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Magazin für Theologie und Ästhetik


Das Bonhoeffer Oratorium von Tom Johnson

Heiner Gembris

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Es kommt nicht oft vor, dass man innerhalb des zeitgenössischen Musikschaffens einem Werk begegnet, dessen thematisch und musikalisch exponierte Stellung unmittelbar aufscheint und bereits vor seiner Uraufführung gewiss sein dürfte. Die Rede ist vom Bonhoeffer Oratorium, einem Werk in vier Teilen, für vier Solisten, zwei Chöre und Orchester von Tom Johnson, das der in Paris lebende Komponist in den Jahren 1988 bis 1992 geschaffen hat. Außergewöhnlich ist das Bonhoeffer Oratorium in vielerlei Hinsicht: Zunächst nimmt das Werk im bisherigen Oeuvre des Komponisten einen besonderen Platz ein, nicht allein von Umfang und Länge (die Aufführungsdauer liegt bei gut zwei Stunden), sondern auch hinsichtlich der Thematik. Bisher hat Tom Johnson Instrumental-Stücke, Performances, Hörspiele und Opern (wovon die "Vierton-Oper" (1972) und die "Riemannoper" (1988) die bekanntesten sind) geschrieben. Oft liegen seiner minimalistischen Musik Zahlenreihen zugrunde, die musikalisch umgesetzt und hörbar gemacht werden (z.B. in "Symmetries" (1981), "Counting to Eight" (1981), "Rational Melodies" (1982) "How to count to Five in 14 Lessons" (1985), "Music for 88" (1987). Das Bonhoeffer Oratorium aber ist das erste religiöse Werk in seinem Schaffen; ein Werk, das theologische, moralische, geschichtliche und politische Probleme thematisiert. Darüber hinaus ist das Bonhoeffer Oratorium m. W. das erste und einzige religiöse Werk innerhalb der minimalistischen Musik überhaupt.

Dem Bonhoeffer Oratorium liegen Texte von Dietrich Bonhoeffer zugrunde: Predigten, die er in Barcelona, London und Berlin gehalten hat; politische Texte über den "Führerbegriff" und über "Die Kirche und die Judenfrage", theologisch-religiöse Texte aus seinen Schriften "Nachfolge" und "Gemeinsames Leben"; sowie Ausschnitte aus Briefen, die er in den letzen Wochen seines Lebens aus dem Gefängnis schrieb, bevor die Nationalsozialisten ihn am frühen Morgen des 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg erhängten.

Wie lassen sich Bedeutungshaftigkeit und Inhaltsschwere dieser Texte mit der programmatischen Inhaltslosigkeit minimalistischer Musik vereinbaren? Wie kann Musik, wenn überhaupt, theologische Reflexion, philosophisches Fragen, politische Argumentation, moralische Haltung vermitteln? Dies sind grundsätzliche Fragen, die in diesem Werk aufgeworfen werden. Aber es geht nicht nur um die Texte Bonhoeffers, die im Oratorium vertont sind - Texte, die weltweit das christlichreligiöse Denken der Gegenwart wesentlich mitbestimmen - sondern es geht auch um die Person Bonhoeffers, der gegen das nationalsozialistische Regime und auch gegen die Mitläufer in seiner eigenen Kirche Widerstand leistete und diese Haltung mit dem Leben bezahlte. Die Thematisierung des dunkelsten Kapitels deutscher Vergangenheit in einem zeitgenössischen Oratorium ist von beklemmender Aktualität in einer Gegenwart, in der Rechtsradikalismus sich wieder breit macht und in der am 25. März 1994, kurz vor Ostern, in Lübeck wieder eine Synagoge brannte.

Im folgenden möchte ich versuchen, das Bonhoeffer Oratorium vorzustellen. Dass dies lediglich skizzenhaft und an exemplarischen Passagen möglich ist, versteht sich von selbst. Meine Ausführungen dazu basieren in erster Linie auf der Partitur, auf Entwürfen und Aufzeichnungen des Komponisten sowie auf Gesprächen, die ich am 21. und 22. März 1994 mit Tom Johnson in Paris geführt habe.

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Zunächst werde ich einen kurzen Überblick über den formalen Aufbau des Werkes geben. Insgesamt besteht das Werk aus vier größeren Teilen, die ihrerseits aus mehr oder weniger selbständigen Rezitativen, Chören, und Arien komponiert sind.

Teil I : Frühe Predigten

1. Angst vor der Stille (Barcelona, 15. 7. 1928)
          Bariton und Orchester (nur Streicher)

2. Vor der Tür (Barcelona, 2. 12. 1928)
          Tenor, Chor und Orchester

3. Dienet der Zeit (Barcelona, 23. 9. 1928)
          Sopran, Chor und Orchester

4. Reformationsfest (Berlin, 6. 11. 1932)
          Mezzosopran, Chor und Orchester

Teil II: Ein Jahr (Februar 1933 bis Januar 1934)

          Erster Chor

Bariton Rezitativ
Mezzosopran Arie (Radiosendung über Wandlungen des Führerbegriffs , 1. Februar 1933)
Bariton Rezitativ

          Zweiter Chor

Bariton Rezitativ
Sopran Arie (Gideon Predigt, 26. Februar 1933)

          Dritter Chor

Bariton Rezitativ
Mezzosopran Arie (Artikel im "Vormarsch": Die Kirche und die Judenfrage, Juni 1933)

          Vierter Chor

Bariton Rezitativ
Tenor Arie (Petrus Predigt, 23. Juli 1933)

          Fünfter Chor (mit Tenor)

Bariton Rezitativ
Bariton Arie (Brief an die Großmutter, 20. August 1933)
Bariton Rezitativ
Mezzosopran Arie (London Predigt , 22. Oktober 1933)

          Sechster Chor

Bariton Rezitativ
Tenor Arie (Jeremia Predigt, 21. Januar 1934)

          Siebter Chor

Teil III: Die nachfolgenden Jahre

(Texte aus "Nachfolge", 1937, und "Gemeinsames Leben", 1938)

Stichwörter (Tutti)
Billige Gnade (Bariton u. Chor)
Wie die Raben (Rezitativ für Solisten)
Verlasse was dich bindet (Chor)
Der Weg zum Glauben (Mezzosopran u. Chor)
Es ist jedem sein Kreuz schon bereit (Bariton u. Chor)
Wir tragen selbst viel eigene Schuld (Rezitativ für Mezzosopran)
Das neue Lied (Mezzosopran, Tenor u. Chor)
Ja Herr, wir kommen (Chor)
Die sichtbare Gemeinde (Sopran u. Chor)
Ja Herr, wir kommen (Tutti)

Teil IV: Letzte Worte

(Ausschnitte aus Briefen, 1944)

Sieben Stücke für Chor und Orchester ohne Solisten, ohne Dirigent

Teilweise können diese vier Teile oder Ausschnitte daraus auch eigenständig für sich aufgeführt werden. Dies gilt für die vier Predigten aus Teil I. (Die vierte Predigt "Reformationsfest (Berlin, 6. 11. 1932)" wurde am 5. und 6. November 1993 zum Reformationsfest im Berliner Dom von der Berliner Domkantorei unter der Leitung von Herbert Hildebrandt in einer Version für Orgel, Chor und Solisten aufgeführt.) Teil III ist ebenfalls so konzipiert worden, dass er eigenständig aufgeführt werden kann. Die Teile II und IV sollten nur im Gesamtzusammenhang des Werkes aufgeführt werden.

Die recht aufwendige Besetzung sieht folgende Instrumente vor: 2 Flöten, 2 Oboen, 4 Saxophone (Alt, Tenor, Bariton), 2 Trompeten, 2 Posaunen, Tuba, Percussionsinstrumente, Streicher, 2 vierstimmige Chöre sowie vier Solisten (Sopran, Mezzosopran, Tenor, Bariton).

Das Libretto besteht, wie bereits erwähnt, aus Texten, die den Werken "Gemeinsames Leben" und "Nachfolge" entnommen sind. Die frühen Predigten sowie die Briefe finden sich in den Dietrich Bonhoeffer Gesamtausgaben. Die Abfolge dieser Texte im Oratorium spiegelt auch einen zeitlich-biographischen Verlauf wider, der mit Bonhoeffers Aufenthalt als Vikar in einer Auslandsgemeinde Barcelonas 1928/29 beginnt und mit seinen letzten Briefen aus dem Tegeler Militär-Gefängnis endet. Auch die Überschriften von Teil I ("Frühe Predigten") über Teil II: "Ein Jahr (Februar 1933 bis Januar 1934)", Teil III "Die Nachfolgenden Jahre" bis Teil IV ("Letzte Worte") sowie die Datierungen der Texte als Bestandteil des Libretto-Textes orientieren sich an der Chronologie des Lebens Dietrich Bonhoeffers und bringen sie zum Ausdruck. Teil II: "Ein Jahr (1933 - 1934)" macht das Zeitgeschehen und die Stellung(nahmen) Bonhoeffers darin direkt zum Thema: Die Arien mit Texten der Radiosendung, der Predigten, des Zeitschriften-Artikels über die "Kirche vor der Judenfrage"[1] 1sowie des Briefes an die Großmutter werden eingeleitet und verbunden durch die "historischen Rezitative" des Bariton, die den Text der nachfolgenden Arie historisch exakt datieren und den Moment der zeitgeschichtliche Situation schnappschussartig auf den Punkt bringen.

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Am Beginn des Bonhoeffer Oratoriums steht eine Predigt, die Bonhoeffer am 15. Juli in Barcelona gehalten hat. Ihr Thema: "Angst vor der Stille". Der Text zitiert zu Beginn den" Psalm 62,2: Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft", und fährt fort mit den Worten: "Wir haben Angst vor der Stille. Wir sind an Unruhe und Lärm so gewöhnt, dass es uns unheimlich vorkommt in der Stille. Wir fliehen der Stille. Wir jagen selbst von Ereignis zu Ereignis. Wir wollen nicht einen Augenblick uns selbst allein gegenüber stehen müssen....". Wie kann man einen Text, der von Stille und der Angst vor ihr handelt, vertonen? Wie kann Stille, also auch die Abwesenheit von Musik, musikalisch umgesetzt oder ausgedrückt werden? Die kompositorische Lösung dieses Problems ist extrem wie die Stille selbst: Ein Glockenton, der unter einer Fermate verklingt. So beginnt das Bonhoeffer Oratorium. "Psalm 62,2", rezitiert der Bariton auf dem kleinen d. Wieder erklingt ein Glockenton, der bis zur Unhörbarkeit ausschwingt. "Meine Seele ist stille, zu Gott, der mir hilft." Nach einer Pause ertönt abermals die Glocke, bis sich ihr Klang in der Stille verliert. Für den folgenden Text "Wir haben Angst vor der Stille..." verwendet Tom Johnson nur einen einzigen Ton, ein d, auf dem der Bariton die Predigt rezitiert. Begleitet wird der Solist durch die lang ausgehaltenen, ohne Vibrato regungslos liegenden Klänge der Streicher, die ausschließlich den Ton d in verschiedenen Lagen verwenden. Sie bilden ein kontinuierliches Klangband oder einen Klangteppich, auf dem sich die Rezitation des Bariton abhebt. Satz für Satz wird die Predigt rezitiert; jedem Satz folgt eine längere Pause des Sängers, in welcher die Streicher etwas hervortreten, das d in verschiedene Oktavlagen wechseln, was gelegentlich von Obertönen begleitet wird, um wieder zurückzutreten, bevor der Bariton mit dem nächsten Satz der Predigt anhebt. Auf diese Weise entsteht ein Alternieren zwischen Rezitation und Schweigen des Sängers, in dem die Streicher minimal hervortreten; ein markanter Wechsel zwischen der Anwesenheit des Wortes und seiner Abwesenheit. Das auf dem Ton d liegende Klangband, das sich nur minimal ändert, spielt mit einem psychologischen Effekt, der Adaption der Wahrnehmung. Nach einiger Zeit nimmt man einen Ton, der sich nicht verändert, nicht oder kaum mehr wahr, obwohl er vorhanden ist. Die längeren Pausen zwischen den einzelnen Sätzen, in denen Musik zwar da ist, musikalisch aber nichts passiert, erzeugen einen Eindruck von Leere und Stille, vor der sich die gesprochenen Worte um so plastischer abheben, um so eindringlicher wirken.

Es ändert sich tatsächlich nur ein einziger musikalischer Parameter: die Lautstärke, das Pendant zur Stille. Vom piano ausgehend, dramatisiert der Parameter Lautstärke durch crescendi und decrescendi, durch abrupte Wechsel von mezzopiano zu forte die rezitierte Predigt; sie mündet in einem pianissimo, in dem die letzten Worte geflüstert werden.

Die folgenden drei Predigten werden wiederum jeweils durch eine Glocke angekündigt. Der Tonvorrat wird sukzessive ausgeweitet: In der zweiten Predigt verwendet der Komponist hauptsächlich zwei Töne (d und f, gelegentlich auch c in der Solostimme) , in der dritten Predigt drei (d, f, g) und in der vierten Predigt vier Töne (d, f, g, c). Das Instrumentarium wird auf die volle Besetzung ausgedehnt, beide Chöre und alle Solisten eingesetzt.

Aus dem jeweiligen Tonvorrat werden rhythmisch-melodische Pattern gebildet, die repetiert, aneinander gereiht und variiert werden: Sie tauchen in verschiedenen Tonlagen und Instrumentierungen auf und verschwinden wieder, ändern Rhythmus und Akzentuierung und mutieren allmählich zu anderen Mustern. Dabei folgen die melodisch-rhythmischen Pattern der Texte konsequent dem Duktus der Sprache. Die Repetion von Wortfolgen (z.B. "Dienet der Zeit, dienet der Zeit....." ; " tu Buße, tu Buße, tu Buße......") erzeugt ostinate rhythmisch-melodische Muster, in denen sich zeitweilig Wortrhythmus und -klang von der Wortbedeutung ablösen und ein musikalisches Eigenleben gewinnen. Gleichzeitig wird dem Hörer aber auch der Sinn der Worte regelrecht eingehämmert. Diese Technik der "Percussionierung" von Sprache hat Tom Johnson bereits in anderen Werken erprobt und angewendet (Vierton-Oper, Riemannoper; s. Gembris 1989) Durch diese Art der Repetition rhythmisch und melodisch prägnanter Muster und Motive wirkt die Musik stellenweise geradezu mitreißend, ein Effekt, der durch die Percussionsinstrumente des Orchesters und die relativ starke Besetzung der Bläser sicher noch verstärkt werden dürfte.

In schärfstem Kontrast zum Beginn des ersten Teils ("Angst vor der Stille") steht der Anfang des zweiten Teils: ein crescendierender Trommelwirbel, in den der Chor mit rhythmischem Schreien und Händeklatschen, sekundiert vom marschartigen Rhythmus der Schlaginstrumente, lärmend einfällt. Wenn der Chor abbricht, rezitiert der Bariton ("historisches Rezitativ"): "Zwei Tage nachdem Hitler den Jubel der Massen auf dem Wilhelmsplatz entgegengenommen hat, spricht der 26 Jahre alte Pfarrer Dietrich Bonhoeffer über den Sender des Voxhauses. Das heikle Thema: "Wandlungen des Führerbegriffs in der jungen Generation." Darauf folgt die Mezzosopran-Arie mit dem Text dieser Radiosendung. Am Ende der Arie folgt wieder ein zeitgeschichtlicher Kommentar des Bariton ("historisches Rezitativ"): "Aber bevor diese letzten Sätze über den Sender gehen konnten, war Bonhoeffers Mikrofon abgeschaltet worden." Jeder der Arien ist ein solcher historischer Kommentar vorangestellt.

Die Arien, in denen die Stimme des Einzelnen (Bonhoeffers) zum Ausdruck kommt, wechseln ab mit den Chören, die keine Sprache, sondern Silben wie "he","hai","ho" skandieren und von scharf attackierendem Schlagwerk, Trommelwirbeln und Händeklatschen unterstützt werden. Die Arien tragen einen sehr expressiven Charakter; sie sind mehr gesprochen als gesungen und erinnern an die Expressivität des Sprechgesangs in Alban Bergs "Wozzek". Dementsprechend sind sie auch über längere Passagen als Sprechgesang in einer eigenen Notationsform notiert.

Die historischen Kommentare werfen nicht nur ein Schlaglicht auf das weltliche Zeitgeschehen, sondern auch auf die Kirche der damaligen Zeit. So bezieht sich die Tenor-Arie (Petrus Predigt, 23. Juli 1933) auf die Situation der Kirche: "Es ist eine entscheidende Zeit im Leben der evangelischen Kirche, mit viel Streit in der Kirchenpolitik. 'Des Volkes Stimme ist auch Gottes Stimme', sagt Reichsbischof Müller, und Bonhoeffer macht sich Sorgen über die Entwicklung, die er in seiner Kirche sieht. Am 23. Juli, dem Kirchenwahlsonntag, kommt er noch einmal zur Kanzel der Dreifaltigkeitskirche. Dieses Mal spricht er über Petrus, den Fels", rezitiert der Bariton. In dieser Arie wird gegen Ende durch Verschränkung von Tenor und Chor die Konfrontation zwischen dem Einzelnen und der Masse einem dramatischen Höhepunkt zugetrieben, indem der Chor dem Tenor bei den Worten "bekenne" mit Einwürfen "ha", "hai", "ja" ins Wort fällt und übertönt.

Zum Schluss des zweiten Teils obsiegt die Masse: beide Chöre skandieren , mit massiver Unterstützung der Bläser (Blech, Saxophone, Flöten und Oboen) und der Trommeln, auf Silben ("ja", "he", "ha") ausgestoßene, suggestiv und mitreißend wirkende rhythmische Muster, die aus dem forte heraus crescendieren zu einem Höhepunkt, um dann abrupt abzubrechen.

Mit fanfarenartigem Tutti setzt Teil III ein. Die Solisten werfen sich durch die verschiedenen Stimmlagen in immer kürzer werdenden Abständen "Stichwörter" zu ("Der Ruf", "der erste Schritt", "die teure Gnade", "folge ihm nach"), die expositionsartig den Textinhalt der folgenden Abschnitte charakterisieren. Musikalisch ist auch dieser Teil durch den minimalistischen Kompositionsstil Tom Johnsons geprägt; jedoch enthält er Elemente aus dem Jazz: Synkopierungen, Verschiebung von Akzenten. Dadurch entstehen prägnante, zur Bewegung animierende rhythmische Muster und eine einprägsame Melodik. Die Klangfarbe ist besonders durch die Saxophone und Trompeten geprägt, während die Streicher häufig ein durchgehendes Klangband bilden. "Das neue Lied" ist tänzerisch, körperlich, eine Musik, die sich bewegt und die bewegen soll, sagt der Komponist.

Der letzte Abschnitt dieser wahrscheinlich sehr mitreißend wirkenden Musik endet auf dem Wort "Amen" im Tutti (ff). Eine eigenständige Aufführung des dritten Teils wäre damit beendet. Bei einer Aufführung des gesamten Oratoriums schließt sich jedoch der relativ kurze vierte Teil an (Sieben Stücke für Chor und Orchester ohne Solisten, ohne Dirigent). Es erscheint zunächst nicht plausibel, nach der starken Schlusswirkung des dritten Teils noch einen weiteren Teil anzuschließen. Dahinter steht jedoch eine dramaturgische Absicht: Einerseits schien dem Komponisten angesichts der Lebensgeschichte Bonhoeffers, die eine Tragödie war, ein Epilog notwendig. Andererseits haben die sieben Stücke für Chor und Orchester ohne Solisten und Dirigenten eine symbolische Bedeutung: In der Partitur steht dazu folgende Anweisung: "Am Ende von Teil drei verbeugen sich Dirigent und Solisten wie gewöhnlich und gehen ab. Sie kommen aber nicht noch einmal auf die Bühne, sondern bleiben hinter den Kulissen. Wenn der Applaus nachlässt, beginnt das Orchester, vielleicht ermutigt durch einen Lichtwechsel, alleine. Über Lautsprecher hören wir die Stimme des ersten Solisten aus den Kulissen; dann setzt der Chor ein. Die Interpreten auf der Bühne können den Dirigenten auf einem Videobildschirm betrachten; grundsätzlich singen und spielen sie allerdings allein unabhängig von einem Dirigenten, von Bonhoeffer und Gott."

Der Komponist sagt dazu: "Nach dem dritten Teil gehen der Dirigent und die Solisten weg und kommen nicht mehr zurück. (...) Ein theatralischer Schluss: Jetzt sind wir hier allein, ohne Solisten und Bonhoeffer, ohne Dirigent und vielleicht ohne Gott, wie Bonhoeffer im letzten Teil sagt. Wir müssen alleine weitergehen, alleine Musik machen und allein etwas Schönes in der Welt tun. Ich glaube, dass es anrührend sein kann, auch wenn die Streicher nicht ganz zusammen sind und wenn der Chor nicht so stark ist; die Fragilität der Musik kann so zum Ausdruck kommen, trotzdem fahren sie fort ohne Leitung, ohne Dirigent. Das ist auch die Botschaft Bonhoeffers, er sagt im dritten und vierten Stück: 'In der Mitte, im Leben will Gott erkannt werden. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade nur so ist er bei uns und hilft uns." An diesem vierten Teil werden wir sehen, dass Gott ohnmächtig und schwach ist in der Welt; er kann nicht dirigieren, wir müssen uns selbst dirigieren. Im fünften Stück des vierten Teils heißt es: 'Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die im Leben ohne Gott.... fertig werden'. Das war fast eine Revolution in der Theologie, diese letzten Briefe, die letzte Theologie Bonhoeffers. Er sagte, er sei ein Christ, der eine Welt ohne Gott sehen kann. Wir gehen nicht zu Gott, um Regen zu haben, sondern wir bauen Staudämme. Die Menschen sind für sich selbst verantwortlich, das ist der Wille Gottes."

Musikalisch ist dieser Teil so gestaltet, dass den sieben Chören, die Fragmente aus den letzten Briefen Bonhoeffers vortragen, jeweils Textpassagen aus Briefen vorangestellt sind, die von vier verschiedenen Sprechern gesprochen werden. Die gesprochenen Passagen heben sich ab von einem im äußersten pianissimo gespielten Klangteppich des Orchesters aus ruhenden Akkorden. Indem während der gesprochenen Passagen das Orchester im Hintergrund zu hören ist, wird eine Verbindung zwischen Gesprochenem und Gesungenem erreicht. Dieser Teil wirkt sehr verhalten und ernst; die Lautstärke wächst an keiner Stelle über das mf hinaus. Musikalisch steht die Textdeklamation im Vordergrund. Die sieben Stücke verbinden auch die gleichen, sanglichen Motive und melodischen Muster, die aus Dreiklangsmelodik in G gebildet sind und in verschiedenen Weisen variiert werden. Harmonisch-akkordisch steht dieser Teil quasi in G-dur, allerdings ohne dass der Leitton (fis) ein einziges Mal vorkommt.

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Woher kam der Anstoß zum Bonhoeffer Oratorium? Tom Johnson hielt sich 1986 in Berlin auf. Als gläubiger Protestant interessierte er sich dafür, was in der Kirche vor sich ging. Am 4. Februar 1986 gab es eine Feier in der Bonhoeffer Gedächtnis Kirche anlässlich des 80. Geburtstages von Bonhoeffer. Otto Dudzus, ein ehemaliger Student Bonhoeffers und Herausgeber seiner Werke, hielt damals einen Vortrag über seine Forschungen über Bonhoeffer und stellte den kurz zuvor von ihm herausgegebenen Band "Predigten, Auslegungen, Meditationen" (München 1985) vor. Tom Johnson war beeindruckt von der Person Bonhoeffers und seiner Theologie.

"Ich habe dieses Buch gekauft. Ich fing an zu lesen und es wurde nach und nach eine Passion. Ich musste immer mehr lesen. Es war noch nicht eine Frage des Oratoriums. Es war die Frage danach, was bedeutet Christentum, warum fühle ich mich als Christ. Ich wusste nicht, was das für mich bedeutet, und ich wusste nicht, warum das 20 Jahre lang für mich nicht nötig war. Aber jetzt zu dieser Zeit musste ich etwas glauben und etwas praktizieren. Bei Bonhoeffer, besonders bei der "Nachfolge", war alles so klar. Es war das erste Mal, dass ich einen Theologen lesen konnte, alles glauben und verstehen konnte, alles war so klar. Ich hatte keine Probleme mit Terminologie, mit Tradition, mit Interpretation. Es war sehr wichtig für meinen Glauben und mein Verständnis als Protestant."

Tom Johnson schrieb an Eberhard Bethge und bemühte sich um das Recht, Texte von Bonhoeffer benutzen zu können. (Eberhard Bethge, einer der Vertrauten Bonhoeffers, ist (Mit.)Herausgeber der Werke Bonhoeffers, hat eine umfassende, maßgebliche Biographie verfasst und eine Reihe von Publikationen über Bonhoeffer veröffentlicht.) Bethge schlug Tom Johnson vor, an der Konferenz der "International Bonhoeffer Society" in Amsterdam Juni 1988 teilzunehmen. Dort kam Johnson mit Theologen aus Deutschland, England, Südafrika, Amerika und Japan zusammen, die sich mit Bonhoeffer befassten. Dabei wurde ihm auch ein Problem klar: dass die Übersetzungen der Werke Bonhoeffers ins Englische, sofern sie überhaupt verfügbar sind, so misslungen und verkürzt sind, dass er Zweifel bekam, ob etwa Amerikaner Bonhoeffer überhaupt verstehen können. So kamen als Text für ein musikalisches Werk nur die deutschen Originaltexte in Frage. Bereits für diese Tagung hatte Johnson einige Fragmente vorbereitet (so die Predigt zum Reformationstag, die er später als vierte Predigt im ersten Teil verwendete), die von einem kleinem Chor aus Theologen, Pfarrern und Studenten aufgeführt wurden.

"Es war noch sehr unklar, was der Stil des Oratoriums sein muss, aber es war ein Anfang. Vier Jahre später hatte ich alles fertig gestellt. Es war vier Jahre lang eine Passion. Ich wollte ein wirkliches Oratorium schreiben. Später stellte ich fest, dass die Matthäus Passion genau dieselbe Form hat, die ich für das Bonhoeffer Oratorium fand, dieselbe Länge, vier Teile, zwei Chöre, Orchester, Solisten; nur die Saxophone und die Percussionsinstrumente sind anders."

Vom ersten Teil des Oratorium waren die Vertonung der Predigten zum Reformationstag und 'Angst von der Stille" zuerst fertig gestellt. Schwieriger zu komponieren waren die anderen beiden Teile; " 'Vor der Tür' habe ich drei- oder viermal geschrieben", erinnert sich der Komponist. Teil II war ebenfalls recht früh fertig gestellt; Vorläufer der endgültigen Fassung ist eine Hörspielversion. Dieses Hörspiel "Ein Jahr im Leben Dietrich Bonhoeffers", das der WDR Köln hergestellt hat, wurde im Herbst 1989 erstmals gesendet.

Über die einzelnen Teile des Oratoriums meint Tom Johnson: "Der erste Teil zeigt Bonhoeffer als Jünger, als einen deutschen Propheten. Der zweite Teil ist historisch und politisch interessant. Der vierte Teil, die Briefe aus dem Gefängnis über Widerstand und Ergebung, sind vielleicht die tiefste theologische Idee, die ich vertont habe; nur kurze Fragmente, die aber so tief sind. Aber eigentlich ist der dritte Teil der wichtigste, denn das ist die Theologie, wie man nachfolgen kann, wie man ein Christ sein kann oder soll. Ich wollte, dass die Botschaft des Christentums darin ist, Christentum nach Bonhoeffer mit Stärke und Energie, etwas neues, lebendiges, Christentum, das in der Welt von heute etwas bedeutet, nicht etwas Traditionelles oder sehr Frommes."

Für Tom Johnson hat der dritte Teil etwas mit einer revolutionären Haltung zu tun. "Ich weiß nicht warum, aber ich denke über den dritten Teil: das ist die deutsche Linke in den Dreißiger Jahren. Bonhoeffer hat nichts zu tun mit Kurt Weill und kommunistischen Komponisten, aber meiner Meinung nach haben sie dieselbe Haltung, es gibt da etwas ähnliches. Es ist etwas Kämpferisches; sie waren nicht nur gemeinsam gegen die Nazis, sondern es gibt eine intellektuelle Energie, die ähnlich ist. Jedes Mal, wenn ich Texte las wie "Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche.

Unser Kampf heute geht um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware" usw., war das für mich Brecht-Theater; Theater, das die Welt verändern muss. Bonhoeffer ist der Prediger, aber auch der Agitator. Ich versuchte diesen Text mit diesem Gefühl zu vertonen. Das war automatisch ein bisschen Kurt Weill, ein bisschen Musik der deutschen Linken in den 30ger Jahren. Und auch noch 1990 konnte man dieses Gefühl in die Musik schreiben. Eigentlich war das nicht meine Musik. Ich konnte mich nicht damit identifizieren. Das war nicht wie andere Stücke, wo ich sage, ich bin Minimalist, ich bin Tom Johnson, ich muss so schreiben oder nicht so schreiben, ich kann das nicht tun, das ist zu viel Philipp Glass und das ist zuviel Kurt Weill oder Strawinsky, all diese Attitüden, die wir normalerweise haben. Hier musste ich schreiben, was der Text benötigt."

Es stellt sich hier die Frage, wie der Ausdruck von starken Gefühlen, kämpferischer Energie, und auch von politischen, theologischen, historischen Inhalten sich mit den Prinzipien minimalistischer Musik vereinbaren lässt. Dazu Tom Johnson: "Das sind wirklich viele Widersprüche. Meine Musik kam nie aus Gefühlen. Ich war immer dagegen und bin es heute noch. In der elektronischen Musik, die ich schreibe, oder in der Riemannoper kann man Gefühle sehen, aber es sind immer falsche Gefühle. Ich glaube nie an Gefühle. Meine Musik ist immer Anti-Romantizismus, Anti-Expressionismus. Aber das Bonhoeffer-Oratorium ist etwas anderes, hier musste ich das schreiben. Ich kann ja nicht sagen, dass Gott mich anrief, diese Werk zu schreiben. Das wäre zu dramatisch und unwahr. Aber ich hatte eine Motivation, die ich nicht erklären kann. Ich sage nicht, dass es der Wille oder Einfluss Gottes war, aber etwas draußen hat mich benötigt. Ich schrieb dieses Werk nicht als eigenes Werk, es war eine Notwendigkeit.

Dieser Text von Bonhoeffer ist so stark, dieser Text musste singen, und er konnte nur mit meiner Hilfe singen. Aber er muss seinen Gesang singen, nicht meinen. Ich versuchte, ihn nicht zu stören. Dieser Text war ein deutscher Text aus den 30er Jahren, und ich bin ein Amerikaner von viel später, aber der Text muss sein was er ist, nicht was ich bin. Also versuchte ich, das so zu schreiben. Aber ich hatte ein Problem, das ich sonst nie mit anderen Texten und anderer Musik hatte; manchmal weinte ich. Dieser Text, diese Gefühle waren so stark und so wichtig, dass ich manchmal weinte. Wenn die Texte anfingen zu singen, weinte ich noch einmal. Man kann nicht klar denken und gut schreiben, wenn man zu viele Gefühle empfindet. Sehr oft in diesem Zeitraum konnte ich nicht mehr komponieren; ich konnte nur kopieren oder Briefe schreiben, es war zu emotional."

Eine Notiz vom März 1990 aus den Entwürfen und Skizzen bringt Tom Johnsons Verhältnis zu Bonhoeffer und seinen Texten sehr klar zum Ausdruck. Er schreibt dort: "Bonhoeffer war für mich, als ich ihn 1986 zu lesen begann, zunächst etwas wie ein moderner Prophet. Mit der Zeit sah ich ihn mehr und mehr als Märtyrer. Heute ist Bonhoeffer für mich zu etwas anderem geworden: er ist das deutsche Gewissen. Durch Bonhoeffer sprach das Gewissen laut und klar zu den Deutschen seiner Zeit. Durch Bonhoeffers Werk spricht es laut und klar zu den Deutschen der Gegenwart und überhaupt zu allen Menschen am Ende eines Jahrhunderts, in dem seine Rolle nicht immer die erste war."

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Im Mai 1995 ist der Zweite Weltkrieg 50 Jahre zu Ende. Am 9. April 1995 vor 50 Jahren starb Bonhoeffer durch den Strick seiner Henker. Vielleicht wird das Bonhoeffer Oratorium 1995 seine Uraufführung erleben. [Nachtrag: Am 21. September 1996 wurde das Bonhoeffer Oratorium im Rahmen des Musica Sacra Festivals im Theater aan het Vrijthof in Maastricht unter der Leitung von Martin Wright mit überwältigendem Erfolg uraufgeführt.]

Dank: Ich danke Tom Johnson, der mir sämtliche Notenmaterialien, Aufzeichnungen und Skizzen zur Verfügung gestellt hat. Besonders danke ich dafür, dass er mir das gesamte Werk auf dem Klavier vorgestellt hat.

Literatur
  • Bethge, E.: Dietrich Bonhoeffer. Theologe - Christ - Zeitgenosse. Eine Biographie. München 1967
  • Bethge, E.: Dietrich Bonhoeffer. Reinbek: rororo, 13. Aufl. 1993
  • Bonhoeffer, D.: Gesammelte Schriften. 6 Bände, hg. von Eberhard Bethge, München 1958-1974
  • Bonhoeffer, D.: Dietrich Bonhoeffer Werke. 9 Bände, hg. von E. Bethge et al., München 1986-1989
  • Gembris, H. Musikwissenschaft als Oper. Notizen zur Riemannoper von Tom Johnson. In: Quaestiones in Musica. Festschrift für Franz Krautwurst zum 65. Geburtstag, hg. von F. Brusniak und H. Leuchtmann, Tutzing: Schneider 1989, 147-157
  • Gronemeyer, G.: Lust am Zählen. Tom Johnson - ein Portrait. MusikTexte, Heft 25 Juli/August 1988, 21-26
Veröffentlichungen auf der Basis dieses Textes:
  • Gembris, H. (1997) Tom Johnsons Bonhoeffer Oratorium. Bonhoeffer Rundbrief (Mitteilungen der internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft, Sektion Deutschland) Nr. 52, März 1997, 38-50
  • Gembris, H. (1996) "Das deutsche Gewissen“. Tom Johnsons "Bonhoeffer Oratorium“. In: MusikTexte, Heft 66, Nov. 1996, 9-13
  • Gembris, H. (1995) Das Bonhoeffer-Oratorium von Tom Johnson. In: Beer, A. & Lütteken, L. (Hg.): Festschrift Klaus Hortschansky. Tutzing: Schneider, 593-606
Anmerkungen
  1. Tom Johnson verwendet in der Partitur die Überschrift "Die Kirche und die Judenfrage". Der Originaltitel des Aufsatzes lautet "Die Kirche vor der Judenfrage". Er ist die schriftliche Fassung eines Vortrages, der eine Reaktion auf das Nichtariergesetz vom 7. April 1933 war. Als Bonhoeffer diesen Vortrag im April 1933 vor einem Kreis von Pfarrern hielt, verließen einige, wie Bethge (1993, S. 47) berichtet, unter Protest den Saal . Gedruckt wurde er noch im Vormarsch Nr. 3, (6. Juni 1933), S. 171-176; s. a. Gesammelte Schriften II, hg. Von E. Bethge, 44-53

© Heiner Gembris 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 40/2006
https://www.theomag.de/40/hg1.htm