicherheit in der Aufführung der traditionellen Rituale, die Sehnsucht der Massen nach einem guten Hirten, einem heiligen Vater, das alles wirkte zusammen, um die alte Kirche und ihre traditionellen Liturgien in eine Form zeitgenössischer Medien- und Gefühlsreligion zu überführen... Menschen fühlen sich ergriffen, sie werden angezogen von einem numinosen Objekt, wollen dem Gegenstand ihrer Verehrung ganz nahe sein. Hunderttausende pilgerten nach Rom, angeführt von protestantischen Bischöfen...“. – Nur wenn man bei diesen Worten immer schon den guten religiösen Zweck der Veranstaltung bzw. echte Spiritualität voraussetzt, wird einem bei der hier beschworenen Sehnsucht der Massen nach dem guten Hirten, um nicht zu sagen dem spirituellen Führer, nicht ein wenig mulmig. Dass schließlich – und damit soll es sein Bewenden haben – derlei medialer Inszenierungszauber auch noch den Charme des Authentischen ausstrahlt, verwundert weniger, als dass Wilhelm Gräb einen solchen Effekt scheinbar für bare Münze nimmt, wo man gewiss kein intimer Kenner der Medienwirklichkeit sein muss, um diese Authentizität als eine inszenierte zu durchschauen. Es sei denn – und vielleicht ist es ja so gemeint und sollte man es auch auf diese alles andere als naive Weise verstehen –, dass man dem Authentischen als einem integralen Moment allen artifiziell Ästhetischen (mithin aller Kunstwerke) a priori das Attribut der Künstlichkeit zubilligt.

Kommen wir nach der Beschreibung des Phänomens Erlebnisspiritualität im kulturellen Kontext und den kontroversen Stellungnahmen (Gräb einerseits, meine eigene andererseits) zur Gegenüberstellung des Remakes mit dem Original. – Soziologisch betrachtet sind die bürgerlichen Mittelschichten die Träger des als „Wiederkehr der Religion“ betitelten Mentalitätswandels in unserer Gesellschaft. Das Remake und Revival romantischer Gefühlsreligion hat seine soziale Massenbasis also in der breiten, gebildeten Mitte der Gesellschaft. Darin besteht der erste gravierende Unterschied zum Original: Bei diesem handelt es sich um eine bürgerliche Bildungselite, eine Handvoll Literaten und Künstler, von denen etliche weltliche oder geistliche Ämter im vormodernen Obrigkeitsstaat begleiden. Was sich von der deutschen Frühromantik sagen lässt, gilt wohl für die Romantik im gesamteuropäischen Maßstab: Sie vor allem ist die Erfinderin des Typus moderner Individualität. Ihre intellektuelle und künstlerische Kreativität hat wie kaum eine zweite geistige Produktionsstätte die Mentalität und den Habitus des autonomen bürgerlichen Individuums geprägt. Eine zahlenmäßig verschwindende soziale Minorität, die als eine singuläre kulturelle Avantgarde zur Schöpferin jenes kulturellen Musters wird, das –  geschichtlich wie medial unendlich vermittelt – heute zum Standard einer gesellschaftlichen Majorität geworden ist und demokratisiert und popularisiert den kulturellen Mainstream beherrscht.

Noch gravierender als der soziale Unterschied von Minorität dort und Majorität hier und dem damit einhergehenden kulturellen Unterschied zwischen einst Avantgarde und Mainstream heute, womit schließlich die unübersehbare Diskrepanz zwischen der Hochkultur des Originals und der horribile dictu Trivialkultur im Falle des Remakes zusammen hängt, ist die historische Distanz zwischen zwei grundverschiedenen sozioökonomischen Welten: Der vormodernen Welt einer an Bedürfnisbefriedigung orientierten Subsistenz- und Gebrauchswertökonomie einerseits (die selbst mit dem beginnenden Industriezeitalter erst einmal fortbesteht) und andererseits der modernen und postmodernen Welt unserer aufs Begehren zielenden Konsumökonomie. Dieser Faktor erzeugt im Hinblick  auf die kulturellen Kontexte eine geradezu dichotome Entgegensetzung, die sich bis in die Semantik hinein verfolgen lässt. Für unsere Gegenüberstellung und den Leitfaden der romantischen Religionssemantik bedeutet dies, wir benutzen zwar noch die gleichen Begriffe, aber die Bedeutungen haben sich schon längst nach woandershin verschoben.

Denn was zeigt sich, sobald wir beispielsweise nach dem faktischen Sinn eines Begriffs wie Sehnsuchtsreligion heute fragen? Nicht dass sie sich mittlerweile selbstreferentiell verhält, als Sehnsucht nach der Sehnsucht auftritt, unterscheidet sie unbedingt von ihren originären Vorläufern, tat sie dies doch teilweise auch bei den Frühromantikern, wie das Beispiel Novalis belegt. Der prinzipielle Unterschied liegt darin, dass die Kristallisationspunkte der Sehnsucht bzw. der Sehnsucht nach sich selbst nicht mehr – wie etwa die „blaue Blume“ oder ein imaginäres christliches Mittelalter – Produkte der Einbildungskraft des einzelnen sind, sondern von Markt und Medien generierte Attraktoren. Ja mehr noch, als hätte es die Subjektivität und Spontaneität von den Individuen abgezogen, bringt das (etwas antiquiert kulturkritisch gesprochen) „kulturindustriell“ erzeugte Angebot an Sehnsuchtsbildern dann auch die ihm entsprechende Nachfrage hervor. Und auf dieser funktionalen Ebene ineinandergreifender sozioökonomischer und psychologischer Mechanismen lässt sich zwischen einem in engerem Sinne religiösen oder spirituellen Sehnsuchtstopos und einem x-beliebigen anderen, ebenso auf die Stimulation des Begehrens gerichteten Schönheits-, Glücks- oder Sinnversprechen im konsumistischen Supermarkt gar nicht mehr unterscheiden. So unterschiedslos wie umstandslos integriert und umfasst die Religion des Konsums den Konsum der Religion, wie man vereinfachend und zugespitzt sagen könnte.

Nochmals, Original und Remake, die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, der kulturelle Kontext, die psychologische Verfassung oder Bewusstseinslage, sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Kurz, damals und heute eine andere Zeit, eine andere Welt. Wie könnte man da erwarten, dass wenn man bei der Beobachtung und Beschreibung heutiger Zustände, Mentalitäten und Verhaltensweisen sich der überlieferten Semantik bedient, die Begriffe noch ihren ursprünglichen Sinn behielten? Was hat der heutige Begriff, der Fetisch „Kreativität“ bei gleichzeitiger Enteignung immer weiterer Residuen einer autonomen Einbildungskraft des Individuums noch mit jener von den Romantikern entdeckten und gefeierten individuellen Produktivkraft Phantasie zu tun? Es zeichnete die romantische Religionsidee eines Schleiermacher aus, dass sie unter Rekurs auf die spinozistische  Alleinheitslehre die Möglichkeit bot, wie Wilhelm Gräb richtig bemerkt, „die Immanenz des Absoluten zu denken und damit ... der Verendlichung der Welt zur Summe von bloß empirisch Gegebenem zu wehren“. Das Funktionsprinzip des endlos stimulierten Begehrens und der Wunschmaschine des Konsums, das auch Religion oder Spiritualität als konsumierbare Güter und Dienstleistungen in sich verstrickt, betreibt dagegen die „Verabsolutierung des Endlichen“ und „Totalisierung des Partikularen“, für Schleiermacher das „irreligiöse Prinzip“ par exzellence. Wenn Schleiermacher zufolge Religion auf einer „ganzheitlichen Anschauung des Lebens“ beruht (Gräb), wo wäre da ein Refugium für sie in der heute einzig real existierenden Ganzheit oder Totalität von Markt, Medien und Konsum? Und worauf sollte die dem romantischen Religionsverständnis entliehene Rede von einem „unverfügbaren Seins- und Sinngrund“ (nochmals Gräb) verweisen in einer auf totale Verfügbarkeit auch von Sinnkonzepten eingestellten Wirtschaft und Kultur? Lässt sich nach alledem von der Erlebnisspiritualität im Ernst behaupten, sie sei wie das romantische Vorbild „eine Spiritualität, die offen ist für eine geistige Dimension, für Transzendenz“?

Auf welche Bedeutungen also könnte eine aktualisierte romantische Religionssemantik unter den Bedingungen der Konsum-, Medien- und Erlebnisgesellschaft realiter hinweisen? Der Sinn von Sehnsuchtsreligion in diesem Zusammenhang wäre die Sehnsucht nach stets neuen Sehnsuchtsangeboten auf einem Markt, dessen Waren und Dienste generell mit einem „spirituellen Mehrwert“ locken und so den traditionell religiösen oder spirituellen unter ihnen keinen Sonderstatus mehr einräumen. Unter „Unendlichkeit“, wollte man auch diesen Terminus weiterhin verwenden, hätte man die prinzipielle Endlosigkeit oder Unabschließbarkeit der Antworten, Konzepte, Verhaltensangebote aus den konsumgerecht vermarkteten und medial aufbereiteten Überlieferungsbeständen sämtlicher Religionen und Kulturen der Welt zu verstehen. Dies wäre zugleich die in die Immanenz des Marktes und des Konsums eingesogene und somit verflüchtigte „Transzendenz“. Das Vorliegen zeitgemäßer romantischer oder künstlerischer Religiosität bei Einzelnen oder in kollektiven Zusammenhängen ließe sich wiederum nicht an bestimmten intellektuellen, weltanschaulichen oder theologischen Einstellungen ablesen, sondern wiederum einzig und allein am wiederholten Auftreten durch die Zufuhr geeigneter Stimuli wie insbesondere per Event induzierter „spiritueller“ Gefühle und „heiliger“ Erregungs- oder Ergriffenheitszustände.

Noch einmal die Frage: Was ist davon zu halten? Wie den Prozess beschreiben und qualifizieren, der dem Gefühl, der Erregung oder Ergriffenheit als Alpha und Omega romantischer Religiosität zugrunde liegt? Was spielt sich tatsächlich ab in Seele und Geist der Fühlenden, der Ergriffenen? Handelt es sich um eine Transformation, eine Verwandlung? – Die Antwort ergibt sich nach meinem Dafürhalten aus der Art und Weise, wie jene Gefühle und Erregungs- oder Ergriffenheitszustände hergestellt werden. Die Herstellungsweise ist, wie angedeutet, die der postindustriellen Ökonomie des Begehrens und der Wünsche überhaupt. Es geht nicht um Bedürfnisbefriedigung (wie sie gleichsam als vorsintflutliche Vorstellung vom Zweck des Wirtschaftens immer noch in den Köpfen spukt), es geht um die fortgesetzte Erneuerung und Prolongierung des Wünschens und Begehrens. Romantische Sehnsuchts-, Gefühls- oder Erlebnisreligion erscheint attraktiv und wird gesucht, weil sie die Betreffenden in positive, ja magisch verzaubernde Zustände intensiven Begehrens und Wünschens versetzt. Womit sich so etwas wie Erfüllung, Ankunft, gar Erlösung  per definitionem ausschließt. Darum Sehnsucht nach der Sehnsucht, Sinnsuche die ihren Sinn in der Suche findet, und eine Suche nach Glück der das Glück der Suche winkt. Oder in den Worten von Norbert Bolz: „Im System des Konsumismus werden die Wünsche der Kunden nicht erfüllt, sondern geködert. Das kann auch gar nicht anders sein, denn was man sich eigentlich wünscht, ist nicht zu kaufen. Aber wenn man dem Wunsch Anerkennung verschafft, wird das Produkt, das genau dieses leistet, sehr attraktiv.“ – Also quasi ein Perpetuum mobile? Dafür, dass ein Abnutzungs- oder Ermüdungseffekt eintreten könnte, spricht vorerst wenig. Die in die Maschinerie der Begehrens- und Wunschökonomie eingebaute Intelligenz bedient sich zur Entlastung der Zwischenschaltung von Phasen der Auszeit, des Pausierens, des Fastens. Dieser wie man es nennen könnte Konsum der Angebotspalette der Enthaltsamkeit wurde nicht zuletzt zur Spezialität des Waren- und Dienstleistungssortiments gerade des religiösen oder spirituellen Supermarkts. Wen der profane Konsum allmählich abzustumpfen droht, dem oder der kann geholfen werden durch die Stille und Beschaulichkeit von Kirchen, Klöstern und Retreats. Auch diese Gesten des Konsumverzichts fallen unter das Bolzsche Verdikt: „Das Nein negiert nichts mehr, sondern wird unmittelbar vermarktet.“

Wir bilanzieren: Unter den geschilderten Voraussetzungen lässt die Erlebnisreligiosität durchaus nicht auf Transformationserfahrungen schließen. Wenn wir denn unter Transformation ein in der Folge verändertes Verhältnis der einzelnen zum ubiquitären System des Konsums verstehen, oder auch eine innere Wandlung, die psychologisch aus der schlechthinigen Abhängigkeit von diesem System befreite. Romantische Gefühlsreligion in ihrer zeitgenössischen Ausprägung jedenfalls vermag dies nicht zu leisten. Gerade auf sie scheint jene „Funktionsäquivalenz von Konsumismus und Religion“ zuzutreffen, wie sie Norbert Bolz heute der Religion insgesamt unterstellt: „Die Götter, die aus dem Himmel der Religionen verdrängt wurden, kehren als Idole des Marktes wieder. Das Geheimnis der Ware und das Geheimnis der Religion sind dasselbe.“ – Sicher, religiös Engagierte und Freunde der Religion werden sich mit einem solchen Schlusswort schwerlich abfinden wollen. Aber kann dieser zugegeben klaustrophobische Blick auf die Gegenwartsverhältnisse überhaupt noch der Resignation entgehen? Bolz seinerseits bestreitet eine totalitäre Geschlossenheit des konsumistischen Ökonomie-Universums mit folgendem Hinweis, durch den er sich, wie er sagt, als „Romantiker“ bekennen möchte, und der zugleich seine „gute Nachricht“ ans Publikum sei: „Man kann Messen lesen lassen, aber nicht das Seelenheil kaufen“, genauso wie man/Mann „zwar Frauen kaufen kann aber nicht Liebe“. Womit er sich, wenn schon, als Retro-Romantiker outet; jedoch übersieht, dass die gegenwartsbezogene Romantik, um zu funktionieren, solch ultimativer Befriedigungen, wie er selber ausführt, gar nicht bedarf. (Sämtliche Bolz-Zitate aus seinem Vortrag „Das konsumistische Manifest“, gehalten auf der Freiburger Tagung „Capitalism Now“ vom Dezember 2006.)

Über den inneren Weg des „wie nicht“ ins Offene gelangen

Einleitend sprach ich von der Möglichkeit eines „dritten Wegs“ zwischen Affirmation und Negation, einem begeisterten Ja und einem emphatischen Nein. Dazu abschließend noch einige Worte. Die sprachliche Figur für diesen möglichen Mittelweg liefert das „wie nicht“, das übrigens eine ehrwürdige Tradition in den religiösen und spirituellen Überlieferungen vorweisen kann. In der Welt sein, aber nicht von ihr ... In der paulinischen Version als die Transformationserfahrung messianischer Zeit und Existenz: Die „Habenden wie Nicht-Habende, die Weinenden wie Nicht-Weinende, die sich Freuenden, wie sich Nicht-Freuende und die die Welt Gebrauchenden wie sie Nicht-Gebrauchende...“ (Römerbrief). – Konsumieren, als konsumierte man nicht, wohlgemerkt in der positiven wie in der negativen Konsumvariante, beim Zugreifen wie beim Sich-enthalten. Allein dadurch transformiert sich die Einsicht, dass man nicht nicht konsumieren kann, in Souveränitätsgewinn, in eine Gelassenheit, die noch vom reaktiven Zwang lassen kann, von der negativen Fixiertheit des Alternativ-  oder Anders-sein-Wollens. Die Indifferenz des „wie nicht“ setzt die einzig mögliche Differenz, nur sie verschafft Distanz zum alternativlosen „man kann nicht nicht“. Sie, diese Distanz, kann man freilich nicht via Konsum gewinnen, sie hat etwas von einem Sich- am- eigenen- Schopf- packen. Diese Distanzierungsleistung muss man an sich und mit sich selbst vornehmen, wie ein Exerzitium, eine Meditation. Erst der Selbstversuch, die je eigene Erfahrung des „wie nicht“ wird Aufschluss geben darüber, ob ein so unscheinbarer Weg der Mitte ins Offene führt, und wenn ja auch wie es ist, mit einem Mal ins Freie gelangt zu sein.

Diese wenn man so will Transzendenzerfahrung ermöglichte einem zuletzt auch, dem Phänomen Erlebnisspiritualität frei zu begegnen, sich weder mit ihm zu identifizieren, noch es zu verdammen. Insofern ich es für ein zwischen Begehren und „erfüllter Zeit“ balanciertes Humanum als notwendig erachte, dass Menschen sich Freiheit und Souveränität gegenüber dem herrschenden Lebensstil des Konsumismus im Allgemeinen verschaffen, plädiere ich persönlich gleichermaßen für Distanz zum erlebnisorientierten Religionsstil im besonderen, weil er sich ganz in den Gleisen der konsumistischen Kultur bewegt. Wilhelm Gräb möchte, dass christliche Kirchenvertreter, protestantische zumal, aus der Beziehungsgeschichte von Religion und Romantik lernen, dass sie sich das Beispiel der Gefühls- und Erlebnisspiritualität zu Herzen nehmen: „Das innerlich Bewegende des Gottesdienstes hängt vor allem an der Ästhetik seiner Inszenierung, an der performativen Kraft, daran, wie die Lieder, die Orgel, die Gebete, die Predigt atmosphärisch zusammenstimmen“. Das ist als gefühls- und erlebnisreligiöse Strategieanweisung gemeint. Statt präskriptiv könnte man es aber auch einfach nur deskriptiv auffassen. Heute ist es das Ästhetische, welches das Religiöse vereinnahmt. Davor gab es eine Zeit, da das Religiöse umgekehrt das Ästhetische wohl nicht vereinnahmte, aber nach Gutdünken souverän integrierte. Und noch ganz in diese Zeit auch gehört es, dass Schleierrmacher (in den Worten Gräbs) „es der praktischen Theologie zu einer ihrer wesentlichen Aufgaben gemacht hat, Regeln für neue Formen des kirchlichen Lebens, die ästhetisch- liturgische Gestaltung der Gottesdienste vor allem, an die Hand zu geben“. Vielleicht dass daran zu erinnern einige, insbesondere in kirchlichen Kreisen, zu mehr Gelassenheit in Sachen Erlebnisreligion ermutigt.

Post Scriptum 1. Distanz zur spirituellen Ästhetisierung und Eventisierung muss keineswegs eine protestantische Variante von Martin Mosebachs „Häresie der Formlosigkeit“ nach sich ziehen. Dazu Originalton Friedrich Schorlemmer in einer SWR2- Diskussion im Januar 2007 unmittelbar nach der Zukunftstagung der EKD in Wittenberg: Ein evangelischer Pfarrer „braucht eine rhetorische Kompetenz, Rhetorik meint nicht, wie kriegst Du das noch mit einer peppigen Sprache hin, sondern eine argumentative, eine bildhafte, eine die bei den Leuten ist und die gleichzeitig weiß, welche Sprache gehört zu der Sache, die wir zu vertreten haben... Manche meinen, sie müssten hin und wieder einen großen Event organisieren, während ich sage, knüpft an das in unserer Tradition an, was wir an Erlebnis geschaffen haben... und dann aber ganz klar im Mittelpunkt die Frage steht: was können wir dafür tun, dass das Evangelium für die Menschen seine befreiende Kraft entfaltet und welche organisatorischen Schritte wir dafür tun. Es darf uns nirgendwann verloren gehen, was der Inhalt ist, alles ist dann eine Frage der Form, der Struktur und des Geldes...“

Post Scriptum 2. Entindividualisierung durch kollektive oder Massenevents statt Individualisierung durch eine je persönliche Religiosität (Unendlichkeitserfahrung) – Wie die sogenannten Events im allgemeinen und die Medien ohnehin ihrer Haupttendenz nach nicht individualisierend sondern kollektivierend, vergesellschaftend wirken, so auch die Erlebnis- und Medienspiritualität. Jedes Event ist vor allem ein Gemeinschaftserlebnis, in das die Einzelnen eintauchen und in dem sie bisweilen auch untertauchen. Die durch das Event erzeugten Gefühle sind nicht zuletzt deshalb „große Gefühle“, weil sie die Gefühle einer großen Zahl von Menschen sind, die alle im selben Moment das selbe fühlen. Die Intensität dieser Ekstasen der Ergriffenheit beruht geradezu auf der vorübergehenden Ausblendung der Individualität der am Erlebnis teilhabenden. Der Schriftsteller Reinald Goetz hat die zeitweilige Deindividualisierung und Ich-Auflösung an den exzessiven Tanzevents der „Love-Parade“ und anderer Techno-Partys beobachtet und sie positiv bewertet, als Kompensation eines Defizits, ich- stark und individualisiert seien wir alle mittlerweile zur Genüge. – Diese Bewertung einmal dahingestellt: richtig ist nach meinem Dafürhalten, dass Medien- und Erlebnisspiritualität durch kollektive oder Massenevents deindividualisiert; anders als die romantische Religiosität im Original, von der zurecht gesagt wird, dass sie individualisiert. Und zwar deshalb individualisiert, weil die von ihren Protagonisten gemeinte Anschauung, das „Gefühl fürs Unendliche“ nur ein je individuelles sein kann. Es entzündet sich an einem bestimmten Endlichen, idealtypisch einer schönen Naturerscheinung, einem Endlichen, das für jeden einzelnen ein anderes ist, und alle auf je eigentümliche Weise anspricht, nach Maßgabe ihrer persönlichen Einbildungskraft. Genau so, gewissermaßen hoch individualisiert, und nicht im Sinne eines einheitlich vergesellschafteten und medialisierten Bewusstseins, wie es heute vorherrschend geworden ist, hat man die folgenden Worte von Novalis zu verstehen, die unübertrefflich den für die originäre romantische Religiosität konstitutiven Verweisungszusammenhang zwischen endlichem und unendlichem auf den Punkt bringen: „Eins in allem und alles in Einem / Gottes Bild auf Kräutern und Steinen / Gottes Geist in Menschen und Tieren /  Dies muss man sich zu Gemüte führen.“ (Heinrich von Ofterdingen)


© Hans-Willi Weis 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 46/2007
https://www.theomag.de/46/hww1.htm