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Magazin für Theologie und Ästhetik


Inge Kirsner, Hamburg im Februar 2007


Lieber Dietrich Zilleßen,

Ihre Gedanken zu Gewalt und Opfer, Liebe und Tod, die Sie einmal vor Jahren auf einer Tagung des Arbeitskreises Populärkultur und Religion mit Bezug auf Bataille vorgetragen haben, kreisten noch lange in mir, verbanden sich mit älteren und nun auch mit jüngeren Überlegungen v.a. zum „Opfer“. Ein Teil dieses Gedankenflusses ist nun dieses Text-Stück, das ich Ihnen in aller Unabgeschlossenheit schenken möchte (in der Hoffnung, dass Sie immer noch ein Gegner von geschlossenen Systemen sind).

Vor einigen Wochen stieß ich bei der Recherche zur Rezension eines Buches über mein Lieblingsgenre – die Aliensaga 1-4[1] – auf einen nun schon älteren Text von Hartmut Böhme. In diesem Text mit dem Titel „Im Zwischenreich: Von Monstern, Fabeltieren und Aliens“ von 2001[2] verdeutlicht der Autor, in welcher Weise im Laufe der Menschheitsgeschichte Tiere herhalten mussten, um die Angst der Menschen vor der Hölle zu bebildern und zu vertexten. Er zeichnet die Kathedralen als Festungen Gottes, bewehrt mit apotropäischen Monstern, die dem Ansturm der Dämonen entgegengehalten wurden. In diesen Kampf war jeder einzelne Mensch verwickelt und musste sich mit festen Riegeln der Abwehr – das sind der Glaube und der gottesfürchtige Lebenswandel – gegen den Einfall der höllischen Mächte in Körper und Seele wappnen. Die Gottesfurcht also stand in Korrespondenz mit der universalen Angst vor dem Bösen. So wurden die Tiere (man denke an den Satan, dessen Figurationen Elemente von Bock, Stier, Drache und Schlange aufweisen) zu Medien einer projektiven Paranoia im Gewand der Theologie.

Wegen des nun folgenden Satzes, der mich seit dem Lesen damals beunruhigt, habe ich Ihnen das jetzt alles erzählt. In diesem bewussten Abschnitt wendet sich der Autor den anderen Tieren zu, dem Gegenbild zu den Drachen und anderen Monstern, jenen Tieren, die keine Chance gegen diese Fleischfresser zu haben scheinen. Es ist das Bild der Unschuld, das Lamm, dessen Geschichte Böhme so erzählt:

„Man darf wohl sagen, dass jener Mensch, der sich an die Stelle des täglichen Lamm-Opfers am Altar Jahwes setzte; dass jener Jesus also, der mit dem einen und letzten Selbst-Opfer die Kette der Opfer zu beenden trachtete; dass das Lamm Gottes, dessen Blut wir im Abendmahl trinken und dessen Leib wir essen in der Wiederholung jenes Ur-Opfers überhaupt, in welchem Gott gegessen wird - : man darf wohl sagen, dass dieser Mensch Jesus, der die Angst „in der Welt“ von uns nehmen wollte (Joh 16,33), gescheitert ist.

Denn in den Jahrhunderten, in denen die großartigen Phantasmen der Hölle von den Menschen Besitz ergriffen, hat es, im Namen des geopferten Christus, eine beispiellose Vermehrung der Angst und eine ungeheure Vermehrung der Opfer gegeben. Die Hölle hatte ihr Maul geöffnet und hielt die Welt zwischen ihren Zähnen.“

Ich habe Ihnen jetzt den ganzen langen Satz zitiert, weil er Stück für Stück sich ins Unerträgliche steigert und viel mehr ausdrückt als die u.U. lapidare Feststellung, das Opfer Jesu sei umsonst gewesen. Wäre dieser Satz wahr, dann wäre unser ganzes theologisches Forschen und unser christliches Wirken eine ganz nutzlose Leidenschaft (wie Jean-Paul Sartre das Leben beschrieb). Es wäre eine Art l´art pour l´art, das Rollen eines Steines auf einen Berg, den wir selbst aufgetürmt haben. Wir Sisyphusse der Theologie könnten für uns zwar in Anspruch nehmen, dass wir es recht meinen und das Gute wollen, aber unser Beginnen wäre in nichts von jedem anderen humanistischen Wirken zu unterscheiden, nur insofern, als es auf einer völlig falschen Annahme beruht. Und Böhmes letzter Satz bringt ja die größte Steigerung noch gar nicht; er schreibt ihn in der Vergangenheitsform, und wenn wir ganz ehrlich sind, hat sich an seiner Analyse bis heute doch nichts geändert: Es müsste eigentlich heißen: Die Hölle hat ihr Maul geöffnet und hält die Welt zwischen ihren Zähnen.

Lesen wir die Johannes-Apokalypse, so scheint es doch so zu sein, dass die hier beschriebenen Zustände eines nahenden Welt-Endes immer zutreffen, damals, jetzt und immerdar… Aber halt: Wo verortet eigentlich Böhme dieses Opfer Christi, sieht er es als historischen Punkt auf der Landkarte der Menschheitsgeschichte? Er teilt sie in ein Vorher und in ein Nachher und stellt fest, dass nach jener (Selbst-?)Opferung schlimmer geopfert wurde als zuvor, womöglich noch im Namen jenes (gescheiterten) Opfers.

An dieser Stelle gäbe es die theologische Ausflucht von dem Nunc Stans des Jesusopfers, dem Immer-Jetzt, vergleichbar der Jesusrede vom Reich Gottes, das von Paulus gedeutet wird als jetzt schon wirksam und immer noch ausstehend, bereits erfüllt und sich noch erfüllend.

Doch begeben wir uns auf eine kurze Zeitreise. Im Film ist das schon lange möglich, (und zuletzt waren wir während des „Jesus-Videos“ direkt dabei, mithilfe eines Zeitreisenden und dessen Videokamera, sahen, wie Jesus starb, wie er ins Grab gelegt wurde und sahen sogar den geschundenen Leichnam.) Wären wir anwesend gewesen, damals, hätten wir irgendeine Möglichkeit dazu gehabt, hätten wir verhindern wollen, was geschieht? Hätten wir es können?

In Patrick Roth s Erzählung „Die Nacht der Zeitlosen“[3]trifft der Erzähler während einer Party mit lauter Filmschaffenden und Schauspielern auf Jackie Ballard, die in Oliver Stones Film „J.F.K.“ Jackie Kennedy verkörpern sollte. Diese schildert die Film-Szene, den Augenblick vor dem Attentat:

„Und mir fiel ein, dass Jackie später sagte, sie habe, als sie die Limousine auf jene Brücke, Augenblicke vor dem ersten Schuss, zufahren sah, noch gedacht, damals gedacht: ´Dort im Schatten der Brücke wird es kühler werden´. Und da, als ich das dachte, mischte sich, so unglaublich schmerzhaft, dass es mir fast die Sinne raubte, das Vorwissen ein, dass er jetzt jeden Augenblick sterben würde, und dass ich … die einmalige Chance hätte, was geschehen war, zu verhindern. Die einmalige Chance. Kennst Du das nicht? Du erzählst etwas nach, und bevor das Grauen sich noch ereignet, in deiner Erzählung, deinem Nach-Erzählen wieder-ereignet, sucht dein Hirn den Sätzen, die du sprechen sollst, zu entkommen, sucht Auswege überall, überallhin, sucht zu verhindern, was geschehen war, sucht ungeschehen zu machen, nein: nicht geschehen zu lassen, was einst geschehen war und du nun wiedererzählen, wieder-geschehen-machen sollst. In diesem Augenblick, mitten während der Aufnahme also, riss ich ihn zu mir her und herab, damit es nicht geschehen konnte. Nie wieder geschehen könnte…“ (S.117f)

Jackie reißt den in diesem Augenblick explodierenden Dummy zu sich herab, verletzt sich dabei, ist verzweifelt, weil es ihr ist, als hätte sich das Geschehen nochmals ereignet, würde sich wieder und wieder ereignen. Ihr verrücktes und in diesem Augenblick doch nachvollziehbares Unterfangen ist es, ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen in der Gegenwart, durch das gegenwärtige Handeln ungeschehen zu machen, nicht geschehen zu lassen, was geschehen ist. Natürlich muss sie scheitern, das sagt der Verstand, aber das Gefühl sucht nach Wegen, ob es nicht doch irgendwie möglich sein kann, ein Opfer aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen und ihm das Leben zu retten. Wenigstens für diesen Augenblick.

Das Opfer Christi, dieses (nach dem Hebräerbrief) letzte Opfer, holen wir wieder, immer wieder, im Abendmahl, wenn wir, es erinnernd und so gegenwärtig-machend, zu uns nehmen. Mit jeder Teilnahme am Abendmahl versichern wir uns gegenseitig, dass dieses Opfer Sinn gemacht hat, wir ihm immer wieder Sinn verleihen und uns leiblich mit hineinbegeben in ein Geschehen, das Immer Jetzt ist. Immer Jetzt auch die biblischen Texte, seine mittelbare Hinterlassenschaft, dokumentiert durch seine Jünger, später die Gemeinde, die ausgelegt, wiederholt werden im Gottesdienst, in der Predigt für uns heute ausgelegt werden.

Jeder Gottesdienst wäre dann so eine Erzählung, wie sie Patrick Roth in seinem mystagogischen Text, der uns heranführt an ein Geheimnis, gegenwärtig macht. Das Geheimnis des Glaubens: in der katholischen Messe wird so die Eucharistie bezeichnet, die man verstehen kann als eine immer wieder stattfindende Transformation, die Wandlung des Göttlichen zum (menschlich-)Leiblichen. Das Opfer wird wieder lebendig, mit uns und in uns. Es wäre nur gescheitert, wenn wir nicht seine Erben wären. In uns lebt diese Vergangenheit, wird Gegenwart, trägt uns in die Zukunft.

Soweit zur – idealtypisch gezeichneten – Praxis der Christenheit. Aber gehen wir nochmals zurück in den Text, in die älteste Überlieferung. Das Markus-Evangelium teilt uns als letzte Worte Jesu folgende mit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Der schlimmste Feind, das schlimmste Monster sind wir uns selbst: Zweifel nagen an uns wie die höllischen Tiere an dem heiligen Antonius, sie sind unsere Versuchungen, und die schlimmste Versuchung ist die Vermutung, das eigene Leben sei sinnlos gewesen, man wäre gescheitert. Viel schlimmer als der nahende Tod muss für Jesus in diesem Augenblick der Gedanke gewesen sein, es sei alles umsonst gewesen. Gott, der Garant für den Sinn seiner Mission, hat ihn verraten, in der schlimmsten Form: hat ihn verlassen. Man erträgt ziemlich viel, wenn man weiß, wofür; aber wenn dieses Wozu einem abhanden gekommen ist? Jesus selbst formuliert hier den Gedanken seines menschlichen Gescheitert-Seins, und es liegt immerhin dieser Trost für uns darin, dass er uns auch darin gleich geworden ist, auch das Verlassen-Sein (oder, das ist in diesem Augenblick dasselbe: Sich-Verlassen-Fühlen) von Gott auf sich genommen, getragen, ertragen hat. Dieser Mensch ist wirklich Gottes Sohn gewesen, das sagt, nach Markus, ein römischer Hauptmann nach dem Tod Jesu. Es wird ihm hier zugesprochen, was er selbst am Ende nicht mehr geglaubt hat. Als wäre es nun unsere Aufgabe, dieses weiter zu glauben und so permanent zu verhindern, dass der Mensch Jesus gescheitert ist.

„Erweckung zum Tod“ – so lautet der paradoxe Titel des Alienbuches von Lutz Döring, den er erst am Ende seiner Untersuchung erklärt. In den ersten beiden Alienfilmen wacht die Heldin Ripley aus ihrem künstlichen Tiefschlaf immer wieder auf, um sich erneut in den (aussichtslos scheinenden) Kampf gegen das höllische Xenomorph zu begeben. Der Kreislauf wird erst zum Ende des Alien 3-Films unterbrochen: nach einer Unzahl von Opfern – es sterben immer alle, bis auf sie – will sie das letzte Opfer bringen, sich selbst. Mit ihrem Selbstopfer endet der Film, mit der „schönen Hüllkurve einer Passionsgeschichte“ (Döring S.393).

Doch wie die christliche Passionsgeschichte endet auch die Aliensaga nicht mit dem Tod. Die Heldin wird in „Alien – Resurrection“ wiedererweckt (das Klonen als technologische Variante der religiösen Wiedergeburt) – ein endgültiges Erwachen diesmal, nicht zum Tod, sondern zum Leben. Ihr Opfer war also umsonst: Sie wollte verhindern, dass das letzte Alien, das sie selbst in sich trägt, überlebt – mit ihrem Tod sollte auch das Böse sterben. Doch nun ersteht sie wieder auf- wider Willen, und das Böse lebt in, mit ihr weiter. Doch emanzipiert sie sich von ihren menschlichen Schöpfern, die mit ihr das Alien (als militärische und medizinische Waffe) wieder beleben wollen. Sie kämpft weiter ihren eigenen Kampf, und die Heldin ist diesmal, am Ende des Films, nicht allein. Auch in den Alienfilmen findet eine Gemeindebildung statt – es ist eine Gruppe von Wesen, die sich angesichts einer gemeinsamen Gefahr gebildet hat. Und nun auf der Erde landet, wo der Ausgang der Geschichte offen steht.

Diese kleine Gemeinde, bestehend aus Cyborgs, Robotern und Tiermenschen, dürfte längst verinnerlicht haben, womit Dillon, der Anführer der Männertruppe in Alien 3, diese zum Kampf gegen das Böse motiviert:

„You´re all gonna die, only question is when. This is as good a place to take the first step to heaven as any. It´s ours…

Only question is how to check out… So I say: let´s fight.”

Hier geschieht die Aneignung des Ortes und der Gegenwart, und die metaphysische Frage nach Erlösung wird physisch-handelnd ge-löst.

Das Opfer im Film ist so letztlich kein endgültig gescheitertes; eingreifend in die Vergangenheit, kann das Opfer wieder in die Gegenwart geholt werden, kann eine bereits geschriebene Geschichte im neuen Nacherzählt-Werden eine Variante entwerfen, die vom Leben und Überleben und Wieder- Erwachen erzählt. Die Mitglieder der Gruppe, die sich am Ende von Teil 3 im Angesicht einer gemeinsamen Mission bildet, sterben - bis auf einen Mann, der ganz am Ende zurückblickt auf das Geschehen und lacht: über das Scheitern des Begehrens der Company, die sich das Alien zunutze machen wollte, und sich freuend am Sieg der Heldin, die allerdings diesen Sieg mit ihrem Leben bezahlt hat. Doch sie ersteht wieder auf, und die neue Gemeinde, die sich nun um sie bildet, hat das alte Humanum hinter sich gelassen, allerdings nicht das Humane: „Ich hätte es wissen müssen, dass du ein Roboter bist“, sagt Ripley zu Call: „Du bist menschlicher als ein Mensch“. Bei ihr selbst ist das Menschliche eine unlösbare Verbindung mit dem Tier eingegangen; durch diese Fusion scheint sie gewappnet, einer Welt entgegen zu treten, die von der Hölle zwischen ihren Zähnen gehalten wird. Was nun? fragt Call, als sie die Erde anfliegen, deren Schönheit beide erstaunt. Ich weiß es nicht, antwortet Ripley, ich bin selbst fremd hier. Was nun?

Lassen wir Sartre zu Wort kommen, der eine Gemeindebildung existentialphilosophisch so beschreibt:

„Sie (die gemeinsame Gefahr) reißt vielmehr jeden aus seinem Anderer-Sein heraus, insofern er ein Dritter ist gegenüber einer bestimmten Konstellation von Wechselseitigkeiten. Mit einem Wort, sie legt die Dreierbeziehung als freie interindividuelle Realität, als unmittelbare menschliche Beziehung frei. Durch den Dritten nämlich enthüllt sich die praktische Einheit, als Negation einer bedrohlichen organisierten Praxis, vermittels der Konstellation von Wechselseitigkeiten.“ (Sartre, KdV 392).

(Oder auch, wie es in Alien 4 auf der Flucht heißt: „Nobody is left behind!“ Dies ist die praktische Offenlegung der Möglichkeit des Humanen als Freiheit.)

Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen, sagt Jesus. Solange zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, ist sein Opfer nicht gescheitert. Können wir als Dreierbeziehungen, als Gemeinden dafür leben, dass das eine Opfer das letzte ist und bleibt, indem wir neue Geschichten schreiben, leben und uns dabei auf den verlassen, der die Angst in der Welt, vor der Welt von uns genommen hat.

So sei´s! Mit herzlichen Grüßen

                          Inge Kirsner

Anmerkungen
  1. Lutz Döring, Erweckung zum Tod. Eine kritische Untersuchung zu Funktionsweise, Ideologie und Metaphysik der Horror- und Science-Fiction-Filme Alien 1-4, Würzburg 2006
  2. in: ZDF-Nachtstudio (Hg.): Mensch und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung, Ffm 2001, 233-258
  3. Patrick Roth , Die Nacht der Zeitlosen, Ffm 2001, S.92-139

© Inge Kirsner 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/ik8.htm