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Magazin für Theologie und Ästhetik


Virtuelle Räume IV

Virtuelle Prachtentfaltung

Andreas Mertin

Es gibt Räume, die sind in einem mehrfachen Sinne virtuell. Räume etwa, die in historisierenden Erzählungen beschrieben werden, ohne dass sie aktuell überhaupt noch existieren (oder je existiert hätten). Die Sieben Weltwunder sind derartige Räume, die unsere Phantasie beflügeln, von denen wir eine Art räumliche Vorstellung im Kopf haben, ohne sie je betreten zu haben. Nicht jedes dieser Weltwunder ist dabei gleich vollständig präsent, aber das Wissen um sie wird bis in die Quiz- und Talkshowkultur unserer Tage hinein vorausgesetzt. Nur zur Erinnerung, zu den sieben Weltwundern zählen ...

Die Liste dieser Weltwunder ist im Laufe der Geschichte immer variiert und ergänzt worden, es gab Listen weiterer herausragender Bauten (nicht zuletzt deshalb, weil die erste Liste auf den Lebens- und Erzählraum der jeweiligen Geschichtsschreiber begrenzt war, die von vielen anderen herausragenden Bauten auf der Erde nichts wissen konnten.) Des Weiteren gibt es Bauten der Moderne, die als Weltwunder beschrieben werden (wobei man sich schon fragen kann, ob etwa die Sagrada Familia dazu gehören sollte).

In der Gegenwart hat die von der UNESCO geführte Liste zum so genannten Weltkultur- und Naturerbe die Funktion der Notation herausragender Orte dieser Welt übernommen. Und es ist sicher kein Zufall, dass im Zeitalter des Internets und der virtuellen Kulturen natürlich auch das Weltkulturerbe im QTVR-Format zugänglich gemacht wird. Auf der im Rahmen dieser Aufsatzreihe schon mehrfach vorgestellten Seite www.panoramas.dk von Hans Nyberg gibt es auch eine spezielle Seite zum Weltkulturerbe.

Parallel dazu gibt es die World-Heritage-Tour von Tito Dupret, der alle Stätten des Weltkulturerbes fotografieren und in QTVR zugänglich machen möchte. Zur Zeit hat er etwa ein Zehntel der Stätten erfasst, vor allem im asiatischen Raum.


Zu den in einem mehrfachen Sinne virtuellen Räumen gehören auch einige religiöse, in Deutschland lange Zeit vor allem solche, die vor oder im Krieg zerstört wurden, und als Erinnerungsräume im Gedächtnis der Menschen fortlebten. Dazu gehörten insbesondere die Synagogen in Deutschland, die als eine der ersten religiösen Raumformen im Netz rekonstruiert wurden.

Zu den zerstörten, dennoch aber im Gedächtnis geradezu mythisch präsenten Räumen gehörte auch die Dresdner Frauenkirche. Hier dürfte der vermutlich erste Fall vorliegen, in dem mittels einer virtuellen (Re-)Konstruktion im Rahmen einer öffentlichen Kampagne die reale Rekonstruktion vorangetrieben und letztlich auch realisiert wurde. Jedem sind wahrscheinlich noch jene virtuellen Bilder der aus Ruinen auferstehenden Frauenkirche im Gedächtnis, mit dem die Computerfirma IBM und der Fernsehsender ZDF seinerzeit für den Wiederaufbau warben. Lange bevor die technischen Möglichkeiten via Breitbandkabel vorhanden waren, selbst durch die virtuellen Räume der Frauenkirche zu schreiten, zeigte das ZDF in diversen Spots wie 'schön' es wäre, wenn Virtualität Realität werden könnte. Und es waren beeindruckende virtuelle Bilder der sich scheinbar wieder von selbst restituierenden Kirche. Das blieb seinerzeit nicht ohne Widerspruch, denn auch für eine dauerhafte Ruinenlösung sprachen zahlreiche Argumente. Aber de facto wurde anders entschieden, der Wiederaufbau wurde zum Prestigeobjekt für das wiedervereinigte Deutschland.

Und auch nach der Fertigstellung beglückt uns das ZDF mit einem virtuellen Rundgang durch die neuerbaute Kirche. Wer auf den Link zum virtuellen Rundgang klickt wird zunächst einmal ungefragt mit Musik beglückt: Es ertönt „A New Renaissance“ von Dave Hewson/Bill Baylis. Das ist vermutlich programmatisch gemeint, ist aber eher ein Indiz für die gesamte Problematik einer postmodernen Rekonstruktion historischer Kultur, als ein Gewinn für die Erschließung der Kirche. Es hat in seinem Dauergedudel mehr von einer Aufzugmusik als von der realen Besinnung auf die Macht der Musik und die Möglichkeiten menschlicher Kultur. Nicht umsonst wird dieselbe Musik in anderen Kontexten auch für ganz profane Werbung genutzt. Nachdem dann die Frauernkirche auf dem Bildschirm virtuell aus Ruinen auferstanden und über den Bildschirm getanzt ist, ordnet sie sich in die Silhouette Dresdens ein. Nun kann der Besucher wählen zwischen Informationen zur Kirche, zu den Menschen und zur Geschichte.

Wer dann zunächst auf Geschichte klickt, bekommt in etwas pathetischer Tonlage die Geschichte der Dresdner Kirche und ihrer Vorgängerin vorgestellt. Es ist eine Botschaft der Political Correctness, die da erklingt; sie begründet und zelebriert aber eher einen nationalen Mythos, als die von Theologen beschworene "Predigt der Steine". Das hat seinen Grund vermutlich darin, dass die Frauenkirche schon seit ihren Anfängen eher ein politischer als ein religiöser Akt war und es bis heute konsequent geblieben ist (selbst in der Zeit des politischen Widerstandes gegen das DDR-Regime). So wenig wie der Berliner Dom kann die Frauenkirche als Paradebau des Protestantismus dienen - es sei denn in der Illustration von dessen unseliger Verquickung von Thron und Altar.

Klickt der Besucher auf "Die Menschen" erscheint ein simuliertes 360°-Panorama des Inneren der Kirche mit zahlreichen weißen Silhouetten, welche Menschen darstellen, die mit der Kirche und dem Wiederaufbau verbunden sind. Das ist eine interessante Idee, zumal die dann aufzurufenden Informationen der einzelnen Personen wirklich erkenntnisreich und vor allem menschlich sind. Aber es bleibt insofern konturlos, als der Zusammenhang von sichtbarer und unsichtbarer Kirche damit gerade nicht deutlich wird.

Wer schließlich auf "Die Kirche" klickt, kann sich die Kirche im QTVR-Fullscreen-Modus ansehen - von außen und von innen. Zahlreiche Standpunkte ermöglichen die nahezu lückenlose virtuelle Begehung des Bauwerks. Das beginnt mit dem Fundament der Kirche und endet mit dem Rundblick von der Kirchenspitze. Die Kirche ist sehr gut erschlossen - so gut wie kein Blickwinkel bleibt außen vor. Überraschend oft im Vergleich zu anderen virtuellen Repräsentanzen wird ungefragt ein Kommentar unterlegt, so als ob man der Eindrücklichkeit der Bilder nicht trauen würde. Die Unterkirche etwa, die ja de facto als Raum der Stille konzipiert wurde, wird so mit Musik und Ton aus zwei unterschiedlichen Quellen gefüllt.

Alles in allem bleiben aber mehr Fragen als Antworten. Ob der Zimmermann aus Galiläa sich das unter einer Geste der Versöhnung hätte vorstellen können? Wozu dient der Aufbau einer Kirche, die a priori keine örtliche Gemeinde, sondern Baedecker-Christen, Kulturprotestanten und nationale Pilger als Zielgruppe hat? Welche Predigt halten diese Steine? Auf diese Fragen kann eine virtuelle Begehung keine Antwort geben. Das muss dann die reale Geschichte der Rezeption des Wiederaufbaus geben.

Die Berliner Gedächtniskirche hat über Jahrzehnte den Weg der Verbindung von Ruine und Moderne gewählt und sie ist m.E. dabei nicht schlecht gefahren, insofern der berühmte Eiermann-Bau immerhin auch eine moderne religiöse Raumlösung darstellt und einer Historisierung des Christentums lebendig widerspricht. Leider habe ich von dieser Kirche keine veritable virtuelle Darstellung gefunden.

Was die Verbindung von räumlicher Erschließung und religiösem Verständnis angeht, scheint mir der Ansatz des Doms zu Fulda - der ja noch fortentwickelt wird - gelungener zu sein.


Die Reihe zu den virtuellen Räumen wird in Heft 40 des Magazins für Theologie und Ästhetik fortgesetzt und abgeschlossen. Die bisherigen Beiträge finden Sie in Heft 36, Heft 37 und Heft 38.


© Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 39/2006
https://www.theomag.de/39/am172.htm