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Magazin für Theologie und Ästhetik


‘Heimweh und Verbrechen‘

Oder: Kritische Überlegungen zur bildungspolitischen Dimension von Integrationsfragen

Frauke Annegret Kurbacher

Zu Beginn möchte ich ein paar Thesen oder besser Hypothesen nennen, die ich dann im Weiteren einer kritischen Prüfung unterziehe, sie bilden so einerseits die Basis und zugleich den Fokus des hier zu bedenkenden Zusammenhangs von Bildung und Sehnsucht als Konstituenten der Möglichkeiten eines Selbst- und Weltverhältnisses:

Bildung ermöglicht es uns, eigenes kreatives Potential kennenzulernen, zu erschließen und im Krisenfall einzusetzen. Beide Momente, das der Möglichkeit und des Bedürfnisses nach Bildung und das der Möglichkeit und des Bedürfnisses nach Kreativität sind Menschen existentiell. Sie gehören anthropologisch gesehen zu seiner Verfaßtheit. Der Ausschluß von diesen beiden, die der Anleitung, Übung und des freien Raumes zur Gestaltung bedürfen, kommt von hierher betrachtet einem Verbrechen gleich.

Stoff und Thema des Vortrags war in einer Art neugierig-naiven Enthusiasmuses schnell gefunden, sogar die These oder die Thesen, die das Thema der Tagung mit dem Generalthema der Forschungsreihe und dem internationalen, interdisziplinärem Umfeld verbinden, war spontan vorhanden. Das Eintauchen in diese Thematik hat sich dann jedoch ebenso umgehend als weitaus problematischer und den Begründungszusammenhang als antinomischen erwiesen. Das heißt gleichwohl nicht, daß ich von den eingangs genannten Thesen abrücken möchte, ich muß nur gleichzeitig, geradezu polyphon die Schwierigkeiten benennen, die parallel dazu auftauchen.

Insofern ich behauptet habe, daß es sich bei Überlegungen zu Bildung und Kreativität um menschlich Existentielles handelt, und insofern die noch wenig ausgefeilte These im Raum steht, daß beides etwas mit Sehnsucht zu tun hat (und eventuell auch spezifisch noch etwas mit Europa oder dem Europäischen), und insofern unter Sehnsucht zunächst ein Gefühl zu verstehen ist, geht es hier im Groben und Ganzen um einen Beitrag zu einer Philosophie der Gefühle, die sich wiederum als Teil einer kritischen Revision traditioneller Subjektphilosophie begreift. Ich tauche dabei dieses Mal tief in heute der Psychologie zugeordnetes Terrain, aber dennoch geht es mir gerade um den subjekttheoretischen Ansatz, der nicht von vornherein nach einer Pathologie Ausschau hält, sondern dem kritischen Moment kritische Verfahren an die Seite stellen möchte.

Sehnsucht läßt sich als Gefühl, aber ebenso auch als Haltung beschreiben und als Grundhaltung im Besonderen problematisieren. Unter Haltung verstehe ich zunächst einmal schlicht und hier grob gesprochen die menschliche Fähigkeit sich mit allen seinen menschlichen Kräften: den Sinnen, den Gefühlen, dem Denken, dem Wollen, dem Handeln und dem eigenen Körper halten zu können, und d.h. vor allem, sich orientieren zu können. Vor dem Hintergrund von Haltung sind all unsere Fähigkeiten urteilskräftig. Es wird sich zeigen, daß das Phänomen der Sehnsucht nicht etwas mit unserer Fähigkeit zur Orientierung zu tun hat, sondern auch etwas mit dem Phänomen der Haltlosigkeit.

Aus irgendeinem noch zu erörternden Grund weist dieses Gefühl Sehnsucht aber auch auf eine menschliche Dimension, die uns weniger genehm ist als die der Bildung und Kreativität, die aber zugleich mit im Raum steht, - sie weist auf das, was Georg Büchner in einer brennenden Frage zusammengedrängt hat: ‚Was ist es, was in uns (Menschen) mordet, stiehlt, hurt und lügt?!‘ – Sehnsucht weist – wie wird noch zu zeigen sein – auf Verbrechen, auf die menschliche Möglichkeit zur Verfehlung, zum Verbrechen, zur kriminellen Energie. (Sehnsucht weist überhaupt auf Energie. Vermutlich durch die Figur des Aussetzens, Verschiebens, Vertagens, Verzögerns, Ausspannens, Hinhaltens, Zurückhaltens.)

Nun, was ist an sich so problematisch, schon an der genannten Grundkonstellation: Bildung, Integration, Politik und Sehnsucht – hier in Form des Heimwehs?! All‘ dies bezeichnet – phänomenologisch betrachtet - die Frage nach dem Fremden, zu der vor allem Julia Kristeva so Zutreffendes ausgeführt hat, das für diesen Beitrags neben Karl Jaspers Dissertation einen weiteren Hintergrund bildet.[1]

Von der Problematik des Fremden als besondere Form des Anderen aber wissen wir, daß die Assimilation die Auflösung des Fremden als Eigenes bedeuten würde, und die Integration wäre wiederum die gemeinsame Veränderung mit dem Fremden. Kristeva hat als Lösung für dieses Problem die Entdeckung des Fremden im Eigenen vorgeschlagen, aber immer bleibt das Problem wie dem Fremden als Fremden Gerechtigkeit getan werden könnte, denn da, wo ihm entgegengegangen wird, ist er letztlich kein wirklich Fremder mehr, sondern etwas als Ähnliches an ihm erkannt, - und wo er ausgeschlossen wird, da ist er eben auch nicht angenommen oder gerecht behandelt. Dem Fremden innerhalb einer Gemeinschaft als Fremden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das ist die antinomische Frage, die zur Disposition steht. – So viel zur scheinbar oder wirklich unlösbaren Hintergrundfrage des hier Behandelten.

Doch nun zur Sehnsucht. Was ist ihre Frage? Das Grundproblem der Sehnsucht ist die Präsenz, die Gegenwart. Sehnsucht hat als empfundenes Gefühl u.U. sogar absolute Präsenz, aber das, worauf sie verweist, ist weit entfernt in der Gegenwart oder in der Zukunft, vielleicht sogar in einem Jenseits oder in einem unbestimmten Anderswo, einer unabsehbaren Ferne, es bezeichnet ein grundsätzlich Entzogenes. Unbestimmtheit ist ihr Signum sowohl, was ihre eigene Gefühlsdimension anbelangt als auch den Gegenstand ihres Interesses. Von hier aus kann sie kraftvoller, energetischer Motor, Motivation für Handlungen werden, etwas, das aus der Gegenwart in ein fernes Künftiges forttreibt, oder in kräftiger, starker Erinnerung an ein vergangenes Einstmals utopisches Potential für ein Noch-Nicht entwickelt, auf das ich mich zu bewege. Von der Unbestimmtheit lauert jedoch auch die Gefahr der Erschlaffung, ohne konkretes Ziel wird u.U. jede Handlungsmotivation gebremst, als fiktive, utopische unhaltbar, es bleiben Frustration und Resignation in der Gegenwart. Starker Antrieb bei gleichzeitig aufgehaltener, zurückgehaltener Entladung kennzeichnen so ein in sich selbst Verdrehtes, vielleicht sogar Stillgestelltes, ein sich selbst Angehaltenes. Sehnsucht kommt zunächst einmal per definitionem nicht zur Erfüllung, dieses stehende Ziehen, ziehendes Stehen ist ihr Grundzustand, gegenwärtige Unruhe ist ihre Präsenz (davon wäre eine andere Sehnsucht zu unterscheiden, die mich antreibt und in einem Künftigen doch erfüllt wird). Sehnsucht kann uns an die explosive und radikale und gar nicht harmlose Kraft und Wucht der (zurückgehaltenen) Gefühle erinnern, deren Brisanz innerhalb einer oft zu Kitsch verharmlosten Romantik-Rezeption verlorengegangen zu sein scheint. Dabei scheint noch bei ihren Hauptvertretern wie z.B. Joseph von Eichendorff diese Kraft in den Lösungsangeboten seiner Protagonisten an den Romanenden auf: zumeist in Form der Weltflucht: Klostereintritt, Auswanderung oder Suizid. Selbst wenn unsere Welt, die beste aller möglichen sein sollte, so zeigt der romantisch Sehnsüchtige doch, daß sich in ihr nicht leben läßt. Seine Sehnsucht ist damit immer auch Kritik am Bestehenden, die allerdings ob ihrer Unbestimmtheit auch je kaum einen Weg in aktuelle Tat- und Veränderungskraft findet.

Als Fernweh hat das Zukunftsgerichtete seinen Ort in der Sehnsucht, als Heimweh die Rückwendung nach einem unwiderbringlichen Ort der eigenen Kindheit. In ihrer Unbestimmtheit ist Sehnsucht auch eine Sehnsucht nach dem ‚War-noch-nie‘.

Nachdem vor allem im Ausgang von Kant der Einstellungs- und Haltungswechsel als problematisches Insignum der Moderne philosophisch behandelt ist, wird in Bezug auf die Problematik der Interkulturalität das Gegenteil der zuvor perspektivierten aktiven Momente von Haltung deutungsrelevant, nämlich die ‚Haltlosigkeit‘. Sie wird von Hannah Arendt unter die besondere Problematik des modernen Menschen geordnet. Hierzu geben Karl Jaspers Studien zu „Heimweh und Verbrechen“ bedenkenswerten – von Arendt nicht in dieser Weise perspektiverten - Aufschluß.[2] Anläßlich einer Anzahl von Fallbeispielen unmotiviert scheinender und extrem brutaler Straftaten junger Frauen, für die bereits die ältere Psychologie vor Freud Sehnsucht und Nostalgie, kurz Heimweh als Erklärung bereit gestellt hat, stellt sich die anthropologische Frage nach einer grundlegenden Unverortetheit des Menschen, die ihm Orientierung einerseits ermöglicht, aber überhaupt auch erst nötig werden läßt, und deren theoretische Betrachtung immer wieder im Laufe der Philosophiegeschichte spezifische Haltungen als Orientierungshilfe in der Lebenswelt diskutiert hat. Das Konzept der Sehnsucht – in der psychologisch-philosophisch gefärbten Sicht Jaspers - eine Mischung aus Idealisierung des Fernen und Nicht-Gegenwärtigen bei gleichzeitiger Verdrängung und Unterdrückung des Gegenwärtigen - gewinnt besonders prekäre Brisanz, wenn es an Bildung mangelt, die es dem sich Sehnenden ermöglichen könnte, kreativ mit der schwierigen Situation des In-der-Fremde-Seins umzugehen oder auch bloß einen Ausdruck für das Empfundene zu finden. Dem sich so auf diese fatale Art Sehnenden ist also keine Haltung möglich, die ihn mit sich und der Welt umgehen ließe. Elisabeth Bronfen fragt angesichts der jasperschen Studien, inwiefern nicht jeder Heimatlosigkeit grundsätzlich so ein mögliches Gewaltpotential innewohnt, mit dem der Versuch unternommen wird, durch einen Kraft- und Gewaltakt, den Zustand zu erzeugen, auf den die Sehnsucht nostalgisch zurückweist, uneingedenk, daß dieser Zustand nirgends als in der eigenen Einbildungskraft existiert. Gerade mit dem Verweis auf die Heimatlosigkeit greifen diese Fragen über den anthropologischen Rahmen hinaus bis in aktuelle Diskussionen über Vertriebene, Asylanten etc. Mit Jaspers Überlegung zum Zusammenhang von möglicher Haltung und tatsächlicher Bildung, wird diese Frage nach Haltlosigkeit ganz anders – als bloß juristisch oder politisch – auf unsere Gemeinschaften in einer spezifischen Bildungsverantwortung stehend zurückreflektiert, deren genaue Analyse noch aussteht. Daran schließen Überlegungen zu Gewalt und Gerechtigkeit als potentielle Haltungen an. (Hieran ließe sich auch ein Nachdenken über Gerechtigkeit als Haltung und die Aktualität der Frage nach einer spezifischen historisch gewachsenen Haltung der Bevölkerung in Deutschland anschließen.)

Karl Jaspers psychologische Dissertation zu einem auffälligen Phänomen historischer Gerichtsbarkeit, Medizin und Psychologie, nämlich Straftaten, die aus Heimweh begangen wurden, veranlaßt ihn – wie gesagt - zur näheren Betrachtung, was für Bedingungen jedoch zusammen kommen müssen, um aus einem – vielleicht von fast jedem einmal erlittenen Heimweh – Nährboden für ein Verbrechen werden zu lassen. In diesem Zusammenhang fällt die Bemerkung über den fehlenden sozialen und Bildungsgrad bei den Verbrecherinnen, und das Fehlen der Gesellschaft an dieser Stelle. Diese Gedanken wird von Elisabeth Bronfen fruchtbar aufgenommen. Bei genauerer Analyse scheint das Beobachtete jedoch weitaus komplexer. So schienen mir – aus subjektphilosophischer Sicht – z.B. das Fehlen einer Bezugsperson, der Aspekt des fehlenden Vertrauens und Vertrautsein ebenso ins Gewicht zu fallen wie der der Bildung. Was mich dazu veranlaßt hat, noch einmal phänomenologisch über Sehnsucht als (eine mögliche) Voraussetzung für Verbrechen nachzudenken.

Wo ist die Verbindung zwischen beidem: Sehnsucht und Verbrechen? Sie scheint wiederum in einem bestimmten, nämlichen fehlenden Bezug zur Präsenz, zur Gegenwart, zur Realität zu liegen. Mit einem Bedenken des Phänomens Sehnsucht läßt sich über die subjektive, innere Verfassung nachdenken, die es für ein Verbrechen benötigt. - Verbrechen meint hier vermutlich als auch inneres außer Kraft treten von sonst geltenden, auch subjektiv-verbindlichen Normen und Richtlinien, ein Fehlen persönlicher Orientierung auf Grund von fehlender persönlicher Bindung etc.; einerseits bindet mich dieses unbestimmte Sehnen schon, aber doch nicht aktuell in derselben Konkretion einer wirklichen Verbindung. Sehnsucht in Hinblick auf mögliches Verbrechen hat vermutlich etwas mit folgenden Zuständen zu tun: nicht bei sich sein, Abtrennung vom eigenen Gefühl, durch Verbote, falsche Rahmenbedingungen, Zusammenbruch der bisherigen inneren Welt, etc.

In der konkreten Betrachtung der jasperschen Kriminalfälle zeigt sich nun bemerkenswerter Weise Folgendes: Alle Mädchen können das Sehnsuchtsgefühl, das Heimweh vor der Tat nicht eingestehen, und zwar offenbar nicht nur vor anderen, sondern vor allem vor sich selber nicht. Dafür gibt es Gründe und es hat vor allem Auswirkungen. Die Mädchen wissen, und einige haben es sogar ausprobiert, daß ihr Gefühl als Begründung für eine Rückkehr nicht akzeptiert wird. Es wird nicht anerkannt. Es sich selbst einzugestehen, heißt aber einmal auch, das Gefühl zu fühlen und mit ihm die aufsteigenden Bedürfnisse von Nähe, Vertrautheit und Intimität und den Schock des Verlusts dessen, worauf sich diese Gefühle beziehen, von denen klar ist, daß sie nicht befriedigt werden, z.T. weder in der Fremde noch in der Nähe. Das Gefühl (der Sehnsucht) zu fühlen, hieße hier wohl den Verlust zu realisieren (und z.T. auch die Härte der eigenen Eltern). Die Mädchen lösen sich also – um die Situation zu ertragen - von diesem eigenen Gefühl in einem Akt der Selbstverleugnung (oder psychologisch: Verdrängung) und damit von der letzten Orientierung, die sie noch in der Fremde als Fremde hatten. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes nicht bei sich. In der Fremde sind sie aber auch nicht, da die uneingestandene Sehnsucht gleichwohl wirkt, und sie alles Präsente nur vor dem Hintergrund des Verlusts, des Nicht, des Nicht-Mehr in einer Art Verzerrung und Verschiebung wahrnehmen läßt. Das Ersehnte oder Erinnerte ist jedoch oft nicht weniger verschoben, weil es durch die Erfahrung der Fremde an Idealität gewinnt, die in besonderem Maße aufrecht gehalten werden muß, um mit der Fremderfahrung nicht auch noch das Heimatliche in einer Desillusionierung einzubüßen. Aus dieser bedrückenden Zwangslage, in der ein Gedanke oder eine beiläufige Bemerkung schon den Charakter eines Unumgänglichen, eines Plans einer Notwendigkeit erlangen kann, versuchen sich die kleinen Fremden durch eine Tat zu befreien, die in erschütternder, unsinniger und doch sinniger Logizität, die Rückkehr unabdingbar werden lassen soll. Die Fremde soll in einer Weise verändert werden, die den eigenen Aufenthalt als nutzlos erscheinen läßt und damit die Rückkehr notwendig provoziert. Unbedacht bleibt dabei – aus verständlicher fehlender Einsicht – das genau diese von Daheim z.T. gar nicht gewollt oder ökonomisch möglich ist. Das Heimische selbst ist zum unerreichbar Fernen und Fremden geworden und die Verzweiflung der Taten scheint genau dies auch unbewußt zu reflektieren. - Aus diesem Grund kann die Parallele zur Unbehaustheit des Menschen überhaupt gezogen werden, der nur wie ein Nomade, ein Landstreicher und Taugenichts nicht nur die Welt, sondern das Leben selbst durchstreift, um es in die Unbestimmtheit, aus der er kam, auch wieder zu verlassen. Und gleichzeitig kann die Parallele nicht gezogen werden, dann anders als bei den von Jaspers herangezogenen Fallbeispielen verbindet sich mit dieser soeben genannten allgemeinen Vorstellung vom ortlosen Menschen gerade nicht unbedingt die Vorstellung des Nicht-bei-sich-Seins. Die Kunst, die für Menschen daraus abzuleiten wäre, scheint ja nun im Besonderen die, in sich beheimatet zu sein, wenn doch alles andere nur den Status des ‚Durchgangs‘ hat – aber genau dies, ist den kleinen Straftäterinnen verwehrt (bzw. sie verwehren es sich dann letztlich selbst durch die Abtrennung vom eigenen Gefühl): einmal durch das Gefühlsverbot, das aus ihnen, den einst lieben und arbeitsamen Kindern, renitente Entwicklungsgestörte werden läßt, zum anderen durch den fehlenden Zugang zur Bildung und Selbstbildung überhaupt (fehlende ökonomische und soziale Rahmenbedingungen), und zum Dritten durch ein unausgewogenes Verhältnis äußerer wie innerer Be- und Entgrenzungen. In der Grenzsituation, die das erstmalige Erlebnis der Fremde für sie bedeutet, treffen in monströser Weise äußere und innere Restriktion aufeinander und sorgen offenbar für ein Phänomen totaler Entgrenzung, in dem Brandschatzung, -stiftung und Mord möglich werden; Taten, von denen in fataler Weise erhofft wird, eine alte verlorene Ordnung wieder herstellen zu können. Jaspers beschreibt in sehr eindrücklicher Weise, daß eben die neue Umgebung durch ihre Unvertrautheit noch völlig ohne Wert für die Täterinnen ist. Sie wissen in dieser Hinsicht wirklich nicht, was sie tun, haben keinen Begriff vom fremden Menschenleben außerhalb ihres Erfahrungshorizonts.

Nun steht aber der Mechanismus der Verdrängung, der Verschiebung etc. Menschen überhaupt zu Gebote, wird offenbar von Seelen in Situationen ergriffen, in denen das Empfinden des Gefühls nicht erträglich, u.U. lebensbedrohlich wäre. Die Herstellung eines inneren Selbstbeheimatetseins ist offenbar nur über Reintegration dieser Gefühle zu bewerkstelligen, zu meistern. Es scheint nur mäßig sinnvoll, für diese menschliche Möglichkeit grundsätzlich das Pathologische heranzuziehen. Bildung, die nicht im geringen Maße auch ästhetische Bildung wäre, bzw. eine die überhaupt ästhetischen Zugang zur Bildung vermittelte, könnte hingegen Ausdrucksmöglichkeiten bereitstellen, könnte die Verschiebung wie die Rückbindung oder Auflösung kreativ gestalten, ohne sie gänzlich, weder Gefühl noch Transformation zu verschweigen, auszusetzen.

Interessanterweise zeigen die jasperschen Fälle ja auch, daß das oder die Fremde bereits vor der Haustür liegt, z.T. sind die Mädchen kaum mehr als eine Stunde Fußweg von ihren Elternhäusern entfernt. Dennoch gelingt eine Adaption, eine Selbstaneignung nicht. D.h. es wäre darauf zu reflektieren, wie uns Welt und wir darinnen fremd und heimisch werden können und dafür stehen nicht erst seit Hannah Arendt: Verstehen, Gespräch und Liebe im Raum, die immer auf ein wechselseitiges Verhältnis bauen. Durch die innere Gefühlsablösung sind die kleinen beschriebenen Fremden aber in noch weiterer Weise isoliert als durch ihre äußeren Umstände ohnehin schon. In diesem Zustand, ähnlich wie dem von mir auch bereits andernorts beschriebenem Zustand der Indifferenz,[3] ist ihnen alles möglich. Es sind Zustände ohne Angst und Scham, sie liegen bereits jenseits davon. In anderen Zusammenhängen, wie dem der sexuellen Perversion beispielsweise (Kristeva zieht z.B. Parallelen vom Fremden zum Masochisten) läßt sich einmal zeigen, daß es hier nur um Machtverhältnisse und nicht um Erotisches geht, und daß der leidvollen Ferne vom Gefühl, der Zustand des Reizes, Sinnenreizes entgegengesetzt wird, der jedoch das Defizit nicht wirklich füllen kann, und daher in einer Art Zwangs- und Suchtstruktur immer weiter und heftiger aufgesucht wird (Anflüge davon haben auch einige der oben genannten Straftaten).

Gleichzeitig ist gerade Jaspers als Philosoph später ein großer Kritiker von Haltungen als Versuchen, sich in sich selbst ‚einzuhausen‘. Dennoch wird klar, daß es von hierher auch gesellschaftlich gesehen, eine sinnvolle Anforderung an ein ‚Bei-sich-sein‘ gibt, in sich Zuhause sein, wissen, was man tut, Verantwortlichkeit etc. – nur bleibt zu fragen, wie kann dies sinnvoll aussehen, wie läßt es sich befördern?! - Bildung und persönliche Bindung und Bindungen scheinen nicht die schlechtesten Antworten zu sein.

Anmerkungen
  1. Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main 1990.
  2. Karl Jaspers: Heimweh und Verbrechen (1909). Mit Essays von Elisabeth Bronfen und Christine Pozsár. München 1995.
  3. Siehe Frauke A. Kurbacher: Selbstverhältnis- und Weltbezug. Urteilskraft in existenz-hermeneutischer Perspektive. Hildesheim/Zürich/New York 2005. Bes. 266-269.

© Frauke Annegret Kurbacher 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 44/2006
https://www.theomag.de/44/fk07a.htm