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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Sprache der Stadt

Eine Aufsatzsammlung

Andreas Mertin

Wolfgang Grünberg: Die Sprache der Stadt. Skizzen zur Großstadtkirche, Leipzig 2004, 408 Seiten, 34 Euro

Auf der Website des theologischen Fachbereiches der Universität Hamburg findet der Leser folgende Angaben zu Wolfgang Grünberg: "Geboren 1940. Seit 1978 Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik. Neben den Arbeitsbereichen der Gemeindepädagogik liegen seine besonderen Interessen im Bereich der historischen Pädagogik, in Konsequenzen aus den Ansätzen der Theologie der Befreiung und des ökumenischen Lernens (P. Freire, E. Lange) und der jüdischen Pädagogik (Rosenzweig, Buber, Carlebach). Seit der Kirchenreformdebatte der 60er Jahre stehen ebenfalls Strukturfragen im Vordergrund des Interesses: Wie können gegenwärtige "Kontexte" dechiffriert, "gelesen" und gestaltet werden, wie also sind Urbanisierungs-, Individualisierungs-, Modernisierungsschübe als Herausforderung zu beantworten?" Vor allem aber ist Wolfgang Grünberg durch seine unermüdlichen Forschungen und Publikationen im Kontext der Frage der Stadt bekannt. Davon zeugt auch die vorliegende Aufsatzsammlung, die Grünberg thematisch sortiert zu einem höchst interessanten Buch gebunden hat. Nichts weniger als eine "Theologie der Großstadt" liegt ihm am Herzen. Das ist ein besonders herausforderndes Anliegen, gehört doch ins Arsenal nicht nur fundamentalistisch apokalyptischen Denkens die Warnung vor der Hure Babylon als Prototyp der Großstadt schlechthin.[1]

Grünberg schreibt angenehm flüssig, literarisch belesen, phänomenologisch exakt. Es macht Spaß, seine Äußerungen zu lesen, selbst dort, wo man sie nicht unbedingt teilt. Das gilt etwa dort, wo allzu oft Hamburg als Prototyp herhalten muss. Das ist natürlich der persönlichen Situierung geschuldet, aber es ist nicht ganz einsichtig, warum ausgerechnet Städte wie Hamburg und Berlin als Zukunft der Welt (und nicht als ihre Vergangenheit) betrachtet werden sollten. Mir ist - als Bewohner des größten deutschen Ballungsgebietes, der Metropolregion Ruhrgebiet - nicht plausibel, warum die Metropolen Hamburg und Berlin in irgend einer Weise Entwicklungen indizieren sollten. Aber das ist natürlich bloß ein subjektiver Einwand.

Grünberg jedenfalls skizziert in seinen Aufsätzen seine Vermutung, dass die Großstadt "unser Schicksal" ist und dass "das großstädtische Gefüge mehr und mehr zur herrschenden Matrix der subjektiven Selbstdeutung seelischen Erlebens" wurde. Nicht folgen kann ich ihm im geradezu übergangslosen Gebrauch der Begriffe Großstadt - Global Village - virtuelle Weltstadt (z.B. in seiner Thesenreihe S. 34f.). Die Erörterung der Folgen der Virtualisierung ist meines Erachtens von den Fragen der Metropolen und Großstädte völlig abzukoppeln. Es ist ein Kurzschluss, aus der Tatsache, dass in den globalisierten Ländern der Erde - aber auch nur in diesen - nahezu jeder auf das Internet zugreifen kann, damit Metropolisierungseffekte auftreten würden. Das sehe ich nicht.

Ebenfalls nicht folgen kann ich ihm bei seiner Adaption des vierfachen Schriftsinns auf die Lektüre von Städten und Gebäuden im Rahmen seines Aufsatzes "Vier Versuche, eine Stadt zu lesen". Wer strukturalistisch von Städten als Texten spricht, sollte den metaphorisch exploitativen Gebrauch des Wortes immer im Hinterkopf behalten. Wer also die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn (die Luther schon 1517 ablehnte) ungebrochen auf Städte und Kirchengebäude anwendet, spricht diesen nicht nur eine Bedeutung zu, die ihnen evangelisch nicht zukommen kann, sondern restituiert implizit zugleich eine Hierarchie, die notwendig das Lehramt aufwertet. Nicht umsonst hat das Tridentinum gegen Luthers als subjektiv und willkürlich angesehene Hermeneutik auf den vierfachen Schriftsinn unter päpstlicher Kontrolle gesetzt. Im Protestantismus ereignet sich Glaube dagegen in bunter Raumvielfalt und Raumerfahrung nicht zuletzt unter den Paradigmen von "Vernunft, Verstehen und Bildung". Muss daran erinnert werden, was die Maßstäbe der Schriftauslegung für die mittelalterliche Theologie waren? Nämlich "zum einen die kirchliche Tradition, zum anderen die Entscheidungen des kirchlichen Lehramts, welches zwischen dem richtigen und dem falschen Verständnis zu unterscheiden bevollmächtigt ist. Seit dem Tridentinum (1545-1563) ist die letzte Entscheidung über die Hermeneutik der Schriftauslegung und deren Ergebnisse in der katholischen Kirche ausdrücklich dem kirchlichen Lehramt vorbehalten, das im Vatikanum I für unfehlbar erklärt wurde."[2] Daher ist der Rekurs auf den vierfachen Schriftsinn zumindest missverständlich, wenn nicht sogar ein Fehlweg.

Und schließlich noch ein Punkt, an dem ich mir andere bzw. deutlichere Worte gewünscht hätte. Er betrifft die Umnutzung von christlichen Kirchen in eine Moschee. Während Grünberg hier bei einer Umnutzung in eine Synagoge keine Probleme sieht, hält er "eine Umwandlung der Kirche in eine Moschee (für) prinzipiell schwierig" und dies mit der mir nun überhaupt nicht einleuchtenden Begründung, das ginge nicht "so lange eine jüdisch-islamische Annäherung nicht stattfindet", denn: "Die besondere Nachbarschaft zwischen Juden und Christen muss die Basis für eine verbesserte Beziehung zum Islam sein". Dieser Argumentation kann ich nun gar nicht folgen. Abgesehen von außerevangelischen Argumenten gibt es meines Erachtens keine Gesichtspunkte, die gegen die Übergabe von nicht mehr genutzten Gebäuden an Muslime sprechen. Gerade im Sinne einer Theologie der Metropolen, einer Perspektive der Welt als Global village wäre hier eine andere, deutlichere Position wünschenswert.

Damit sind meine Widersprüche und Einwände auch schon weitgehend benannt, denn ansonsten empfinde ich Grünbergs Reflektionen als äußerst produktiven Beitrag zur theologischen Diskussion in der Gegenwart. Eigentlich ist sein Buch eine Pflichtlektüre (wenn dieses Wort nicht schon so oft gebraucht worden wäre) für PfarrerInnen nicht nur in den Städten.

Anmerkungen
  1. Nicht umsonst haben amerikanische Republikaner noch bis kurz vor dem 11. September New York immer wieder als das Neue Babylon denunziert. Der durch und durch reaktionäre Kinofilm "Im Auftrag des Teufels" mit Al Pacino und Keanu Reeves legt beredt davon Zeugnis ab, indem er umstandslos das jüdisch geprägte und von Rechtsanwälten dominierte New York als Neues Babylon bezeichnet.
  2. TRT Art. Hermeneutik

© Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 33/2005
https://www.theomag.de/33/am137.htm

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