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Magazin für Theologie und Ästhetik


Cloud Gate

Annäherung an eine Spiegelung

Ingo Reuter

Dietrich Zilleßen zum 70. Geburtstag
Chicago – es ist eine Bohne, die die Menschen interessiert

Und ich trat an das Ufer des Meeres…

Das Meer ist ein See, der Michigansee. Doch das andere Ufer sieht man nicht. Man hat also das Gefühl am Meer zu stehen, ohne jedoch den Salzgeschmack und den typischen Geruch des Meeres. Die Hochhäuser reichen bis fast an das Ufer, Natur und Kultur gehen eine seltsame Symbiose ein, die wenig von dem hat, was man zivilisationskritisch bemängeln möchte. Chicago strahlt eine seltsame Leichtigkeit aus im Sonnenschein. Die Wolkenkratzer spiegeln sich auf dem Wasser des Sees, die Bauwerke der Menschen abgebildet auf der Spiegelfläche der Natur, die nach wie vor da sein wird und etwas anderes spiegeln, wenn der Mensch vergangen ist, „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“.

Geht man über die von Frank Gehry im Juli 2004 fertiggestellte BP-Bridge aus glänzendem Stahl und Holz, erreicht man den Millenniumpark, in dem seltsam verschachtelt das Eingangsportal der Orchesterhalle auf perfekt gepflegtem Rasen sich auftürmt. Edelstahlwelten.

Wenige Schritte später steht man vor Kapoors Werk „Cloud Gate“, und zwar nicht allein. Das Kunstwerk ist ein Anziehungspunkt, ähnlich wie auch die Crown-Fountain wenige Schritte weiter, wo die Kinder warten, um sich quietschend vor Schreck und Freude vom plötzlich aus den Brunnentürmen schießenden Wasser durchnässen zu lassen. Cloud Gate: gemeinhin wird es einfach „die Bohne“ genant, denn seine Form erinnert an eine gigantische Bohne, die zufällig genau auf den beiden Enden gelandet ist, so dass man nun unter ihr hindurchschreiten kann.

The 110-ton Cloud Gate sculpture is forged of a seamless series of highly-polished stainless steel "plates" that create an elliptically-arched, highly-reflective work with Chicago 's skyline and Millennium Park itself as a dramatic backdrop. Visitors fully experience the majestic nature of the work by literally walking through and around, as it was designed for public interaction. Inspired by liquid mercury, the sculpture is among the largest in the world, measuring 66-feet-long by 33-feet high. (Quelle: http://www.millenniumpark.org/)

Man kann eine ganze Menge mit ihr machen, der Bohne. Sie besitzt jede Menge geistigen Nährwert. Und jeden drängt es, das Ding zu berühren. Deswegen muss die Bohne auch andauernd poliert werden. Wegen der Fingertapsen der Interessenten. Sehen und Berühren. Die Kunst entsteht erst im Vorgang dieses Betrachtens, Umschreitens, Berührens, des Posierens vor dem Objekt mit seinen Spiegelungen. Ein Foto zur Erinnerung – und im Hintergrund die Skyline, die eigentlich vor uns liegt.

What I wanted to do in Millennium Park is make something that would engage the Chicago skyline…so that one will see the clouds kind of floating in, with those very tall buildings reflected in the work. And then, since it is in the form of a gate, the participant, the viewer, will be able to enter into this very deep chamber that does, in a way, the same thing to one's reflection as the exterior of the piece is doing to the reflection of the city around. Anish Kapoor (Quelle: http://www.millenniumpark.org/artandarchitecture/cloud_gate.html)

Das Tor aus den Wolken und die Erfahrung des Spiegelung

Wenn man sich dem Cloud Gate nähert, so sieht man zuerst eine riesige metallene Blase, ein wenig erinnernd an den bösen T 1000 aus Terminator 2, als sei hier ein Stück Flüssigmetall liegengeblieben. Quecksilberartig wirkt das Ganze, ein Stahlkörper der scheinbar flüssig da liegt. Berührt man das Metall, so spürt man etwas überrascht die kühle Härte. Die Plastik liegt oder steht – wie man will – als Fremdkörper inmitten der eckigen Hochhäuser, die sich in ihr spiegeln. Ein rundes Etwas zwischen den Ecken und Kanten der Gebäudegiganten.

Der zweite Eindruck ist die Spiegelung des Himmels; das Blau, das durch das spiegelhaft geschliffene Metall zurückgeworfen wird, holt ein Stück des Himmels unvermittelt auf die Erde.

An den Rändern erscheinen die durch die Blasenform des Gate verzogenen Hochhäuser, wölben sich nach innen, scheinen sich vorm Blau des Himmels zu verneigen, werden eigenartig gummiartig und flexibel. Als würden sie sich selbst nicht ganz ernst nehmen.

Einzelne Menschen spiegeln sich auf der glatten Fläche der seltsamen Blase. Und wenn man näher herangeht, entdekct man sich schließlich selbst. Ein wenig verschämt beginnt man das zu tun, was auch all die andern tun: sich selbst in dem gigantischen Spiegel zu fotografieren. Schließlich ist ein Spiegelfoto ja auch nicht gerade etwas Neues. Der Reiz ist aber unwiderstehlich.

Man spiegelt sich in dem Spiegel, der die Umgebung spiegelt. Man findet sich selbst wieder in der anderen Welt, der anderen Stadt, die man bereist. Spiel mit den Spiegelungen und Spiel mit der Selbstwahrnehmung.

Liebespärchen lassen sich gemeinsam fotografieren vor dem Spiegel der urbanen Umwelt. (Und haben dann den Fotografen mit drauf.)

Der Eintritt in das Tor, unter und in dem man stehen kann wie in einem der alttestamentlichen Tore (im Tor heißt es dort ja). Man sieht sich von oben. Das Hindurchschreiten bleibt unspektakulär. Ein Tor in den Himmel ist das beim Durchschreiten jedenfalls nicht. Es bleibt etwas Gelandetes aus dem Himmel. Man würde sich nicht wundern, wenn es am nächsten Tag verschwunden wäre, einfach kondensiert in den Himmel, in der Tat wie eine Wolke.

Spannend ist, wie das Werk Kapoors die Menschen in eine Auseinandersetzung verwickelt. Einfach nur aus Spaß, weil man beeindruckt ist, beginnt man das Material zu erforschen, zu ertasten. Man probiert die Spiegelungen aus, ihre Effekte, situiert sich selbst in unterschiedlichen Positionen im Spiegel, betrachtet andere, wie sie sich mit der glänzenden Blase beschäftigen. Der Spiegel des Cloud Gate führt zum Wundern und Staunen, zum Betrachten und Begehen, zum Berühren und Betasten.

Spiegelung – gedankliche Annäherung in Sicht der Religionspädagogik

Manchmal interessiert der Religionsunterricht die Schüler nicht die Bohne. Die Augen folgen gebannt dem Zeiger der Wanduhr. But the kettle you watch never boils.

Der Grund ist die mangelnde Spiegelung. Die Schüler erwarten hier unverschämt viel mehr als in Mathe. Sie wollen sich wiederfinden. Wenn es eine Berechtigung des Religionsunterrichtes aus Schülersicht gibt, dann die, dass es um sie geht. Das ist Fluch und Verheißung zugleich. In keinem Unterricht wird man mehr bewirken können. Kein Unterricht kann mehr enttäuschen.

So sollte er eigentlich ein Cloud Gate sein, der Religionsunterricht – ein Spiegel der Umgebung und des Selbst, der zur Auseinandersetzung anregt, ein Tor zu sich selbst und damit zum Himmel; denn den findet man nur in sich selbst. Der Blick in die Wolken macht sky nicht zu heaven.

Die Auseinandersetzung der Schüler mit sich selbst ist für den Religionsunterricht unverzichtbar, konstitutiv. Es darf selbstverständlich nicht bei der Selbstbespiegelung bleiben. Der Spiegel ist ein Werkzeug der Hermeneutik – seine Biegung, sein Schliff führt zu Brechungen. Die Spiegelung darf kein reines Abbild sein, nicht Mimikry – eher schon Verzerrung, ein Zerrspiegel, der das ans Licht bringt, was sonst unsichtbar bliebe. Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist die Schönste im ganzen Land? Um es abzukürzen – du nicht, spricht der Spiegel und verkündet eine Wahrheit, die ungern gehört wird. Ein guter Spiegel aber verzerrt nur ins Wahre, so dass man wieder weiß, was lechts und rinks ist. Verzerrung ist nicht Täuschung, sondern Sichtbarmachen. Deshalb muss man mit Spiegeln vorsichtig umgehen, denn nicht alles, was man sieht, erfreut.

Der Spiegel spiegelt nicht nur mich – er spiegelt auch die Umgebung. Und in Kapoors Cloud Gate wird diese Umgebung zur Kenntlichkeit verzerrt. Die Gummihochhäuser karikieren ihre erhabene Majestät mit der sich der Mensch das Denkmal des Höher, Schneller und Weiter bauen will. Lasst uns einen Turm bauen, der bis in den Himmel reicht, dass wir uns einen Namen machen vor Gott – der soll uns kennenlernen.

Die Spiegelung der Umgebung verzerrt diese und spielt mit ihr. Das Tor aus den Wolken holt die Skyscraper zurück auf die Erde. Ein religionspädagogischer Spiegel wäre einer, der die Welt so spiegelt, dass in ihr gerade wird, was krumm ist und krumm wird, was nur scheinbar gerade ist. Die Welt soll lesbar werden als eine, die nicht fraglos hinzunehmen ist, als das, was der Fall ist. Der Umweg des Blicks, der nicht direkt geht, sondern über einen Umweg leitet, nähert sich der Sache anders an, als sie gemeint war. Das kann hilfreich sein. Denn das Wichtige liegt oft nicht auf der Hand.

Eben darum geht es, wenn der Religionsunterricht die Welt des Glaubens – was immer das sei – mit den Schülern ins Gespräch bringt. Der Religionsunterricht gibt einen Lern- und Erlebnisraum vor, der das eigene Spiegelbild der Schüler in neuen Umgebungen situiert, sie sich vorfinden lässt in Welten, die sie zunächst einmal nicht aufgesucht hätten. Darin liegt das Recht der Konfrontation mit dem Sperrigen: es positioniert mich neu, verschiebt, verändert, versetzt die gewohnte Möblierung meines geistigen Wohnzimmers.

Und der Spiegel verändert die Wahrnehmung der eigenen Einrichtung im Dasein. So wie er mit der unbekannten Umgebung bekannt macht, macht er die bekannte Umgebung unkenntlich und damit neu erkenntlich. So hab ich das noch nie gesehen – ach ne…

Der Grund des Spiegels liegt tief im Osten, jenseits von Eden, wo am sechsten Tag Gott selber in den Spiegel sieht. Jede Religionspädagogik ist als Theologie auch Erkenntnis der Spiegelhaftigkeit des Menschen. Zu seinem Bilde schuf er ihn (und sie). Die Ebenbildlichkeit Gottes hält uns den Spiegel vor, in dem der Mensch erst wirklich erkennbar wird: jenseits von Neuronennetz und Gammelfleisch, zu dem wir alle werden. Der Mensch ist eine Spiegelfläche Gottes. Oft wohl ein Zerrspiegel – doch es bleibt dabei. Das Berühren der Spiegelfläche gleicht dem Versuch zu fühlen, zu erspüren, woher das Bild kommt, was es sei. Das Indexikalische allerdings bleibt dem Menschen verwehrt – außer in Christus, in dem sich Gottheit und Menschheit berühren. Vielleicht ein Grund für den Religionsunterricht in christlicher Perspektive, den Finger immer wieder in die Wunde zu legen und Index zu sein für das am Menschen, was mehr ist, als seine Gebrauchbarkeit.

Der Raum des Religionsunterrichtes sollte eine Spiegelfläche sein.

© Alle Fotos Ingo Reuter

© Ingo Reuter 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/ir1.htm