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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips XXV

"Wenn ich das Blut sehe, werde ich vorübergehen"

Andreas Mertin

Je te rends ton amour

CD-Ccover Mylène FarmerNur in einem Land, das einen Georges Bataille und eine Soziologie des Heiligen hervorgebracht hat, kann die Franko-Kanadierin Mylène Farmer, Frankreichs überaus erfolgreicher Superstar, mit einer adäquaten Rezeption und einem Verständnis ihrer Texte rechnen. Nur dort, wo über Verbot und Verbotsübertretung, über Mystik und Sinnlichkeit, über Tod, Heiligkeit, Erotik und  Einsamkeit einigermaßen qualifiziert reflektiert wird, wo die Psychoanalyse bis in die heutigen Tage gesellschaftlich diskutiert und fortgeschrieben wird und damit ihre Relevanz behält und wo die katholische Kirche immer noch ein Exklusivrecht über religiöse Sprache und Bilder einklagt (und es vom höchsten Gericht auch noch erhält), nur dort kann eine Sängerin und Performerin wie Mylène Farmer auf die entsprechende Resonanz stoßen. Sobald man diesen spezifisch französischen ordo verlässt und sich zum Beispiel in die intellektuellen Niederungen der postchristlichen Existenzen Deutschlands begibt, wird ihr Oeuvre mißverständlich, das heißt: vulgärmaterialistisch und vulgärpsychologisch beliebig. Hierzulande erreicht die popmusikalische Religionskritik ihren Höhepunkt mit dem Lied "Paradies" der Toten Hosen und die religiöse Rührseligkeit ihren Scheitelpunkt mit Xavier Naidoo. Videoästhetisch haben weder Religion noch Religionskritik Deutschlands Popmusiker je tangiert, zu mehr als typisch deutscher Innerlichkeit oder typisch deutscher Äußerlichkeit haben sie es nicht gebracht.

Inkriminiertes Werbeposter nach Leonardos AbendmahlOffenkundig ist das in Frankreich anders, wo noch die harmloseste Abendmahlsdarstellung nach Leonardo da Vincis berühmten Mailänder Vorbild auf einem Werbeplakat ein sofortiges religiös begründetes Verbot nach sich zieht, wo mit anderen Worten der Regelvollzug von Verbot und Übertretung noch funktioniert. Was im pseudo-aufgeklärten deutschsprachigen Raum wie tiefstes Mittelalter wirkt - die fortdauernde Gültigkeit und Bestreitung religiöser Gebote und Verbote - ist in Frankreich weiterhin Normalität; vielleicht gerade wegen der dort praktizierten Trennung von Kirche und Staat. In der deutschen Rezeption wirkt Mylène Farmer dagegen als das Fleisch gewordene Symbol des Aufstands gegen die (katholische) Kirche und des Eintretens für die sexuelle Freiheit und das ungezügelte Begehren. Nichts ist weniger wahr. Dies ist eine Lesart, die sich meines Erachtens aus einer unzureichenden Kenntnis einer Diskussion ergibt, die mit der französischen schwarzen Romantik eingesetzt hat und in Frankreich bis in die Gegenwart fortreicht. Deshalb eine kurze Erinnerung:


Der heilige Eros

ITitelcover Bataille: Die Erotikm 20. Jahrhundert ist das Thema der Verbindung von Erotik und Religion vor allem mit den Arbeiten von Georges Bataille verbunden. Es ist sein Verdient, die simple Antithetik von Erotik und Religion zugunsten differenzierterer Betrachtungen aufgehoben zu haben. Gleich am Anfang seines Buches "Der heilige Eros" (L'Érotisme) schreibt Bataille: "Die Erotik kann nur betrachtet werden, wenn man zugleich den Menschen ins Auge faßt. Insbesondere kann sie nicht unabhängig von der Entwicklung der Arbeit und nicht unabhängig von der Religionsgeschichte betrachtet werden [...] In dieser Arbeit erscheinen die Energien der christlichen Religion und des erotischen Lebens in ihrer Einheit." Diese Betrachtungsweise ist insofern interessant, als in der Regel Religion ganz undialektisch als Gefährdung ungestörter Sexualität und Erotik bestimmt wird. Aber, so schreibt Bataille, "die Wahrheit der Orgie kam über die christliche Welt auf uns, in der die Werte noch einmal umgekehrt wurden. Die ursprüngliche Religiosität hat aus den Verboten den Geist der Übertretung gewonnen. Die christliche Religiosität stellte sich insgesamt dem Geist der Übertretung entgegen. Die Tendenz, von der aus innerhalb des Christentums eine religiöse Entwicklung möglich war, ist an diese relative Opposition gebunden. Es ist wesentlich, das Ausmaß dieser Opposition zu bestimmen. Hätte das Christentum dem grundsätzlichen Impuls, von dem der Geist der Übertretung ausging, den Rücken gekehrt, besäße es, meine ich, nichts Religiöses mehr. Im Gegenteil aber bewahrte der religiöse Geist im Christentum das Wesentliche, das er vor allem in der Kontinuität erblickte. Die Kontinuität ist uns in der Erfahrung des Heiligen gegeben. Das Göttliche ist das Wesen der Kontinuität. Die christliche Entschlossenheit überließ in der Stärke ihres Gefühls alles der Kontinuität. Bis zur Vernachlässigung der Wege dieser Kontinuität, der Wege, die eine genaue Tradition geregelt hatte, ohne ihren Ursprung immer spürbar zu erhalten. Die Sehnsucht (das Verlangen), die diese Wege bahnte, konnte sich teilweise in Einzelheiten - und in Berechnungen - verlieren, in denen die traditionelle Frömmigkeit sich oft gefiel. Aber es gab im Christentum zwei Kräfte. Es wollte sich im Grunde den Möglichkeiten einer Liebe öffnen, die mit nichts mehr rechnete. Die verlorene, in Gott wiedergefundene Kontinuität verlangte ihm zufolge jenseits der geregelten Gewalttätigkeit ritueller Delirien nach der verzweifelten, uneigennützigen Liebe des Gläubigen. Die Menschen, die die göttliche Kontinuität verklärte, waren in Gott zu gegenseitiger Liebe erhoben. Das Christentum gab niemals die Hoffnung auf, diese Welt der egoistischen Diskontinuität schließlich zum Reich der Kontinuität, das die Liebe erhellt, zurückzuführen. Die anfängliche Bewegung der Übertretung wurde so im Christentum abgelenkt auf die Vision einer Überwindung aller Gewalttätigkeit, die in ihr Gegenteil verwandelt wird. Es lag etwas Erhabenes und Faszinierendes in diesem Traum."

In den Liedern von Mylène Farmer ist diese fortdauernde ambivalente Beziehung von Eros, Gewalt, Tod und Religion immer spürbar. Auch wenn sie das Thema eher im Bereich des Populärkulturellen abhandelt (d.h. auf die kulturellen Erwartungen des Publikums eingeht), so belässt sie es doch nicht bei antithetischen Klischees, sondern lässt immer auch Lesarten zu, die als Gegenlesungen im Text verstanden werden können. Wenn schon die symbolische Antithetik von Religion und Eros sein muss, dann immer auch in der möglichen Lesart, dass dieser Konflikt ein innerpsychischer und kein nur institutioneller ist. Immer dann, wenn das Symbolsystem ihrer Videoclips einen geradezu einlädt, es als vulgärpsychologische Denunziation des Religiösen zu lesen, denn verändert sie das Zeichenset.


Der Liedtext

CD-Cover Mylène FarmerDer Liedtext von Je te rends ton amour scheint nicht ganz einfach zu übersetzen zu sein, selbst im französischen Sprachraum gibt es ganz unterschiedliche, ja einander ausschließende Auslegungen der einzelnen Liedverse. Meines Erachtens hängt daher schon die Übersetzung von dem jeweils in Anschlag gebrachten Deutungsrahmen ab. Mylène Farmer hat in Interviews auf den Verlust einer persönlichen Liebe oder den Verlust der Gottesbeziehung als mögliche Deutungen hingewiesen. Hinzu kommt sicher der subjektive Bezug auf die Gefühlswelt der Sängerin selbst. Einen weiteren Hinweis gibt vielleicht das Bild, das die Single-Auskopplung ziert. Es zeigt die Sängerin in einem roten Kleid von John Galliano in einer Art Kreuzigungshaltung und dreifach gerahmt von einem schwarzen Loch, einem grauschwarzen Rahmen und einer roten Fläche. Das Cover der Dance-Remix-Version verzichtet dagegen auf den grauschwarzen Rahmen und zeigt die Sängerin nur vor der roten Fläche mit den schwarzen Quadrat, in das ihr Kopf hineingezogen wird. Angesichts dieser Darstellungen machen zumindest die ersten Verse des Liedtextes Sinn, die vom Wunsch der Befreiung aus dem Rahmen und der Rettung des gefährdeten Lebens sprechen. Es ist eine direkte Ansprache an einen Anderen, die von den Folgen der Befreiung aus seiner Umklammerung bzw. Rahmung handeln (Redeviens les contours / "la femme nue debout"). Von Ferne schwingt das Motiv der in ein Bild Gebannten mit (Du hast Dir ein Bild gemacht, ich bin es nicht). Insgesamt bleibt der Text aber mehrdeutig: er kann gelesen werden als den Versuch, das richtige Bild von sich zu gewinnen, ein Bild, das nicht einengt, sondern die wahren Konturen wiedergibt (und hier plädiert Farmer für den Expressionismus Egon Schieles anstelle des Impressionismus von Gauguin (auf den vermutlich auch der Vorwurf zielt, dass seine Farben sich verdünnen): Mais j'ai vu ta main / Choisir Gaugin und stattdessen: Redeviens le contour / De mon seul maître: Egon Schiele. Er kann aber auch als Text einer enttäuschten (religiösen oder realen) Liebe gelesen werden: J'ai cru la fable / D'un mortel aimé / Tu m'as trompé. [Über die hier vermutlich ebenfalls vorliegende Anspielung auf die Malerei des Trompe-l’œil, bei dem ja auch Konturen eine Rolle spielen, müsste noch weiter nachgedacht werden.] Es ist kein Lied über den Verlust der Liebe an sich: Et je reprends mon amour.


Der Clip

Der Clip zu Je te rends ton amour wird 1999 unter der Regie von François Hanss realisiert. Das einzige größere Regiewerk von Hanss ist der Film Corps à corps bzw. Body Snatch aus dem Jahr 2003. Wie die Biographie bei der Internet Movie Database ausweist, ist sein Werk eng mit der Person von Mylène Farmer verbunden. 1986 ist er erster Assistenzdirekter beim Clip Libertine, 1987 beim Clip Tristana, 1988 und 1996 filmt er jeweils ein "Making ofs ..." von zwei Clips, zudem verantwortet er zwei Filme über Tournee-Auftritte von Mylène Farmer.

Der Videoclip zu Je te rends ton amour gilt bis heute als so genannter Skandalclip, weil sich nach seiner Veröffentlichung einige Fernsehsender weigerten, ihn auszustrahlen bzw. ihn nur in einer gekürzten Fassung sendeten. Es war nicht der erste Clip von Mylène Farmer, der diesen Einschränkungen unterlag. Auch der aus dem Jahr 1986 stammende Clip zu Libertine wurde schon wegen - wie es so schön heißt - zu expliziter Inhalte indiziert. Und auch bei dem Clip zu Je te rends ton amour konnte man von vorneherein erwarten, dass es Proteste geben würde. Die Frage ist daher, ob der Clip in der vorliegenden Form nur im Blick auf die zu erwartenden Proteste und die damit zu erzielende Aufmerksamkeit produziert wurde, oder ob ihm inhaltliche Gestaltungskriterien zugrunde liegen. Denn die Tatsache der Indizierung macht einen Clip noch lange nicht zu einem guten Clip und der Umstand, dass Bürger gegen einen Clip protestieren, ist kein Qualitätsmerkmal. Das Ende der 90er-Jahre ist die zweite große Zeit der Videoclipkultur, mit Clips wie Until it sleeps von Metallica, wie Ray of light oder Frozen von Madonna, Ghosts von Michael Jackson, die Hauptzeit der Videoclipgroßmeister wie Chris Cunningham oder Mark Romanek. Alle in dieser Zeit entstandenen Videoclips standen unter einem extrem hohen innovatorischen und videoästhetischen Erwartungsdruck. Wer in der Welt von MTV und VIVA bestehen wollte, musste sich an diesen Vorbildern messen lassen und etwas Spektakuläres bieten.


Beschreibung

Der Videoclip beginnt damit, dass eine Frau tastend aus einer dunklen Höhle oder einem Keller ins Freie tritt. Im nächsten Schnitt sehen wir einen steinernen Monsterkopf. Die Frau tastet sich an Bäumen vorbei langsam weiter voran über eine Wiese. Offenkundig wird sie dabei ge- bzw. verfolgt von einer anderen, nur von hinten sichtbaren schwarzen Gestalt. Die Frau stolpert mehrfach und betritt schließlich eine alte Zisterzienserkirche (Der Clip wurde in der Abbaye du Val im Val-d'Oise gedreht). Gleich am Eingang der Kirche hängt rechts am Fenster(!) ein Christuscorpus, der im Verlaufe des Clips noch mehrfach im Gegenlicht auftaucht. Die Frau betritt einen in der Nähe des Corpus befindlichen Beichtstuhl.

Die schwarze Figur ist ihr in die Kirche gefolgt und taucht ihre Finger (mit langen Fingernägeln, die freilich eher in Richtung Hexe als in Richtung Teufel respektive Priester deuten) in das Weihwasserbecken. Das Wasser scheint nach der Berührung zu dampfen (nach der Volksfrömmigkeit ein möglicher Hinweis auf einen Dämon bzw. etwas Dämonisches). Im Beichtstuhl öffnet die Frau ein mitgebrachtes Buch und wir sehen, dass es in Brailleschrift gedruckt ist. Damit wird klar, dass sie blind ist, was ihre anfänglichen Schwierigkeiten bei der Orientierung vor der Kirche erklärt (nicht aber, warum sie nach dem Verlassen der Höhle bzw. des Kellers kurz die Hand vor Augen hält).

Um welches Buch es sich dabei handelt, ist nicht ersichtlich, für eine Bibel oder auch nur eine biblische Schrift ist es viel zu schmal [die komplette Bibel in der Einheitsübersetzung umfasst 48 Punktschrift-Bände und benötigt im Bücherregal rund 4 Meter Platz]. Zu denken wäre eher an ein Gebetbuch. Die Frau trägt einen Ehering an der Hand, ihre Finger tasten über die Schrift, während die Kamera zum Teil Bilder des Klosters erfasst. Wir sehen Skulpturen und das Kruzifix im Gegenlicht. Die schwarze Figur tritt durch eine hell erleuchtete Tür ein und wischt mit einer Handbewegung die Kerzen aus. Stühle fallen spektakulär um. Die Frau greift zu ihrem Ehering, zieht ihn ab und legt ihn auf das Buch.

Im Gegenlicht erscheint wieder der Christuskorpus am Fenster vom Eingang der Kirche. Dann sieht am, wie die Hand mit den langen Fingernägeln die Tür zum Beichtstuhl schließt. Im Fenster des Beichtstuhls erscheint daraufhin das Gesicht eines Mannes bzw. einer Person hinter dem Gitter. Man sieht kurz die Fingernägel an den Gitterstäben, dann das Auge der Person, das blutrot unterlaufen ist. Der nächste Schnitt zeigt die linke Hand der Frau, auf deren Handballen sich ein Tropfen Blut bildet und später durch die Handfläche rinnt. Für einen kurzen Moment sehen wir die Gesichter beider Figuren ohne trennendes Gitter direkt Face-to-Face. Das Bild wirkt wie eine Spiegelung.

In der nächsten Szene zieht sich die Hand der schwarzen Figur von der Stirn der Frau weg. Deren echte Hand fegt das Braille-Buch samt dem Ehering zur Seite und wir sehen Blut nicht nur über ihre Hand, sondern auch ihr Bein herunterfließen. Durchbrochen wird das Ganze immer durch Blicke auf den Kopf des Christuscorpus im wechselnden Lichtverhältnissen (Evtl ein Hinweis auf einen längeren Zeitraum des Geschehens). Die Hand der schwarzen Figur greift durch das Gitter nach dem Nacken der Frau und zieht sie an das Gitter heran und nach unten. Die Frau greift nach dem Vorhang im Beichtstuhl. Die Steinfigur eines Engels gerät ins Wanken und stürzt auf den Steinboden, wo sie zerschellt.

Unter dem Vorhang des Beichtstuhls fließt nun immer mehr Blut hervor, so dass sich eine ganze Blutlache bildet. Unter aufstiebendem Staub (vermutlich durch den herabfallenden Engel) kommt eine (Grab-)Platte zum Vorschein, auf der griechische und lateinische Buchstaben zu sehen sind. Eine der Buchstabenkombinationen lässt sich zum Wort "D E M O N A S" (also die latinisierte Form des griechischen Wortes für Dämonen) zusammensetzen. Parallel dazu sieht man die Frau außerhalb des Beichtstuhls irgendwo in der Kirche gefesselt auf dem Boden hocken. Sie trägt ein Tuch um den Kopf und hat Blut an den Beinen. Wieder oder noch einmal fallen Stühle im Zeitlupentempo um.

Der Fortgang des Geschehens ist nicht ganz eindeutig. Entweder kann sich die Frau, die nun auf einem Stuhl zu sitzen scheint, das Tuch um ihren Kopf abnehmen (den Schleier, der sie blind macht) oder aber ihr wird das Tuch von einer anderen Person abgenommen. Es sind zwei aufeinander folgende divergierende Szenen, wobei in einer mehr Hände zu sehen sind, als nur einer Figur zukommen würde. (Wenn es Absicht ist, was ich einmal unterstelle, dann ist es nur sehr bedingt zu erkennen und zu durchschauen. Und noch weniger lässt es sich präzise deuten.) Die schon in mehreren Zwischenszenen zu sehenden Stuhlreihen kippen immer weiter und immer wieder um.

Die nächste Szene zeigt die Frau sitzend mit blutverschmiertem Becken (sie scheint aber noch etwas anzuhaben, jedenfalls zeichnen sich Kleiderfasern ab). Zwei Hände umgreifen sie. Die folgenden Szenen zeigen, wie sich immer mehr Blut aus dem Beichtstuhl ausbreitet, wie über die blutige Haut des Oberkörpers der zunächst liegenden Frau blutverschmierte Hände streichen, wie sie dann in aufgerichteter Stellung weiter mit blutigen Händen an den Beinen und den Brüsten angefasst wird. Offenkundig ist sie jetzt wieder mit blauen Seilen gefesselt. Dazwischen eingeschnitten sind nun wieder Szenen aus dem Beichtstuhl, des Beichtvaters und des im Gegenlicht zu sehenden Christuscorpus.

Eine breite Blutlache hat sich nun im Beichtstuhl ausgebreitet, in dem die blinde Frau allerdings überraschenderweise immer noch vollangekleidet zu sitzen scheint, denn man kann ihre Kleidung deutlich sehen. In der nächsten Szene sehen wir einen Klosterbruder durch die Kirche schreiten. Das nächste Bild ist die nun vollständig nackte Frau, die im Gewölbe bzw. oberen Geschoss der Zisterzienserkirche in Kreuzigungshaltung am Gebälk hängt. Es ist eine klare Kreuzigungsadaption bzw. in anderer Lesart eine  Christusidentifikation. Der Körper der Frau ist mit Blut beschmiert, ihre Hände sind mit Seilen an die Balken gefesselt. Durch eine Mauerdurchbrechung im Hintergrund bricht gleißendes Licht aus dem Hintergrund in die Szene ein.

Wir sehen dann wieder das Weihwasserbecken vom Anfang des Clips, nur dass dieses Mal das Becken mit dickflüssigem Blut gefüllt scheint, in das die Hand der schwarzen Person getaucht wird, worauf von deren Fingern das Blut wieder in das Becken hinabtropft. Dann sehen wir die nackten Füße der blinden Frau aus dem Beichtstuhl heraustreten und durch die große Lache des Blutes schreiten. Der Blick der Kamera fährt langsam am Körper der nackten Frau hoch bis er sie voll erfasst. Der Körper ist - abgesehen von den Füßen - vollständig ohne Blutflecke! Wie sonst nur Aphrodite auf dem reinen weißen Meerschaum (der mythologisch den Samen ihres Vaters Uranos verkörpert) sieht man hier die Frau auf der roten Lache schreiten.

Überblendet wird diese Szene mit dem Blick auf den Christuscorpus im Gegenlicht, der an den Fensterbalken hängt. Als die Kamera von der Christusfigur langsam wieder zurückfährt, sieht man die nun über und über mit Blut überströmte nackte Frau in gebeugter Haltung in der Blutlache knien. Wiederum im Gegenschnitt sieht man dann ganz überraschend ein schwarz gekleidetes Double der Frau scheinbar beschwingten Schrittes und mit wehendem Kleid durch die Kirche bzw. den Kreuzgang gehen (wobei sie am Ende, so als würde ihr schwindelig, etwas ins Straucheln gerät und sich an einer Säule festhalten muss). Sie verlässt die Kirche, geht über eine Wiese und entfernt sich von der Kirche(nruine).

Der Blick zurück in der Kirche zeigt wieder die nackte blutüberströmte Frau. Sie liegt nun bäuchlings mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden (in der Nähe des Eingangs der Kirche) mitten in der großen Blutlache. Sie bildet damit - wie schon in der Szene zuvor im Gewölbe der Kirche - ein Double zum gekreuzigten Christus am Fenster. Während sie in der vorherigen Szene aber offenkundig eine erzwungene Haltung eingenommen hatte (insofern sie an das kreuz gefesselt wurde), handelt es sich hier um eine bewusst eingenommene Haltung. Sie muss sich in die Blutlache gelegt und die Kreuzeshaltung eingenommen haben. (Überliefert wird diese Haltung als Gebet u.a. für Brigitta von Schweden).

In der allerletzten Szene des Clips hat sie sich dann offensichtlich wieder erhoben und legt nun bewusst ihren Brautring mitten in die Blutlache. Dieses Schlussbild (= Schlüsselbild) ist nun besonders sorgfältig komponiert, denn man sieht nicht nur die blutige Hand der nackten Frau, die den Ehering in die Blutlache taucht, sondern man sieht auch, wie sich der Christus vom Kruzifix im Blut spiegelt. Dieses Bild ist nun besonders reich an Assoziationen: vom Blutstrahl der Gnade, über den Ring, die in das Blut eingetaucht wird, den Christus, den wir nun wie in einem Spiegel sehen - all das und natürlich noch viel mehr steckt in diesem Paneel. Wenn der Brautring (nach Luther) den Glauben symbolisiert, dann wird dieser hier in einer geradezu sakramentalen Handlung zurückgegeben. Wenn er die mystische Verbindung mit Christus symbolisiert [zu denken wäre hier an Katharina von Siena], dann wird auch diese aufgekündigt.


(Detail-) Deutungen

Es ist die Frage, wie man mit der Dichte und der Fülle, der Rätselhaftigkeit und auch der Widersprüchlichkeit dieses Clips umgehen kann und soll. Offenkundig ist diese kaum zu entschlüsselnde Rätselhaftigkeit gewollt. Jede Deutung, die in eine bestimmte Richtung zielt, wird sofort durch andere Details dementiert oder zumindest korrigiert. Sicher ist in diesem Clip gar nichts. Weder, wie viele Personen eigentlich in der Kirche sind (zwei, drei, vier?), noch die zeitlichen Verhältnisse (werden hier Stunden, Tage, Monate oder Jahre gespiegelt?) noch die Adressaten und Kritikpunkte (katholische Kirche, innerpsychische Prozesse, anthropologische Fragen).

  • Die Feuerstelle (Liedtext)

Für die Textzeile Je voyais l'âtre / Tous ces inconnus / Toi parmi eux habe ich im Internet nur unbefriedigende Erläuterungen gefunden. Das Feuer deute auf die Hölle, die Unbekannten auf die Teufelsanbeter - so eine Interpretation. Das Feuer sei ein Symbol der verzehrenden Fanverehrung für den Star Mylène Farmer und die Unbekannten wären die namenlosen Fans - so die zweite Deutung. Das Feuer sei ein Kaminfeuer aus der Kindheit, der Vertraute unter den Unbekannten ihr Lebensgefährte. Einleuchtend finde ich alle diese Assoziationen nicht - ohne ihnen eine rundum befriedigende Alternative entgegen stellen zu können. Als christlich sozialisiertem Menschen kommt mir in der Kombination der Worte und der oben angedeuteten möglichen Kontexte eine weitere mögliche Deutung in den Sinn, die an Lukas 22, 54ff. anknüpft:

"Duccio di Buoninsegna: Petrus verleugnet JesusSie ergriffen ihn aber und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. Da sah ihn eine Magd am Feuer sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin's nicht. Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist ein Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. Und der Herr wandte sich und sah Petrus an."

Nach der Festnahme in Gethsemane und der Verschleppung vor Kaiphas sieht Jesus seinen Jünger Petrus unter den ansonsten Unbekannten am Feuer an. Wäre diese Bezugnahme die intendierte, dann handelte es sich bei dem Liedvers in der erste Strophe um eine Aussage der Frau über jemanden, der sie verrät: "Ich sah die Feuerstelle / All diese Unbekannten / Dich unter ihnen. Die Frage wäre dann, ob der Verweis auf den Verrat des Petrus direkt religiös oder eher metaphorisch gemeint ist. Schon in der ersten Strophe des Liedes wäre jedenfalls das Motiv des Verrates eines Menschen angedeutet. Im Sinne der vorletzten der oben geschilderten Szenen könnte es sich natürlich um eine weibliche Christusidentifikation handeln, die Petrus, den Fels auf dem die Kirche gründet, in den Blick nimmt. Der biblischen Überlieferung entsprechend ist Petrus einer der ersten Bekenner, aber auch der erste Verleugner Christi sowie einer der ersten Zeugen des Auferstandenen. Petrus ist so auch ein Symbol für die gesamte Ambivalenz der Kirche, ihre "schuldhaft verweigerte Kreuzesnachfolge". Auf dem abgebildeten Gemälde von Duccio di Buoninsegna (1255-1319) [zwischen 1308 und 1311 gemalt, heute im Dommuseum in Siena], das den Verrat des Petrus zeigt, ist eine entsprechende Situation abgebildet, die den Bezugspunkt des Liedverses darstellen könnte.

  • Der Ring (Videoclip)

Der Ring, den die Frau trägt, hat ganz offenkundig eine zentrale zeichenhafte Bedeutung. Der Ring taucht an zwei (einander in der Sachlogik eigentlich ausschließenden) Stellen im Videoclip auf: Gleich am Anfang im Beichtstuhl, als die blinde Frau den Ring demonstrativ von ihrem Finger abzieht und auf das Buch mit der Brailleschrift legt. Und schließlich am Ende des Clips, als die Frau in der großen Blutlache kniet, in der sich auch der Corpus Christi spiegelt, und in die sie den Ring vorsichtig legt bzw. eintaucht. Nun ist die Verbindung eines Brautringes mit Christus an dieser Stelle zu offensichtlich, als dass man in der Deutung an ihr vorbeigehen könnte. Gleich zwei Mal wird der Ring weg gelegt, einmal im Kontext des Blindseins und einmal im Kontext des Blutes. Jedesmal geht es um religiöse Bindungen, beim ersten Mal eher um die Kirche bzw. die Beichte, beim zweiten Mal um die Verbindung mit Christus.

Barna da Siena: The Mystic Marriage of Saint CatherineIn der Hagiographie taucht das Motiv der mit Jesus mittels eines Rings vermählten Heiligen etwa bei Katharina von Siena (1347-1380) auf. Das ökumenische Heiligenlexikon schreibt über sie: "Mit 18 Jahren trat Caterina in ihrer Heimat gegen den Willen ihrer Eltern in den Dritten Orden der Dominikaner in Siena ein. Sie lebte in asketischer Strenge gegen sich selbst und mit äußerster Hingabe in der Pflege von Kranken und Armen, mehr und mehr kam nun auch ihre seherische Begabung zum Vorschein. In einer mystischen Vision erlebte sie ihre Vermählung mit Christus, den Ehering sah sie ihr Leben lang an ihrem Finger. Mit inständigen Gebeten erflehte sie für ihre Eltern die Lösung aus dem Fegefeuer und nahm Peinigungen auf sich." Meines Erachtens sind hier einfach zu viele Querverbindungen zum Geschehen im Clip, als dass man noch von einem Zufall sprechen könnte.

Bei aller Verbundenheit mit dem ordo des Mittelalters ordnet sich die Heiligenlegende der Katharina von Siena zugleich aber auch ein in die mittelalterliche Revolution von der Objektivität der Kirche zur subjektiven Aneignung des Heils: "Im Zusammenhang mit der religiösen Frauenbewegung seit dem späten 12.Jh. werden zahlreiche mystisch begabte Beginen und Nonnen bekannt (Maria von Oigniès, Lutgard von Tongeren, Hadewijch, Mechthild von Magdeburg, Angela von Foligno). Braut- und Leidensmystik, die eine »individualisierte« Gottesbeziehung voraussetzen, sind nur die auffälligsten Manifestationen einer allgemeinen Humanisierung, nicht im Sinne eines humaneren Umgangs, sondern als Verschiebung der Weltsicht mehr und mehr in die Subjektivität des Menschen, der sich als Zentrum der Schöpfung versteht. ... Angesicht der Zersetzung von weltlicher und geistlicher Herrschaft war aber auch der Rückzug in das »innere Reich« eine Reaktionsmöglichkeit – auch für Laien. Das späte Mittelalter ist frömmigkeitsgeschichtlich so sehr die Zeit der Mystik, dass man speziell bei den weiblichen Heiligen des 14. und 15.Jh.s von einer »mystischen Invasion« spricht – nur an Birgitta von Schweden (1302/3–1373) und Katharina von Siena (1347–1380) sei erinnert." [Artikel 'Mittelalterliche Kultur' im Evangelischen Kirchenlexikon (EKL) Bd. 3/8, S. 489ff.]

Speziell im Blick auf Katharine von Siena notiert das Ev. Kirchenlexikon ergänzend: "Eine Reform der Kirche von oben wurde erstrebt, indem die jeweiligen geistlichen und auch weltlichen Herrscher unter Androhung des Zornes Gottes und durch Erinnerung an die grenzenlose Liebe des geopferten Christus dazu gedrängt wurden, die ihnen aufgetragene Rolle wahrzunehmen. In ihrer Korrespondenz, besonders aber in dem zwischen Oktober 1377 und Sommer 1378 entstandenen »Dialog der göttlichen Vorsehung«, der weitgehend als Zwiegespräch zwischen Katharina und der Gottheit konzipiert ist, entwickelte Katharina ihre spiritualistischen und ekklesiologischen Vorstellungen, in deren Zentrum die Erlösungstat Christi steht Ihre Orientierung am leidenden Christus führte zum Versuch, sich in Christi Opfer durch den »Herzenstausch« hineinzuversetzen. Katharina betonte dabei wie andere Mystikerinnen auch ihren »eucharistischen Hunger« und stellte die Kirche als einen Garten dar, der vom Blut Christi benetzt sei. Der Papst habe dieses zu verwalten, die Priester seien mit dessen Austeilung beauftragt, selbst dann, wenn sie sich ihrer Aufgabe als unwürdig erweisen sollten. [EKL Bd. 5, S. 314-315).

  • Das Blut (Videoclip)

Blut ist nicht nur nach dem Satz des Mephistopheles im Faust ein ganz besonderer Saft, sondern im Videoclip zu Je te rends ton amour auch ein konstitutives Element der Bildargumentation. Anders als in den Videoclips manch anderer berühmter Popkünstler (etwa bei Madonnas Clip zu "Like a prayer", wo eine blutige Träne aus dem Auge der Heiligenstatue quillt, oder David Bowies "The hearts filthy lessons", wo Blut bei der Opferung nur symbolisch angedeutet wird) kommt Blut hier reichlich zum Einsatz. Andererseits sind Mylène Farmer und François Hanss auch weit entfernt von der Blut- und  Gewaltorgie des Passionsfilms von Mel Gibson oder dem Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch - auch wenn es zu letzterem einige Verbindungen gibt.

Albrecht Dürer, Christus in der Kelter, um 1505/10Zunächst taucht Blut im Beichtstuhl als Tropfen auf der linken Handwurzel der Frau auf. Die unmittelbare Assoziation an die Stigmatisation wird vermieden, ist aber naheliegend. Das Blut fließt bei der Frau über die Handfläche nach unten. Anders als in weiten Teilen der christlichen Deutungskultur wird das Blut hier aber wohl kaum als heilsam begriffen, eher als Verletzung bzw. Verwundung. Das Geschehen hat offenbar wenig mit der mythischen Herz Jesu Verehrung zu tun, die sich in die Schmerzen Christi versenkte und sie so intensiv nachlebte, dass sie sie selbst physisch erlebte.

Das sich anschließende Bild mit Blut ist jenes, in dem Blut am Bein der Frau herunterläuft. Allgemein wird dies in der Rezeption des Clips als Symbol verletzter Jungfräulichkeit gedeutet. Zwingend finde ich das nicht. Es kann ebenso auf die Menstruation hinweisen oder eine Vergewaltigung. Jedenfalls aber verweist es auf die Frau als Wunde: "Die sich als Wunde fühlt, wenn sie blutet, weiß mehr von sich als die, welche sich als Blume vorkommt, weil das ihrem Mann in den Kram paßt." [Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben]

Im Videoclip fließt nach und nach immer mehr Blut. Es Blut fließt aus dem Beichstuhl in den Raum der Kirche und bildet dort eine große Lache. Mehr inhaltlich als ikonographisch entspricht das den Darstellungen des so genannten Blutstrahls der Gnade oder in einem ähnlich populären Bildtyp, dem Christus in der Kelter. Ähnlich martialisch wie im Videoclip von Mylène Farmer wird dabei Christus in eine Weinkelter gepresst, auf dass sein Blut das Heil in die Welt bringe.

In einer modernen Adaption und Infragestellung zugleich finden wir das Motiv der Verbindung von Blut, Ritual und Religion im Orgien-Mysterien-Theater des österreichischen Künstlers Hermann Nitsch. In dessen Inszenierungen wird freilich das Thema noch wesentlich existentieller und aufrührender umgesetzt, so dass es einem oftmals im wahrsten Sinn des Wortes die Sprache verschlägt. Aber Nitsch spielt nicht nur mit dem Thema Blut (so wie Mylène Farmer in ihrer Inszenierung mit Theaterblut), sondern er wird geradezu archaisch real. Bei aller Vorliebe für Bildende Kunst, die Mylène Farmer äußert, nähert sie sich ihr doch eher auf der Ebene der bildlichen Inszenierungspraxis statt im Sinne des Wiener Aktionismus.

  • Eine Frau am Kreuz

Hieronymus Bosch, Julia von KorsikaMotivisch relativ zentral präsentiert Mylène Farmer in ihrem Videoclip sich selbst als blutüberströmte Frau, die an einem Kreuz im Gewölbe der Zisterzienserkirche hängt bzw. an dieses Kreuz gefesselt wurde. In einem gewissen Sinne ist es ein Gegenbild zum Christuskorpus am Fenster der Kirche.

Anders als das vielleicht mancher einer aus der Hoch- wie Populärkultur heutzutage vermutet, ist die Darstellung einer Frau am Kreuz aber keinesfalls gleichbedeutend mit einer Kritik am etablierten Christentum und seiner Unterdrückung der Weiblichkeit bzw. der Frauen. Auch wenn ein christliches Bürgertum, das seine eigene christliche Ikonographie und Hagiographie nicht mehr kennt bzw. verdrängt hat, immer wieder protestiert, wo (nackte) Frauen am Kreuz oder Frauen in direkter Nachfolge der Passion gezeigt werden (z.B. bei entsprechenden Bildern des Fotografen Horst Wackerbarth), so gehören derartige Bildwerke doch über Jahrhunderte und bis in die Gegenwart zur bildlichen (und historisch sicher auch physischen) Realität des Christentums.

Eine Vielzahl von Frauen ist nach der Hagiographie des Christentums gekreuzigt worden. Dazu zählen etwa Julia von Korsika oder auch die so genannte Kümmernis bzw Wilgefortis: Letztere genoss seit Mitte 14. Jahrhunderts volkstümliche Verehrung und wird mit wallendem Bart und wie Jesus Christus gekreuzigt dargestellt. Wir finden dementsprechend über ganz Europa verstreut zahlreiche Bilder der Heiligen Kümmernis am Kreuz. Sie dürfte - unabhängig aller im sie rankenden Spekulationen - vor allem deshalb so populär gewesen sein, weil sie an der Stelle Jesu eine Frau (wenn auch mit Bart) als Identifikationsobjekt vorfanden. Es gab offensichtlich im Mittelalter - so viel zeigt die Entwicklung dieser Figur - ein Bedürfnis nach einer weiblichen Identifikationsfigur im Leiden.

Das Bildmotiv der gekreuzigten Frau selbst ist also keine Überraschung im Rahmen der europäischen Kunstgeschichte. In der Regel sind diese Darstellungen allerdings solche in der Nachfolge Christi. Davon kann bei Mylène Farmer nicht ausgegangen werden. Ich glaube aber auch nicht, dass ihre Inszenierung in der Tradition der Provokation mittels des Kreuzigungsmotivs liegt. In provozierender Absicht ist etwa eine Kreuzigungsdarstellung der Performancekünstlerin Diamanda Gala berühmt geworden, in der sie nahezu nackt vor brennenden Flammen am Kreuz hängt. Ausgehend von den Äußerungen der Performancekünstlerin kann hier die Provokation als letztlicher Zweck unterstellt werden.

Für Mylène Farmer geht es in ihrem Clip aber wohl mehr um den paradoxen Tatbestand, dass eine Religion, die im Zeichen des am Kreuz erlittenen Leidens entstanden ist, selbst so viel Leiden, Kreuz und Blut über die ganze Welt gebracht hat. Welche Relation, ja welche kausale Verknüpfung gibt es zwischen dem Schatten des Kreuzes des Galiläers zum realen Kreuz der Menschen in der Welt?

  • Paul Gauguin (Liedtext)

Die Erwähnung von Paul Gauguin im Liedtext ist mehr als merkwürdig - in aller Ambivalenz des Wortes. Denn das Bekenntnis für oder gegen einen Künstler in einem Videoclip ist an sich schon eine bemerkenswerte Tatsache. (Die Auswahl der Kunstwerke von Michael und Janet Jackson in Scream ist vermutlich noch keine Äußerung ihres subjektiven Kunstgeschmacks und schon gar keine kritische Stellungnahme).

Mais j'ai vu ta main / Choisir Gaugin - Aber ich sah Deine Hand / Gauguin wählen - was soll der Hörer daraus schließen? Und welche Logik entwickelt sich im Blick auf die Auslegung des Liedtextes, der ja die Malerei als grundierende Metapher verwendet? Gauguin ist mehrfach mit der (katholischen) Kirche in Konflikt geraten und hatte auch Phasen der äußersten Gottesferne und Blasphemie. Das kann also nicht der Bezugspunkt sein. Seine Farben sind auch keinesfalls verdünnt und verharmlosend, ganz im Gegenteil wird bei und mit Gauguin eine bestimmte Farbigkeit neu entdeckt und entwickelt . Seine Inhaltlichkeit - gerade beim hier abgebildeten Spätwerk 'Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?' - ist eher kritisch bis zur Depressivität. Allenfalls sein Christusbild, zu dem sich ja schon Vincent van Gogh kritisch geäußert hatte, könnte einen Bezugspunkt darstellen. Aber eine Logik ergibt sich daraus nicht. Wer ist es also, der Gauguin wählte? Hier bleiben einem wirklich nur Spekulationen.

  • Egon Schiele (Liedtext)

Egon Schiele, AusstellungsplakatAnders als beim Künstler Paul Gauguin ist die Erwähnung Egon Schieles im Liedtext durchaus erklärbar. Dieser Künstler hat für Mylène Farmer immerhin so viel Bedeutung, dass sogar der Liedtitel auf dem Cover der CD nach seiner Signatur gestaltet wurde. Hier liegt - auch nach eigenem Bekunden der Sängerin - eine direkte Bezugnahme, ja bewusste Verschmelzung vor. Ein Blick auf das Oeuvre von Egon Schiele und ein Vergleich mit der videoästhetischen Ikonographie von Mylène Farmer zeigt schnell die direkte Verwandtschaft der Motivwahl und Motivgestaltung beider Künstler. Entsprechendes hat Mylène Farmer im Sinn, wenn sie singt. Et je reprends mon amour / Redeviens le contour / De mon seul maître: Egon Schiele et ... - Und ich nehme meine Liebe wieder auf / Bekomme die Konturen wieder / Von meinem Meister allein: Egon Schiele und ... Schon das Ausstellungsplakat, das Egon Schiele im Januar 1915 für die Galerie Arnot entworfen hat, zeigt in seiner dramatischen Bezugnahme auf den Heiligen Sebastian und ebenso auf das Motiv der Kreuzigung in der Ikonographie viele Überschneidungen zu einigen Bildkonzeptionen bei Mylène Farmer in Je te rends ton amour.

Egon SchieleNoch wesentlich intensivere Bezüge zeigen einige andere Arbeiten von Schiele, in denen er nackte Frauen bzw. Kindfrauen vor rotem Hintergrund (geradezu vor einer roten Farblache) malt. Oder er malt nackte rothaarige Frauen. Auch von der Verbindung von Gewalt, Tod, Erotik und Sexualität her ist die Verwandschaft und Bezugnahme sehr plausibel.

Die Arbeiten von Egon Schiele gehören, wie es der Direktor der Wiener Albertina formuliert, "zu den Gassenhauern der Kunstgeschichte ... Die große Leistung Schieles ist, neben der Selbstthematisierung, die Entdeckung der Sexualität und die Befreiung des sexuellen, erotischen Körpers aus den Niederungen der Karikatur und der erotischen pornografischen Fotografie ... Es ist gleichsam der Körper in seinen verschiedenen Ansichten explodiert und hat geholfen, die normierten Körperstellungen, die in den letzten 500 Jahren von der Renaissance bis zum Klassizismus, die Bilderwelt geprägt hat, zu revolutionieren." Und wie für Mylène Farmer gilt auch für Egon Schiele, dass er mit Identitäten und Befindlichkeiten spielt. "Er ist der Elegante, der Dandy, der Ängstliche, Gequälte, Unsichere, der Stoische und der Wütende." Insofern kann man zu Recht von einer Art Seelenverwandtschaft sprechen.


© Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 40/2006
https://www.theomag.de/40/am177.htm

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