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Magazin für Theologie und Ästhetik


Museumssituationen

Caspar David Friedrich in Essen und Hamburg

Michael Girke

Wer sich in der Kulturlandschaft umsieht, muss sich wundern. Stimmen Bibliotheks- und Theaterbetreiber Klagelieder an über sinkende Besucherscherzahlen, locken andere Bildungseinrichtungen die Menschen in Scharen. Deutschland geht gern ins Museum. Was hofft es dort zu finden? Wenigstens in der Freizeit eine Verbindung zu bedeutenderen Tagen, seine Geschichte, sich selbst?

Auf den ersten Blick ist die Kunst des Malers Caspar David Friedrich der heutigen Zeit recht fern. 1774 geboren, hatte er seinen Durchbruch 1810, musste aber erleben, wie sein Ruhm noch zu Lebzeiten verblasste. Erst 1906 brachte eine Berliner Ausstellung ihn wieder zu Bewusstsein; seitdem ist er ein Vorzeige-Maler, wird in Deutschland, allerdings nur hier, auf eine Stufe mit Raffael und Rembrandt gestellt.

Politisch-ideologischen Vereinnahmungen schiebt die in Essen und Hamburg gezeigte aktuelle Ausstellung einen Riegel vor, dadurch, dass sie auf den Techniker Friedrich fokussiert ist, auf seine Arbeitsweise. Nicht lediglich Einzelobjekten soll der Besucher sich widmen; er ist aufgefordert, anhand der Anordnung der Bilder nachzuvollziehen, wie Friederich auf seinen Wanderungen Motive fand, sie in Studien festhielt, diese zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen gefundenen Motiven zu einem Bedeutungsganzen kombinierte. Ein solcher Formalismus hat seine Grenzen dort, wo es um das geht, was der Maler mit seinen Montagen bezweckte. Den Sinn der Friedrichbilder liefert der üppige Ausstellungskatalog, der geprägt ist von Kunsthistorikern, denen die Friedrichforschung neue Anstöße verdankt.

In Fortsetzung seiner umfassenden Studie (Caspar David Friedrich, 2002) stellt Werner Hofmann die von Friederich intendierte Schwierigkeit heraus, seine Bilder zu deuten. Die hat der Maler noch verstärkt, indem er einem Bild häufig ein zweites an die Seite stellte, so, dass die Werke sich wechselseitig kommentieren und relativieren. Sinnoffenheit, Vieldeutigkeit, Unabschließbarkeit macht Hofmann bei Friederich aus. Daraus erwächst die Frage, ob Kunstwissenschaft einem Oeuvre nicht auch gefährlich werden kann. Mit dem ganzen Arsenal derzeit gängiger Begriffe bringt Hofmann den Maler in aktuellen Theoriediskussionen unter; so wird Friedrich zum großen Erneuerer in seiner Zeit, dazu noch zu einem schon reichlich postmodernen Künstler.

Einleuchtend Werner Buschs Versuch, den Maler vor theoriemodischen Zugriffen zu schützen, ihn aus wirklichen Situationen heraus zu verstehen, in denen er stand. In seinem vor drei Jahren erschienenen Friederich-Buch geht Busch soweit, einen ostdeutschen Landstrich – er liegt Friederichs berühmtem „Mönch am Meer“ zugrunde - nach dem realen Standort des Malers abzusuchen. Die dort möglichen Perspektiven hält er fotografisch fest, um zu zeigen, welche Rolle Fernrohr und Parabolspiegel für Friedrichs spezifischen, Nahes und Fernes verschmelzenden Blick gespielt haben mögen. Darauf dass auch Romantiker gewiefte Medientechniker waren legt Busch gerade nicht das Hauptaugenmerk; er will das Subjektive in Friederichs Perspektiven kenntlich machen. Sein Fazit: Friedrich sei stark von Schleiermachers Auffassung des Protestantismus geprägt worden, entsprechend eröffneten seine Bilder in wechselnden, seiner Alltagswirklichkeit geschuldeten Konstellationen Ausblicke ins Offene. Gemalte Hoffnungen. Auf die dies-, wahrscheinlich auf die jenseitige Zukunft.

Fällt es niemandem auf? Eine kritische Reflektion Friedrichs erfolgt nicht, weder in der Ausstellung noch in all den Essays des Katalogs. Warum sie geboten ist, will ich im Folgenden erläutern.

Im Katalog sind Bewusstseinsprozesse zur Zeit Friedrichs ein Thema. Man sieht es als Faktum an, dass um 1800 dem Menschen bewusst wurde, wie begrenzt seine Erkenntnisfähigkeit ist, wie sehr er Täuschungen unterliege, Illusionen aufsitze. Es wird übersehen, dass die unüberbrückbare Kluft zwischen der Wahrheit auf der einen und dem Menschen auf einer ganz anderen Seite keine objektive Tatsache ist, sondern von einer mächtigen Richtung der Philosophie unterstellt wurde, dem bei Kant klassisch formulierten Transzendentalismus. Es ist diese Philosophie, die dem Menschen jede direkte Wirklichkeitserkenntnis abspricht. Nicht abgesprochen wird sie den Philosophen, deren Methoden als einzig hinreichendes Erkenntnisinstrument dastehen.

Als einen Skandal bezeichnet es Martin Stritt in seinem Buch über ein Gemälde Maarten Van Heemskercks, dass seit der Antike die dominierenden philosophischen und kirchlichen Denker die Erfassung der Welt allein auf abstrakte Spekulationen abgestellt haben. Dagegen stelle die Kunst der europäischen Landschaftsmalerei einen Einspruch dar. Ihr Gegenstand sei das vom Denken als nichtiger Stoff betrachtete, unsichtbar gemachte Gesicht der Erde: dessen sinnliche Eigenschaften, Farben, konkrete Einzelheiten; Dinge, Tiere, Menschen, Landschaften, Städte in ihrer individuellen Gestalt. Vor dem Hintergrund dieses Konfliktes zwischen abstraktem Denken und Kunst lässt sich einiges über Friederichs Werk sagen.

Zu dessen Lebzeiten dominiert das bürgerliche Bewusstsein. Es unterwirft Natur und Gesellschaft seiner Vernunft, weist den Menschen die Regeln ihrer Entfaltung zu. Um Friedrichs Malerei zu würdigen, zieht auch die jüngere Kunstwissenschaft die Figur des Erhabenen heran, die seit Kant eine große Rolle gespielt hat. In Form des Erhabenen habe die avancierte Kunst eine Auseinandersetzung mit dem vom bürgerlichen Bewusstsein Verdrängten, mit Natur- und Triebkräften, mit Gewalt und Tod möglich gemacht. Liest man Kant, ergibt sich ein anderer Eindruck. “Also heißt die Natur hier erhaben, bloß, weil sie die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann“ schreibt der Philosoph in seiner Kritik der Urteilskraft. Leicht erkennbar: Die Figur des Erhabenen erlaubt gerade nicht, sich von den konkreten Qualitäten äußerer und innerer Natur berühren, gar erschüttern zu lassen. Sie ist im Gegenteil eine Vorschrift, Realität stets so veredelt darzustellen, dass das bürgerliche Bewusstsein sein idealistisches Weltbild bestätigt sieht.

Ein eben solches Wirklichkeitsverhältnis zeigt sich auf Friedrichs Bildern. Für die endgültige Fassung seines „Mönch am Meer“ hat er ursprünglich zu sehende Schiffe wieder übermalt, so dass der Blick des Mönchs, der auch der des Bildbetrachters ist, an nichts Konkretem mehr hängen bleibt, sich davon gerade löst. Immer wieder malt Friedrich solche Rückenfiguren, immer ist das Entscheidende auf solchen Bildern nicht die sichtbare Natur/Landschaft, sondern der Umstand, dass alles gleichsam durch die Hinterköpfe der Figuren hindurch gesehen ist. Deren Blick geht durch alles Gegenständliche hindurch und darüber hinaus; Natur ist nie etwas in eigenem Recht, nie bewegt und bedrohlich. Sind Paare oder mehrere Rückenfiguren zu sehen, beschäftigen sich diese nie miteinander, allein die Gleichgerichtetheit, der gemeinsame Blick in die Ferne schafft Verbindungen. Als fänden sich nur jenseits der Lebenswirklichkeit lohnende Ziele.

Bei Friedrich ist äußere Realität vollständig zu einem Gegenstand innerer Ideen und Stimmungen geworden. Mit anderen Worten, seine Kunst hat sich vom theoretischen Denken seiner Zeit vereinnahmen lassen, ist transzendentalistisch geworden.

Welche Bedürfnisse befriedigen diese Bilder? Der Berliner Religionsphilosoph Klaus Heinrich hat untersucht, welche Funktionen Friederichs Kunst in der Zeit des Dritten Reichs hatte. Sie wurde sowohl von der nationalsozialistischen Bewegung in Anspruch genommen, als auch von deren Gegnern, die in die innere Emigration gingen. Heinrichs Befund: In dem Maße, in dem Friedrichs Ästhetik über alles Konkrete hinaus ins Unbestimmte und Unendliche gerichtet ist, kommt sie beiden Vereinnahmungen widerstandslos entgegen. Nicht nur Friedrichs Figuren blicken über alles Naheliegende hinweg und hinaus, seine Bilder sind wie Fenster in die Transzendenz; jeder konnte für wenig Geld Reproduktionen erwerben und zuhause in Augenhöhe anbringen. Diese Bilder erlauben ein geistiges Hindurchtreten, eine Teilhabe am Höheren; ein Bewusstseinszustand, der helfen soll, das, was einen umgibt, als unbedeutend zu erachten, es nicht an sich herankommen zu lassen.

„Nichts gilt die Erscheinung, nichts der Einzelfall, nichts der sinnliche Gegenstand; alles gilt der Ausdruck, alles die gesetzgeberische Umlagerung zu Stil.“ Dies schrieb, 1934, Gottfried Benn in seinem Buch „Lebensweg eines Intellektualisten“. Benns Formulierungen zeigen: Der Transzendentalismus ist weitergewandert ins 20.Jahrhundert. Viel wurde darüber geforscht und geschrieben, es muss hier nicht wiederholt werden, wie verbreitet dies Verhältnis zur Wirklichkeit in Deutschland war. Dieser Geist, der vor lauter idealistischem, abstraktem Höhenrausch sich der Lebenswirklichkeit hoffnungslos entfremdete und bezeichnenderweise nur Oberflächlichkeit erkennen konnte, wo andere Europäer nicht bloß an Höherem teilhatten, sondern eine zivile und gerechte Gesellschaft im Diesseits verwirklichten. Auch bekannt: Wie mühelos dieser deutsche Bewusstseinszustand umschlagen konnte in totale Verhärtung, wie brauchbar er war als Ab-Dichtung, um von nichts Realem erreichbar zu sein, schon gar nicht von den Folgen der Brutalität, den Leiden, die man anderen zufügte.

Was ist ein Museum? Nicht anderes als ein Umgang mit Toten. Der ist sinnvoll, wenn nicht allein deren Privatinteressen auf die Bühne gestellt werden. Das Museum kann zeigen, an welchen Stellen die Bedürfnisse der ehemals Lebenden kollektive Bewusstseinsbildungen berührten: wie versuchten Menschen mit realen Bedrohungen fertig zu werden, mit ihren Ängsten, woran klammerten sie sich, woran zerbrachen sie, welche Konflikte sollten ihre Ideen von Gesellschaft, ihre Religionen und Theorien lösen helfen? Eine solche Befragung machte aus den Toten nicht lediglich faszinierende Idole, sondern Mitmenschen; ihre Erfahrungen hätten mit Situationen zu tun, in denen wir heute stehen, sie ermöglichten Blicke auf noch nicht zuende geprüfte Lösungsvorschläge gesellschaftlicher Fragen, noch immer nicht vermiedene Irrtümer. Die Toten wären Bündnispartner der Aufklärung, das Museum ihr Ort.

Heute dagegen versucht der Ausstellungsbetrieb vor allem Eindruck zu machen. Die Anzahl der Exponate der Friedrichausstellung ist enorm, im Katalog zeigt sich, wie sehr Diskurstheorie und Rezeptionsästhetik den Spielraum der Kunstforschung erweitern konnten; eine nie gekannte Einlassung auf Bildstrukturen ist zu verzeichnen. Deutlich wird aber auch: Eine Kunstrezeption, die sich auf Strukturen beschränkt, muss mit Verstehen nicht viel zu tun haben. Womit haben Strukturen zu tun? Friedrichs künstlerisch artikuliertes, philosophisch-religiöses Wirklichkeitsverhältnis war eben nicht allein seins, mit ihm ist deutsche Geschichte, sind Selbstüberhöhungen und Rassismen verbunden. Seine Bilder unter diesem Aspekt zu analysieren, macht natürlich nicht den „ganzen Friedrich“ kenntlich. Der Hamburger Ausstellung aber ist dieser Teil der (Kunst-)Historie ausgetrieben, es ist damit erreicht, dass das postmoderne Museum ein ähnliches Abschüttelungsunternehmen von konkreter Wirklichkeit ist wie Friedrichs Ästhetik. Sollten früher das Transzendente und das „wahre Sein“ von zuviel Geschichte befreien, so verspricht man sich dies heute offensichtlich von „Sinnoffenheit, Vieldeutigkeit, Unabschließbarkeit“.

Bei einem Zeitgenossen Friedrichs lässt sich ein ganz anderes Wirklichkeitsverhältnis von Ästhetik erkennen. Körperlichkeit, Erotik, Begierden, das konkrete menschliche Leben mit all seinen vermischten Qualitäten schlägt sich in den Bildern des Spaniers Francisco Goya nieder; unerschrocken holt er alles hervor und verarbeit, vor dem Friedrichs Kunstreligion flieht, macht individuelle und gesellschaftlich organisierte Grausamkeit zu Sujets. Sich in Museumssituationen auf diese Bilder einzulassen, heißt, in eine mitunter schmerzhafte Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Konflikten, mit allen menschlichen Abgründen der Zeit Goyas hineingezogen zu werden. Diese Bilder zeigen, was für eine Belästigung Geschichte sein kann.


© Michael Girke 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 44/2006
https://www.theomag.de/44/mg7.htm