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Magazin für Theologie und Ästhetik


"THE VILLAGE"

Ein Dorf voller Geheimnisse

Sonja Toepfer

Warum sind wir ursprünglich einmal fortgegangen?
Lass uns nicht vergessen, es geschah aus Hoffnung
auf etwas Gutes und Rechtschaffenes.
Edward Walker


Es ist ein Dorf im Jahre 1897 in Pennsylvania, eingegrenzt von großen Wäldern, die niemals durchschritten werden. Denn außerhalb des Dorfes lauern bedrohliche Wesen und die Dorfältesten haben entschieden, mit diesen Wesen in friedlicher Übereinkunft Grenze an Grenze zu leben. "Die Unaussprechlichen" werden sie ehrfürchtig von den Dorfbewohnern genannt. In der englischsprachigen Originalfassung des Filmes heißen "Die Unaussprechlichen" "Die, über die man nicht spricht." Die Dorfbewohner beschwören ihre Koexistenz immer wieder mit Opfergaben geschlachteter Tiere. Manchmal begehen die Jungen an der Grenze Mutproben und versuchen so lange wie möglich an der Grenze mit verbundenen Augen und ausgebreiteten Armen stehen zu bleiben um "Die Unaussprechlichen" herauszufordern. Nachdem Lucius Hunt von Noah Percy, einem zurückgebliebenen jungen Mann, Vogelbeeren gezeigt bekommen hat, weiß Lucius das man die Grenze doch gefahrlos überschreiten kann. Denn diese Beeren wachsen nur im Wald jenseits der Grenze, die rote Farbe selbst wird "Die Verbotene" genannt. Denn alles was rot ist, wird mit den "Unaussprechlichen" in Verbindung gebracht. Sie sind menschengroße Wesen mit wildschweinähnlichen Köpfen, großen Zähnen und Krallen, tragen stachelartige Hornplatten auf dem Rücken und rote Mäntel mit Kapuze.

Die überschrittene Grenze

Eines Tages übertritt Lucius, der bei den Mutproben ungeschlagen ist, die Grenze, um nach den "Unaussprechlichen" zu suchen. Ärgerlich kommen "Die Unaussprechlichen" in das Dorf während sich die Einwohner ganz schnell in ihre im Boden eingelassenen Schutzkeller begeben. Sie haben sich für diese Besuche gut vorbereitet, den alle paar Jahre werden sie von den "Unaussprechlichen" heimgesucht und bedroht. Lucius hilft den Schwachen und Langsamen in die Häuser zu kommen. Dabei beobachtet er fest an eine Mauer gedrückt einen "Unaussprechlichen", der eine Haustür beschnüffelt. Bevor das Wesen die nächste Tür erreichen kann, bringt er Ivy, die blinde Tochter des Ältestenratsvorstehers, und sich in Sicherheit.

Zum Wohl der Allgemeinheit

Vor allem Ivy und Lucius spüren, dass das Dorf mehr Geheimnisse hat, als die Ältesten zugeben wollen. Lucius hinterfragt die Bösartigkeit der Wesen und sieht ihre Angst. Für Ivy ist eines Tages die Zeit gekommen, die Grenze zu überschreiten. Denn nachdem Lucius und Ivy ihre Liebe zueinander öffentlich bekannt haben, sticht Noah mehrfach auf Lucius ein. Der Dorfarzt kann zwar helfen aber Lucius wird so schwer verletzt, dass er nun Medikamente braucht, die die Entzündungen der lebensbedrohlichen Wunden eindämmen. So macht sich die blinde Ivy auf den Weg quer durch den Wald, um ihrem Geliebten die Medikamente aus der Stadt zu holen. Aber zuvor hat sie ihr Vater, Edward Walker über die Geheimnisse des Waldes und des Dorfes aufgeklärt:

Warum man über die "über die man nicht spricht", nichts weiß

"Die Unaussprechlichen" sind eine Erfindung. Sie bestehen aus einem einzigen Kostüm, zusammengetragen und gefertigt aus gefundenen Knochen, Wildschweinschädel, großen Ästen und rotem Wollstoff. Einer der Dorfältesten schlüpft in die Rolle, mehrere Älteste machen die Geräusche und hinterlassen die Spuren. Sie möchten mit der Angst vor den Wesen, die jenseits der Dorfgrenzen herrschen, die Gemeinschaft absichern. Alle von ihnen haben in ihrem früheren Stadtleben Angehörige gewaltsam verloren. In der von allen äußeren Einflüssen isolierten Gesellschaft, die das Böse nicht kennt, möchten sie ihren Kindern ein sorgenfreies Leben bieten. August Nicholson trägt für diese Idee sein Kind zu Grabe. Edward ist nicht bereit, diesem Beispiel zu folgen. Seine Tochter Ivy würde ihren geliebten Partner ohne Hilfe von Außen verlieren.

Ivy wandert dank ihres Mutes und Gehöres auf dem vom Vater beschrieben Weg durch den Wald und steigt über die hohe Mauer. Als sie auf der Straße steht, begegnet ihr ein modernes Fahrzeug – ein Jeep der Walker Reservat-Stiftung. Nur wir Zuschauer erfahren, dass das Reservat von den Finanzmitteln der Walker-Familie aufgebaut wurde. Ivy kann den verblüfften Fahrer wider Erwarten von der Wichtigkeit ihres Anliegens überzeugen. Der junge Wildschützer, Kevin, entwendet kurzerhand die Medikamente, Antibiotika, aus dem Medizinfach für verletzte Tiere, um das Geheimnis der verzweifelten jungen Frau nicht verraten zu müssen.

Ivy kehrt zurück. Es wird an ihr und Lucius liegen, wie sich die Zukunft gestaltet.

Die Wahrheit liegt im Verborgenen

Der Film "The Village" kommt für den Alltagszuschauer im Gewand des Horrorfilmes daher, das literaturgewohnte Publikum hingegen erkennt gleich, dass der Regisseur mit seinem Vexierspiel die Elemente des Schauerromans[1] des neunzehnten Jahrhunderts umsetzt. Der Film beginnt mit dem über einem Kindersarg verzweifelt niederknienden Vater, August Nicholson. Augenscheinlich befinden wir uns auf dem Land im Jahre 1897 – in einer Zeit und einem Ort ohne ausreichende Medikamente. Im Anschluss der Trauerszene sitzen alle Bewohner an einem langen Tisch und gedenken des verstorbenen Kindes. Sie nehmen den Tod als unabwendbar an und zeigen sich dankbar für die Zeit, die ihnen gewährt wird.

Schon in den ersten Minuten des Filmes wird thematisiert, dass die Dorfgemeinschaft von einer mysteriösen Kraft umgeben wird und ihr die eigentliche Wahrheit der Dinge verborgen bleibt. Die Kamera und die Musik zeichnet mehrere eigentümlich deutliche Begrenzungsbereiche nach. Der Vater sitzt am Sarg auf dem mit einem Zaun abgegrenzten Friedhofsbereich; es gibt eine große mit Fackeln abgesteckte Grenzführung um das Dorf herum; der lange Tisch mit den Bewohnern hebt ihre Isolierung als eine in der Welt hervor. Das Dorf scheint von einem undurchdringbaren Wald umgeben zu sein.

Bilder der getrübten Schönheit

Die Natur und die Ordnung des gesamten Dorfes sind von einem gleichsam wunderschön und gestört wirkenden Licht und Ton durchwoben. Die Regie setzt diese in der Luft spürbare Ungewissheit in großartigen "Bildern der getrübten Schönheit"[2] in Szene. Als die Dorfbewohner am Tisch sitzen, klingen unheilvolle Töne aus dem Wald herüber. Sie horchen kurz auf und essen weiter, denn sie akzeptieren die Existenz des Verborgenen. Es ist offensichtlich, die Dorfgemeinschaft besteht nicht nur aus dem, was sie sagt, sondern vor allem aus dem, was sie auszuschließen meint. "Die, über die man nicht spricht" haben im Leben eines jeden Bewohners weit mehr Bedeutung als sie zuzugeben vermögen.

Im Laufe des Angriffes und der weiteren Geschehnisse wird der aufmerksame Zuschauer zum Wesenskern der verborgenen Dinge vordringen. Das Dorf manifestiert sich als Bühne der verschiedenen Generationen, die alle in der Unzulänglichkeit ihres Erkenntnis- und Handlungsvermögens gefangen sind. Da sind die Kinder, die den Ängsten vor den Wesen ausgeliefert sind, da sind die jungen Leute im heiratsfähigen Alter, die die Dorfregeln befolgen, da ist Lucius, der neugierig auf die Wahrheit ist, da ist Noah, der eine gestörte Identität besitzt, die zwischen Unschuld und instinkthaftem Tabubruch changiert, da ist die willenstarke Ivy, die unwissentlich führt, wo andere folgen.

In einer märchenhaften Bildfolge wird ihr Wille und ihre Liebe zu Lucius in Szene gesetzt. Während ihre Schwester sich mit den Kindern und Noah im Schutzraum begeben hat und ihr die Bodenklappe aufhält, wartet Ivy auf Lucius. Sie steht an der offenen Türe mit ausgestreckter Hand. Sie sagt ihrer aufgeregten Schwester, sie wisse, das er da draußen auf dem Weg zu ihr sei, weil er sich um sie sorgt. Und tatsächlich, kurz bevor das Wesen die aufgehaltene Tür erreicht, nimmt Lucius ihre Hand, schließt die Tür und rennt mit ihr in den Schutzkeller. Uns Zuschauern wird offensichtlich, welche unterschiedlichen Verhaltensweisen durch die Angst vor den Wesen bei den Bewohnern ausgelöst werden: bei Ivy und Lucius Vertrauen und Stärke füreinander, bei der Schwester und den meisten Anderen Folgsamkeit, bei den Kindern hilfloses Weinen, bei Noah Beifall.

Bedrohung schürt die Unwissenheit

Gerade die Originalbezeichnung "Die, über die man nicht spricht" deutet an, wo die eigentliche Bedrohung der Gemeinschaft herrührt. "Im 19. Jahrhundert", so der Regisseur im Presseheft des Filmes, "steht Unschuld in Zusammenhang mit Unwissen". Es stellt sich die Frage, ob das reine Herzen den Einzelnen von der Verpflichtung befreit, über das zu sprechen, was ihn bedroht. Die Furcht vor den unbekannten Wesen eint die unschuldigen Bewohner, gleichzeitig aber richtet die Angst vor den "Unaussprechlichen" in ihren Seelen etwas an, obwohl die Angst vor diesen Wesen abstrakter Natur ist, denn keiner von den jüngeren hat einen "Unaussprechlichen" in direkter Aktion erlebt. Die meisten wollen sich mit ihrer Angst arrangieren anstelle ihr zu begegnen. Sie finden sich mit dem Geheimnis, das die "Unaussprechlichen" umgibt, ab. Nur Lucius bittet den Ältestenrat in die Stadt gehen zu dürfen, damit bei der nächsten Krankheit geholfen werden kann.

Eine Wurzel des Amerikanischen Traums

Als wir erfahren, dass der Tod des Kindes hätte verhindert werden können, fragen wir ob wirklich die Übereinkunft der Dorfbewohner mit den Wesen sie darin gehindert hat, die Grenze zum Wald hin zu überschreiten. Der Zuschauer vermutet eine religiöse Motivation, die die Entscheidung der Bewohner, nicht in die Stadt zu gehen, aufrecht erhält. Wie in einer strengen religiösen Gemeinschaft nimmt man den Regelbruch nicht in Kauf, komme was wolle. Denn Krankheit, so wird in vielen Sekten behauptet, sei Ausdruck mangelnder Gottesliebe. Zum Beispiel folgerte Mary Eddy, die Gründerin der "Christian Science", dass der Mensch als Gottes Bild und Gleichnis geistig vollkommen sei und daher jede Krankheit allein durch die Zuwendung zum göttlichen Ursprung überwunden werden könne. Es wundert nicht, dass die "Christian Science" – Bewegung im Jahre 1866 durch europäische Einwanderer in den USA ihren Ausgang nahm. Damit kann der Film "The Village" auch als filmerkenntnistheoretische Suche nach den Wurzeln des "Amerikanischen Traums" gedeutet werden.

Utopisches Denken

"Letztendlich hatten der in Europa bestehende Mangel an den Notwendigkeiten des täglichen Lebens, die dort herrschenden Beschränkungen der religiösen oder politischen Handlungsfreiheit und die daraus resultierende Daseinsangst die meisten der auf die Neue Welt projizierten Hoffnungen geprägt."[3] Hinter dem Verhalten der Dorfbewohner steckt also die Idee, ein ideales Leben führen zu können. Sie sind der Utopie verpflichtet, in völliger Unschuld im Einklang mit dem Naturgegebenen leben zu können. In dem dreibändigen Sammelband zur Utopieforschung widmet sich einer der Autoren einer Siedlung, die 1830[4] in Virginia nach den Prinzipien der Utopia verwirklicht werden sollte. Diese Siedlung, "New Harmony" scheiterte, obgleich in ihr unverfälscht utopisches Denken hervortrat[5], an den Unzulänglichkeiten der Menschen, die daran beteiligt waren und an dem Druck äußerer Widerstände.

Dennoch lässt sich in "The Village" nicht bestreiten, das sich im Zusammenleben der Bewohner ein Idealzustand festmachen lässt. "The Village" ist gegründet worden weil sich die Ältesten aus den Gewaltumständen der Stadt lösen wollten und um ihren Angehörigen ein neues gefahrfreies Dasein zu ermöglichen. Wie die amerikanischen Einwanderer haben sie ihr altes Leben unwiederbringlich hinter sich gelassen – "Es geschah aus Hoffnung auf etwas Gutes und Rechtschaffenes." Die Erwartungen auf ein besseres Leben prägen jeden einzelnen Bewohner aus "The Village".

Filmisches Utopia

Das märchenhafte Gleichnis "The Village" schreibt die Träume der Europäer, ihren "American Dream" fort und schafft ein filmisches Utopia über den Glauben an die gute Weltengemeinschaft. "Aus Amerika, dem versprochenen Land der Einwanderer, wurde Amerika das Land der Versprechungen. Und es formte sich der Glaube der Amerikaner an ihr Land als Nährboden wenn auch nicht unbegrenzter, so doch immer wieder in die Zukunft hinein zu erweiternder Möglichkeiten, als ein Land des ständigen Neubeginns. Die auf ein glückliches Jenseits gerichteten Vorgefühle der Puritaner, die Freiheitshoffnungen aufgeklärter Philosophen und die Träume der persönlichen Unabhängigkeit Suchenden wuchsen zusammen in das Versprechen eines schöneren besseren Lebens, das jedem einzelnen Bürger offen stehe."[6]

Lucius stellt die Frage, ob die Allgemeinheit zwangsläufig Schaden erleidet, sobald man alles Denkbare zur Rettung eines Einzelnen unternimmt. Er möchte die Geheimnisse, die es in jeder Ecke des Dorfes gibt, ergründen und bittet seine Mutter, ihm dabei zu helfen. Die Mutter lehnt ab, weil sie wie alle Ältesten meint, "dass die Vergangenheit am besten unter Verschluss aufgehoben" bleibt. Indem sie aber eine Gefahr konstruieren, schaffen sie ein Gefährdungspotential in den eigenen Reihen. Noah hat durch seine einfache Persönlichkeit längst erkannt, dass die Gemeinschaft die Wesen selbst inszeniert. Weil er sich es zur Gewohnheit gemacht hat, die Grenze heimlich zu überschreiten um ihm Wald zu spielen. Er ist mit seinen Erkenntnissen ganz allein auf sich gestellt und geht letztendlich an seinen Gefühlen zugrunde.

Das Leben in der Scheinwelt gebiert den Wahnsinn

Noah ist wie alle anderen unwissenden Dorfbewohner Opfer derjenigen, die ihnen die Existenz der "Unaussprechlichen" vormachen. Er ist dem unhaltbaren Konflikt ausgesetzt, sich nicht mitteilen zu können und stürzt in tiefe Verwirrung. Noah ist nicht in der Lage weder zu erkennen noch mitzuteilen, in welcher Verwirrung er steckt. Sozialpsychologen nennen diese nicht zu durchschauende Verdrehung "Mystifizierung". Die Hauptaufgabe der Mystifizierung besteht darin, den Status Quo einer Kommunikationsgemeinschaft aufrecht zu erhalten.

"Mystifizieren im aktiven Sinne bedeutet, einen Vorgang vertuschen, verschleiern, verdunkeln oder maskieren, gleichviel, ob es sich um Erleben, Aktion, Prozess oder sonst etwas handelt, das zur Streitfrage werden kann. Dadurch entsteht Verwirrung: Es wird unmöglich, zu erkennen, was wirklich erlebt oder getan wird oder was vor sich geht, und es wird unmöglich, die tatsächlichen Streitpunkte festzustellen und zu unterscheiden."[7]

In der Studie "Schizophrenie und Familie" wird der ganze psychologische Bezugsrahmen aufgerollt und streng unterschieden zwischen denjenigen Mitgliedern, die mystifizieren und denjenigen, die mystifiziert werden. Das Leben in der Scheinwelt macht diejenigen krank, die mystifiziert werden und gebiert den Wahnsinn. Mystifizierung verteidigt stereotype Rollen und Pseudogemeinschaften. "Die wirkliche Gemeinschaft toleriert nicht nur, anders als die Pseudo-Gemeinschaft, die Divergenz von Eigeninteressen, sondern lebt geradezu von der Anerkennung solcher natürlichen und unvermeidlichen Divergenz. In der Sprache der Rollentheorie ausgedrückt, heißt das: Eine Beziehung der Gemeinschaft ist in ihrem Bezugsrahmen nicht auf eine einzige Rolle beschränkt, [...]. In der Pseudo-Gemeinschaft ist der Gefühlsaufwand mehr der Erhaltung des Gefühls einer gegenseitigen Erfüllung von Erwartungen gerichtet als darauf, veränderte Erwartungen richtig wahrzunehmen."[8]

Das Monster in den eigenen Reihen

So erzählt "The Village" neben dem "Amerikanischen Traum", wie die rigide Einteilung des Dorfes in ein gutes Leben drinnen und ein böses Leben draußen, die Bewohner nicht vor Mord und Totschlag schützen kann. Er skizziert, wie die Tabuisierung der wahren Situation das Monster in den eigenen Reihen schafft. Noah, der Stammvater der neuen Menschheit, wird nicht gerettet. Er bleibt bis zum tödlichen Ende in der Pseudo-Gemeinschaft verstrickt.

Die Auflösung des Dorfes wird vom Regisseur nicht in der Versuchung gegenüber der Welt interpretiert, vielmehr in der Gefährdung durch die eigenen Leute gesehen. "Du kannst so wie wir vor dem Unglück davonlaufen, aber es findet Dich doch", sagt August Nicholson nach der Beerdigung seines Sohnes zu Lucius Hunt. Mögen die Gründe des Ältestenrates noch so nachvollziehbar sein, die Tatsache, dass sie den Zusammenhalt der Bewohner durch Angst sichern, macht sie schuldig. Der Regisseur konfrontiert uns Zuschauer mit seinem Mitgefühl für das Dorf, das von der ästhetischen Verklärung über eine tiefe Verunsicherung hin zu einer intellektuellen Ablehnung der "Unaussprechlichen" reicht. M. Night Shyamalan, der Sohn amerikanischer Einwanderer aus Indien, macht es uns nicht einfach. Für ihn ist es an der Zeit zu fragen, ob wir in der Lage sind, uns mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen und was wir nicht schon alles inszeniert haben, um dieser Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen.

"The Village" sucht im Zuschauer ein mündiges Gegenüber. Die komplexe Dramaturgie bindet ihn beim Schauen mit ein und hält ihn an, über das Dargestellte hinaus zu denken, wie es bei einem selbst und auch in der Welt wirkt. Die Zuschauer können, sooft sie den Film auch anschauen werden, unzählig viele Facetten entdecken, die auf den Prozesscharakter eines großen Filmkunstwerkes hindeuten. "The Village" ist die Chiffre des Ganzheits- oder Totalitätsstrebens[9], das mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Die blinde Ivy hat sich wie Efeu über die Mauer gewagt und Lucius, der gefallene Engel, wird handeln, das ist gewiss, sobald er wieder gesund ist. Während Noah auf die Gnade angewiesen ist – und sie nicht erfährt, wird Lucius die Chance haben, Licht in das Dunkel zu bringen.

Es sind weniger die vielfältigen Spuren der Versöhnung des Individuums mit der Welt, die die letzten Einstellungen des Filmes charakterisieren. Vielmehr verweist der Regisseur darauf, das die zukünftige Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens, dem Zuschauer bzw. Lucius obliegt. So skizziert die Identifizierung von uns Zuschauern mit der Perspektive des daniederliegenden Lucius eine neue alte Geschichte: Wir sind alle gefallene Engel.

Anmerkungen
  1. Der Schauerroman erlebte im 19. Jahrhundert seinen literarischen Höhepunkt. In jedem Schauerroman sind nicht objektivierbare Vorkommnisse in einer Naturschilderung ausschlaggebend. Dabei steht immer die Begrenztheit der menschlichen Vernunft zum Wesenskern vorzudringen im Mittelpunkt. In diesen Erfahrungswelten des Merkwürdigen widmen sich die Autoren zum Beispiel des Typus der getrübten Schönheit, der verfolgten Unschuld, dem Vampirismus, der Unaufrichtigkeit, dem Satanismus, der Enthüllung. Siehe Mario Praz, Liebe, Tod und Teufel.
  2. Begrifflichkeit des Schönheit in der Schwarzen Romantik. Siehe Mario Praz, Liebe, Tod und Teufel.
  3. Peter Boerner, Utopia in der Neuen Welt. Von europäischen Träumen zum American Dream. In: Utopieforschung, Band 2, Frankfurt 1985, 365.
  4. Utopieforschung, Band 2, 362.
  5. Ebd.
  6. Utopieforschung, Band 2, 366f.
  7. Ronald D. Laing, Mystifizierung, Konfusion und Konflikt. In: Bateson, Jackson, Laing, Lidz, Wynne u.a., Schizophrenie und Familie, Frankfurt 1975, 275.
  8. Lyman C. Wynne u.a., Pseudo-Gemeinschaften in den Familienbeziehungen von Schizophrenen. In: Bateson, Jackson, Laing, Lidz, Wynne u.a., Schizophrenie und Familie, Frankfurt 1975, 48.
  9. Im Streben nach Ganzheit bzw. Totalität manifestiert sich auch das moderne Interesse an den Religionen. Franz-Xaver Kaufmann, Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Tübingen 1989, 66f.

© Sonja Toepfer 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 39/2006
https://www.theomag.de/39/st1.htm

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