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Magazin für Theologie und Ästhetik


Mehr oder doch weniger?

Notizen, angestoßen von einigen Leitlinien der Kirchen

Andreas Mertin

Seitdem das Problem der Kirchenschließungen bzw. Umnutzungen unausweichlich auf die Kirchen zukommt, haben einige Landeskirchen Leitlinien für ihre Gemeinden ins Netz gestellt. Alle diese Broschüren sind - gerade in ihrer Pragmatik - für die Gemeinden im Blick auf den Umgang mit dem Raumbestand sehr hilfreich und beachtenswert. Im Folgenden geht es weniger um eine Vorstellung dieser Papiere, als vielmehr um einige durch sie angestoßenene Gedanken. Was mich bei meinen Anmerkungen vor allem interessiert, ist die den Papieren abzulesende Gratwanderung zwischen theologischer Begründung, ökonomischen Zwängen und ästhetischen Herausforderungen. Die Schließung oder Umnutzung von Kirchen ist nicht nur gemeindlich oder kirchenpolitisch ein Minenfeld. Gerade auch Menschen, die seit Jahren Kirchen nur während des Urlaubs von innen gesehen haben, werden aggressiv, wenn ihr Weltbild um den Kirchturm als ostentative religiöse urbane Geste gekürzt werden soll. So wie bestimmte Accessoires im Lebensalltag nicht fehlen dürfen, gehört auch die schöne Kirche (aber bitte kein Betonbau!) zu den lebensweltlichen Schmuckstücken, auf die man nicht verzichten möchte. Ob es sich mit der christlichen Botschaft verträgt, derart zum urbanen Modeschmuck degradiert zu werden, wäre noch zu fragen. Doch das Phänomen ist nicht neu. Kirche als bloße Unterhaltung hat eine lange Tradition, denn schon für die Antike galt: „Die Gebildeten gingen damals mit denselben Erwartungen in die Kirche wie in den Hörsaal des Sophisten: sie wollten sich einen Ohrenschmaus verschaffen, ein Stündchen angenehmer Unterhaltung, und viele Prediger waren ihnen darin allzu willfährig“ (E. Norden). Und auch Gebäude können ein Teil derartiger Unterhaltung sein.


Die Evangelische Kirche von Westfalen hat im Jahr 2001 unter dem Titel Kirchen umbauen - neu nutzen - umwidmen ihre Überlegungen vorgestellt.

Auf 62 Seiten werden dort grundsätzliche Vorüberlegungen, Möglichkeiten der Veränderung sowie Hinweise und Tipps für die Praxis vorgestellt. Tenor: "Nicht Reduktion und Rückzug, sondern ein vorurteilsfreies Nachdenken über eine erweiterte gemeindliche, kulturelle und soziale Nutzung der Kirchen ist angesagt." Das kann nur begrüßt werden, denn gerade in den anstehenden und laufenden Diskussionen über den Kirchenbaubestand liegen auch Chancen, die nicht zuletzt in der Diskussion darüber liegen, was die zeitgenössische Gestalt der christlichen Kirchen ausmacht.

"Für viele Gemeinden wird sich die Frage stellen, ob nicht einer der großen Gebäudekomplexe aufgegeben werden muss. Kirche oder Gemeindehaus? Wie soll man sich entscheiden? Um es vorwegzunehmen: Diese Handreichung votiert für die Kirche!" Das musste ich zweimal lesen, um den Sinn zu verstehen. Bei aller sprachlich missverständlichen Formulierung dieser Aussage, scheint mir die alle Diskussion und Argumente vorweg nehmende Festlegung so oder so nicht begründet zu sein. Sie ist auch theologisch kaum haltbar. Aber kirchenpolitisch macht sie natürlich Sinn, denn vor die Alternative Kirche oder Gemeindehaus gestellt, werden viele sich für das Kirchengebäude entscheiden. (Ob Petrus, Paulus und die Apostel ihnen darin gefolgt wären, ist eine andere Frage.) Historisch hat sich das Christentum seit der konstantinischen Wende durch ostentative Zeichensetzung in der Stadt bemerkbar gemacht, ob das aber eine notwendige Erscheinungsform des Christentums ist, lässt sich aber bezweifeln.

Die Schrift der EKvW fährt fort mit einer Skizze der Geschichte des Kirchenbaus um dann trotz aller gegenteiligen Erkenntnis, die sich aus der Schrift ergibt, substantialistisch fest zu halten: "Aber auch ein streng protestantisch begründeter Kirchbau ist bemüht, dem Wort- und Sakramentsgeschehen einen angemessenen Raum zu schaffen. Baustruktur, Raumgröße, Lichtführung und Fenstergestaltung, Symbole, künstlerische Ausgestaltung - alles dies kann mitsprechen, hat eine unterstützende spirituelle Sprache. In einer Zeit, in der sich die öffentlichen Räume zunehmend angleichen, wird diese besondere Qualität von kirchlichen Räumen immer wichtiger. Es ist daher kein Zufall, dass gerade moderne Menschen diese eigene Sprache des Raumes wieder neu entdecken und gerade die historischen Kirchen eine große Anziehungskraft auf sie haben. Die Anziehungskraft der Kirchen besteht in ihrer 'besonderen Ausstrahlung'. Sie helfen den Menschen, sich einzustimmen in Sammlung, Meditation und Gebet. Weder zugunsten eines multifunktionalen Gemeindehauses noch im Falle einer Mehrfachnutzung der Kirche sollte man auf die Möglichkeiten einer solchen Qualität verzichten." Dem könnte man ja noch zustimmen, wenn nicht unter der Hand unterstellt würde, die besondere Qualität sei eben doch eine besondere religiöse Qualität und nicht bloß eine ästhetische. Letztere steht ja außer Frage und es wäre für die Diskussion viel besser, wenn über sie und nicht über religiöse Qualitäten von Inszenierungen gestritten würde. Angesichts der Religionsgeschichte des Kirchenbaus scheint mir nur festzustehen, dass der Glaube sich immer auch in räumlichen Abgrenzungen artikuliert, dass über die Form dieser räumlichen Abgrenzung aber kein Konsens herzustellen ist. Das muss letztlich auch die Leitlinie der EKvW konzedieren. Die oben hervorgehobenen Begrifflichkeiten lassen aber fragen was das ist:

  • angemessener Raum - wäre ein Viehstall etwa kein angemessener Raum für epochale religiöse Ereignisse?
  • unterstützende spirituelle Sprache der Ausstattung - bedarf die evangelische Verkündigung dieser Unterstützung?
  • besondere Qualität kirchlicher Räume - was ist die besondere Qualität in religiöser Hinsicht? (Die ästhetische Qualität soll gar nicht in Frage gestellt werden.)
  • besondere Ausstrahlung - wer oder was strahlt denn da? Das ist zumindest im Rahmen der Barmer theologischen Erklärung ("Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.") gerade als nicht evangelisch einzustufen.

Ein Argument, das in der Diskussion immer wieder auftaucht und auch in der Schrift der EKvW eine Rolle spielt, ist die emotionale Bindung der Gemeindeglieder an "ihre" Kirche. Das scheint mir angesichts der Nomadisierung und gleichzeitigen Globalisierung der Lebensverhältnisse ein merkwürdig anachronistisches Argument zu sein. Denn kaum jemand überlegt ernsthaft, wenn er berufsbedingt in eine andere Stadt umzieht, ob er dies wegen der Bindung an "seine" Kirche unterläßt. Während der knapp 50 Jahre meines Lebens bin ich Mitglied von drei Gemeinden mit vier unterschiedlichen Kirchengebäuden gewesen. In der Lutherkirche in Hagen (heute eine so genannte City-Kirche) bin ich getauft, dann nach der Filiation der Gemeinde in der Markuskirche Hagen konfirmiert (beides übrigens Bauten von Gerhard Langmaack). Später war dann der berühmte Eiermann-Bau der Kaiser-Friedrich-Kirche in Berlin "meine" Kirche, noch später die mittelalterliche Elisabethkirche in Marburg; heute ist es wieder die Markuskirche in Hagen. Alle vier Gebäude sind sicher keine religiösen Durchschnittsgebäude, alle vier sind solche, zu denen man durchaus gefühlsmäßig Beziehungen aufbauen kann. Mich persönlich hat der geradezu calvinistisch anmutende schlichte weiße Bau der Markuskirche geprägt. Aus kulturhistorischen Gründen möchte ich nicht, dass eine dieser Kirchen abgerissen wird. Aber mit der Verkündigung und dem christlichen Glauben hat die Raumgestalt wenig zu tun. Die angebliche spirituelle Sprache der Elisabethkirche in Marburg oder des Eiermann-Baus in Berlin hat die dortigen Predigten und die christliche Verkündigung dort nicht besser oder eindrücklicher gemacht als sie in der schlichten weißen Markuskirche in Hagen erklingen. Aber natürlich: würde man den Menschen Bilder der vier Kirchen zeigen, dann stände an erster Stelle die Elisabethkirche, an zweiter Stelle der Eiermann-Bau und mit Abstand folgten die beiden anderen Kirchen. Aber mit Spiritualität, religiöser Verkündigung und christlichem Glauben hat das nichts zu tun. Es sind ausschließlich kulturhistorische, architekturhistorische und auch bildungsbürgerliche Gründe, die hier bei der Entscheidung eine Rolle spielen. Wenn nun aber das Gemeindeleben in einem kulturhistorisch und architekturhistorisch ausgezeichneten Raum nicht funktioniert, dann muss doch auch überlegt werden, ob man ihn nicht zugunsten des Gemeindehauses aufgibt.

Trotzdem ist die Schrift der EKvW gerade in der sich den grundsätzlichen Überlegungen anschließenden Konkretheit eine wichtige Hilfestellung für Gemeinden, um sich angesichts der anstehenden Fragen zu entscheiden.


Noch konkreter und pragmatischer ist die 2005 erschienene Arbeitshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland konzipiert.

Das Papier eröffnet mit einem Beschluss der rheinischen Kirchenleitung und dieser mit der Feststellung: "Kirchen sind in ihrer architektonischen Gestalt und durch ihre Nutzung als Gottesdienstort für die christliche Gemeinde selbst wie für die Öffentlichkeit wichtiger Bestandteil der Bezeugung des Evangeliums." Auch wenn das im Blick auf die Rezeption sicher stimmt, fragt man sich natürlich, ob es substantiell richtig ist, also wie z.B. die urchristlichen Gemeinden ohne diesen "wichtigen Bestandteil der Bezeugung des Evangeliums" ausgekommen sind. Fehlte ihnen etwas? Das ist keine banale Frage, sondern betrifft den Kern christlicher Verkündigung in der evangelischen Kirche. Sind Kirchengebäude ein "wichtiger Bestandteil der Bezeugung des Evangeliums"? Das hängt vermutlich davon ab, was man unter wichtig versteht.

Der Beschluss der Kirchenleitung ist nun von dem Interesse getragen, Grenzen festzulegen, so genannten Missbrauch zu verhindern und die anstehenden Entscheidungen der Gemeinden in die rechten Bahnen zu lenken. Ein Vorteil von Verwaltungssprache kann es dabei auch sein, dass sie offen und transparent Machtfragen thematisiert: "Die künftige Nutzung des Gebäudes darf kirchlichen Interessen nicht zuwider laufen" heißt es daher in dem Beschluss. Im Interesse einer Sache - das wissen wir seit Alexander Solschenizyns gleichnamigen Romans - kann viel bedeuten - nicht zuletzt das institutionelle Interesse an der Aufrechterhaltung der eigenen Strukturen. Im Folgenden wird das kirchliche Interesse konsequent unter dem religiösen Konkurrenzparadigma definiert. Es gibt offenkundig - trotz aller theologischen Neutralität des Kirchengebäudes - eine beschreibbare Hierarchie der nach-evangelischen Kirchennutzung.

Wenn nicht die Evangelische Kirche, dann wenigstens eine christliche Kirche der ACK. Wenn nicht eine christliche Kirche der ACK, dann wenigstens eine jüdische Gemeinde. Wenn nicht eine jüdische Gemeinde, dann wenigstens eine kulturelle oder soziale Nutzung. Wenn nicht eine kulturelle oder soziale Nutzung, dann wenigstens eine private Nutzung ohne Außenwirkung. Wenn nicht diese, dann eben eine mit Außenwirkung. Und wenn nicht das - dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Denn Nichtchristliche Religionsgemeinschaften (mit Ausnahme jüdischer Gemeinden) und Sekten oder weltanschaulich extreme Gruppierungen kommen nicht in Frage.

Das ist herabsetzend und demütigend für jeden, der sich auf einer niedrigen Stufe in dieser Hierarchie befindet. Zugleich ist natürlich nicht nur bigott, sondern entspricht auch nicht mehr der religionswissenschaftlichen Diskussion. Von Sekten sollte man heute überhaupt nicht mehr sprechen, man spricht allenfalls von religiösen Sondergemeinschaften. Was aber passiert, wenn eine derartige bisher als religiöse Sondergemeinschaft bezeichnete Gruppierung Teil der ACK (Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen) wird? Wenn z.B. im Rahmen der Entwicklung der Gespräche die Neuapostolische Kirche in die ACK aufgenommen würde? Wäre dann die Überlassung einer Kirche an die NAK plötzlich zulässig? Die NAK ist als Kirche anerkannte Körperschaft öffentlichen Rechts. Ihre Taufe wird von den anderen christlichen Kirchen anerkannt. Aber sie ist (noch) nicht Mitglied der ACK. Deshalb darf es offenkundig nach dem Beschluss keine Gebäude für sie geben. Das zeigt die mangelnde theologische Fundierung dieser Hierarchisierung. Auch der verwendete Begriff der Kultur und des Sozialen ist schwammig. Kultur - das sind offensichtlich Konzerte, Ausstellungen und Literaturlesungen, Soziales - das sind soziale Dienste. Ist aber Religion keine Kultur und nichts Soziales? Wenn Religionen aber Kultur und soziale Tatbestände darstellen, warum dürfen dann manche von ihnen nicht kirchliche Gebäude übernehmen?

Letztlich zielt diese Hierarchisierung konsequent auf eines: zu verhindern, dass Muslimen eine ehemals christliche Kirche überlassen wird. Denn, wie sagt der Beschluss so offen und ehrlich: "Bei der Entscheidung über den Verkauf ist die öffentliche Wirkung und die historische Bedeutung des Gebäudes sowie die Identifikation der Bevölkerung mit dem Gebäude (Symbolwert) besonders zu berücksichtigen." In anderen kirchlichen Papieren wie etwa den Leitlinien des Theologischen Ausschlusses der VELKD wird das noch expliziter. Dort distanziert man sich sogar vom Nachdenken(!) über die Möglichkeit eines Verkaufes einer Kirche an einen Moscheeverein. Für den Theologischen Ausschuss der VELK glauben Muslime gar an einen anderen Gott, weshalb ein Verkauf einer Kirche an sie nicht in Frage käme: "Der äußere Symbolwert ist noch mit der christlichen Kirche verbunden, im Inneren wird aber ein anderer Gott verehrt." Übrigens ist die Formulierung nahezu identisch mit einer in der Arbeitshilfe "Umnutzung von Kirchen" der Deutschen Bischofskonferenz: "Die kultische Nutzung durch nichtchristliche Religionsgemeinschaften (z. B. Islam, Buddhismus, Sekten) ist - wegen der Symbolwirkung einer solchen Maßnahme - nicht möglich. Dies geschieht mit Rücksicht auf die religiösen Gefühle der katholischen Gläubigen."

Bei aller Gemeinsamkeit der abrahamitischen Religionen soll man nicht einmal auf die Idee kommen, dass diese etwas verbinde. Das Erfrischende dieser Formulierungen ist es, dass sie so offenkundig ausschließlich kirchenpolitisch, um nicht zu sagen kirchenpopulistisch motiviert sind. Bei einigen Formulierungen fühlt man sich arg an mittelalterliche Auseinandersetzungen zwischen Muslimen, Christen und Juden erinnert, wo ja Gebäude auch nach Symbolwerten besetzt und umgewidmet wurden. Welch tiefe Schmach muss in der Gefühlswelt des Christentums die Umwandlung einer Kirche wie der Hagia Sophie in eine Moschee hinterlassen haben, dass dies bis in das 21. Jahrhundert nachwirkt? Umgekehrt war das Christentum selbst ja nie zimperlich, dort wo es konnte, jüdische und muslimische Gebäude in christliche Kirchen umzugestalten. Jeder Besuch in Toledo oder Cordoba oder auch Rom führt einem das dramatisch vor Augen. Weltweit sind derartige gewaltsame Umwidmungen seit nun beinahe 1700 Jahren tausendfach vorgenommen worden. Offenkundig begreifen die Kirchenleitungen die Frage des Besitzes und der Nutzung von religiösen Gebäuden weiterhin in dieser Tradition als Teil eines abendländischen Kulturkampfes.

All das macht aber nur Sinn, wenn in irgend einem substantialistischen Sinn etwas vom Christentum und seiner Botschaft in den Steinen inkorporiert ist, die das Kirchengebäude bilden, etwas, das bei der Übergabe verloren gehen könnte. Träfe das zu, dann wäre es ein explizit magisches Raumverständnis. Die vielfach beschworene Rücksichtnahme auf die öffentliche Wahrnehmung des kirchlichen Gebäudes ist aber genau dies: Rücksichtnahme auf den immer noch verbreiteten magischen Glauben in der Bevölkerung. Luthers Argument, man solle Kirchen lieber abreissen, bevor man sie für Wohnstätten Gottes halten könnte, suchte gerade eine derartige Rücksichtnahme zu verhindern.

Es gehört zu einer langen Tradition der großen Religionen, die Orte und Gebäude ihrer Konkurrenten zu besetzen und religiös umzufunktionieren. Das ist historisch sicher zu einem guten Teil magischem Glauben geschuldet. Dass etwa an der Stelle der berühmten Mezquita in Cordoba zuerst ein römischer Tempel, dann eine westgotische Kirche, dann eine Moschee und dann eine Kathedrale stand, ist ein Zeugnis dieser archaischen Religionskultur, die mehr mit Vergewaltigung und Religionskolonialismus zu tun hat, als mit religiöser Souveränität. Heute werden allenfalls noch politische Kultorte erobert und umgewidmet. Der Gedanke aber, die Aufgabe und Übergabe eine "Kultgebäudes" an den religiösen Konkurrenten sei noch einmal die Wiederholung jener historischen Demütigungsgeste, scheint immer noch nicht aus den Köpfen der Menschen und kirchenleitenden Gremien verschwunden zu sein. Durch ein Gebäude wird demnach etwas religiös besetzt oder markiert, allgemeiner gesprochen: es werden religiöse Besitztümer an und religiöse Geltungsansprüche in einer Gesellschaft abgesteckt. Dass derartiges Denken heute weiterhin vertreten wird, halte ich für voraufklärerisch. In der Argumentation fällt die Kirche damit sogar noch weit hinter die Position Martin Luthers zurück und gibt all jenen Recht, die Religion an sich für etwas Unaufgeklärtes halten. Aber auch diese Position wird ja heute wieder in der Publizistik vertreten.


Postskriptum

Nach der Publikation dieses Artikels im Magazin für Theologie und Ästhetik werde ich auf den Entwurf der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz aufmerksam gemacht, der die Liste der Stellungnahmen der alten EKU-Kirchen zum Thema komplettiert. Und wie es die Tendenz von bürokratischen Verlautbarungen ist, so werden diese nicht nur munter voneinander abgeschrieben, sie werden von Entwurf zu Entwurf immer schlimmer. Am vorliegenden Papier lässt sich das leicht nachvollziehen. Abgesehen von der nicht durchgehaltenen Terminologie (zunächst geht es um die "Häuser Gottes für die Menschen", dann ist plötzlich die Kirchengemeinde Hausherrin, um schließlich die Kirche als gemeinsames Haus für Bürger- und Christengemeinde zu bedenken), triumphiert wieder der Abgrenzungsduktus. Noch stärker als in den vorher besprochenen Texten dominiert der gesetzliche Charakter. Tu dies nicht, tu das nicht ist der vorherrschende Duktus. Ich habe nicht gezählt, wie oft das Wort "müssen" im Text vorkommt, aber es wird sicher mehr als einmal pro Seite sein.

"Kirchengebäude als Zeugnisse des Glaubens" zu begreifen, wie es das Papier vorschlägt, kann man freilich nur selbstkritisch, denn zunächst und vor allem ist dieses Zeugnis - wie an anderer Stelle gezeigt - ein triumphalistisches und kein evangelisches. Und vor allem führt das zu absurden Konsequenzen. Da man es einem Kirchengebäude schließlich nicht ansieht, ob es entwidmet ist oder nicht, darf nichts in ihm stattfinden, was auch nur entfernt problematisch sein könnte. Eine Kirche der Stadt verkaufen, weil diese dort ihr Standesamt einrichten möchte? Um Gottes Willen! Dann könnten ja später Atheisten mit Fug und Recht behaupten, sie seien in der Kirche verheiratet worden. Und die Kirche verlöre eine besondere Attraktivität für die Klientel der Traumhochzeit-Fetischisten. Warum sollte jemand schließlich in der Kirche bleiben, der nur wegen der Kasualien in der Kirche ist, wenn er die äußere Gestalt auch ohne Bekenntnis und Kirchensteuern bekommen kann? Das wäre doch der Untergang der Volkskirche.

Ganz krude wird es dann im Blick auf die Kirche und die Kultur. Man muss sich die Systematik des Papiers vor Augen führen, um das implizite theologische Konzept zu begreifen: Der Großabschnitt heißt Nutzungen heute und morgen. Der erste Unterabschnitt Kirchen - Häuser für die Gemeinde, der zweite Unterabschnitt Kirchen - offene Häuser für andere (sic!). Zu diesen "anderen" zählen nun auch "kulturelle Nutzungen" und dazu auch Kunstausstellungen. Klar ist offensichtlich aus der Sicht der Verfasser, dass Kunst nicht in den Abschnitt "für die Gemeinde", sondern in den Abschnitt "für andere" gehört. Ich persönlich sehe dagegen Kunst theologisch als zentral an. Kunst und das Engagement für Kunst sind keine luxuriösen Geschmacksfragen und schon gar keine kulturelle Diakonie, sondern betreffen den Kern des christlichen Lebens: "Kunst bezieht sich als reines Spiel auf Erlösung - Das wäre eine schlottrige Auffassung, nach der die Kunst ein Fakultativum für solche wäre, denen es zufällig Spaß macht" - "Das Wort und Gebot Gottes fordert Kunst" [Karl Barth]. Und zwar gerade nicht christliche Kunst. Denn wenn Kunst als Kunst an sich Spiel ist (ästhetischer Schein heißt das in der kunstphilosophischen Debatte), dann ist die Kunst an sich - und nicht in einer spezifischen auf die Gemeinde abgerichteten Form - eine Aufgabe für die Gemeinde. Das Papier der EKBO sieht das anders und schlägt eine Terminologie an, die man seit 40 Jahren in der Kirche nicht mehr gehört hat: Bildende Künstler, die dem christlichen Bekenntnis nahe stehen oder sich in einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit ihm befinden, können und sollen die Möglichkeit erhalten, ihr Werk in Kirchen auszustellen. Auch damit kann die individuelle Beschäftigung des Ausstellungsbesuchers mit seinem persönlichen Glauben oder seiner Frage nach Glaubensgrundlagen angeregt werden. Der innerkirchliche und gesellschaftliche Diskurs über den Weg der Kirche, über ihre Werte und über diejenigen der Gesamtgesellschaft können oftmals durch die Impulse von Kunstausstellungen in Kirchen leichter angeregt werden, als es an anderen Orten gelingt. Sofern die Künstler dabei den Kirchraum und seine Gestalt und Ausstattung einbeziehen und Gespräche über ihr Werk, die Kirche und über weiterführende Zusammenhänge anregen oder sich dazu anregen lassen, kann der Dialog der Kirche und der Gemeinde mit den Künsten für beide Seiten gewinnbringend sein. Diese Terminologie unterscheidet sich in Nichts von der Bürokratenterminologie totalitärer Regime im Blick auf die staatlich zu fördernde Kunst: "Bildende Künstler, die dem sozialistischen/faschistischen Bekenntnis nahe stehen oder sich in einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit ihm befinden, können und sollen die Möglichkeit erhalten ….." Ob ein Künstler dann konkret "dem Bekenntnis nahe steht" oder sich "in einer fruchtbaren Auseinandersetzung" befindet, entscheidet die kirchliche Bürokratie. Das ist eine Schande für die Kirche und beschämend für deren Mitglieder.

Im nächsten Schritt werden die Konfessionen all derer abgefragt, die für die Kirche arbeiten. Es ist schließlich nicht einzusehen, wenn denn Kirchengebäude Häuser Gottes sind, dass Architekten, die dem christlichen Bekenntnis nicht nahe stehen, derartige Zeugnisse bauen dürfen. Das lässt sich beliebig erweitern. Das ist die vollständige Selbstghettoisierung des Denkens.

Nur etwas konzilianter ist das Papier im Blick auf die Musik: "Auch weltliche musikalische Werke können in einem Kirchenraum aufgeführt werden, wenn sie dem christlichen Glauben nicht widersprechen. Mitunter fordert weltliche Musik zu einem Dialog mit christlichen Vorstellungen heraus. Er kann durch einführende Texte und Begleitveranstaltungen angeregt und vertieft werden." Aber selbst das ist von einer Dümmlichkeit, die schwer erträglich ist. Wollen uns die Kirchenleitungen demnächst vorschreiben, welche Musik(!) dem christlichen Glauben widerspricht? Das ist schon nicht mehr nur das Raunen des Terrors. Wohin das führt, konnte in diesem Jahr in Tschechien beobachtet werden: Das Bistum Brünn weigerte sich, in der Sankt Ignatius-Kirche in Jihlava Musik von Gustav Mahler aufzuführen. Das Bistum begründet das Verbot mit einem Vatikanerlass aus dem Jahr 1987, nach dem ausschließlich geistliche oder liturgische Musik in Gotteshäusern aufgeführt werden solle. Das tschechische Bistum stuft die Werke Mahlers pauschal als "nicht genug Gott lobend” ein. Da hat das Konsistorium in Berlin demnächst ja genug zu tun, wenn sie zu ihren FSK(Freiwillige-Selbstkontrolle-Kirche)-Sitzungen zusammenkommen.

Den Abschluss der Reflexionen der Nutzung der Kirche für andere bilden zwei Bestimmungen, bei denen es mir dann geradezu die Sprache verschlagen hat, offenbaren sie doch ein Verständnis der Kunst als Propaganda- und Darstellungsmittel, wie es seit Jahrhunderten unter kulturell Aufgeklärten nicht mehr denkbar ist:

Grenzen der Nutzung von Kirchen für die Werke bildender und darstellender Kunst und Musik sind dort zu ziehen, wo die Ideen und Inhalte der Kunst oder die vom Künstler provozierte oder in Kauf genommene Reaktion des Publikums an diejenigen Grenzen geraten, die nicht mehr mit der notwendigen oder erwünschten Auseinandersetzung von Kunst und Kirche, Kunst und Gesellschaft oder Kunst und Individuum erklärt werden können. Das ist dann gegeben, wenn ein Kunstwerk die Substanz des christlichen Glaubens anzugreifen droht. … Solche künstlerischen Ausdrucksformen, die sich bewusst gegen die christliche Kirche und ihre Glaubensinhalte wenden oder sich in offene Konkurrenz dazu begeben, dürfen keinesfalls in Kirchen präsentiert werden.

Das ist die formvollendete religiöse Barbarei. "Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen? Das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?" fragte schon Schleiermacher. Unter diesen Voraussetzungen: Ja.


© Andreas Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 42/2006
https://www.theomag.de/42/am195.htm