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Magazin für Theologie und Ästhetik


Zwischen Matrix und Christus

Fundamentaltheologie als kritische Religions- und Kulturtheorie

Joachim Valentin

Wie in jüngster Zeit vielfach bemerkt wurde,[1] bedeutet das ideengeschichtlich zumindest in der aktuellen Ausprägung neue Phänomen der Virtualität gleichzeitig eine Bestätigung und Infragestellung religiöser und speziell christlicher Formen der narrativen, bildlichen und rituellen Vergegenwärtigung des Nichtdarstellbaren, weil nicht unmittelbar Gegenwärtigen. Übernehmen nicht die virtuellen Räume der neuen Medien - Computerspiel und Internet aber auch das nicht mehr ganz so neue Medium Film - einen Teil jener Funktionen, die gerne als die Propria der Religion bezeichnet werden, vor allem die des Wiedereintrags der Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs?[2] Im folgenden soll in vier Anläufen eine Reflexion auf das Zueinander von Realität, Virtualität und Religion und dabei ihre Verhältnisbestimmung unter aktuellen ideengeschichtlichen Bedingungen versucht werden.

Dabei wird implizit an ein Modell von Fundamentaltheologie als Kulturtheorie angeknüpft, das mir in der sogenannten anthropologischen Wende Karl Rahners im Anschluss an Blondel und Marechal vorgeprägt zu sein scheint. Anders als im Korrelationsmodell Paul Tillichs, wird hier säkulare Kultur nicht einfach als fragende, Theologie als antwortende Instanz verstanden, vielmehr hat die Kultur selbst eine theologische Valenz, die sie als "locus alienus theologiae", zum lebendigen Gesprächspartner der Theologie werden lässt. Eine Kriteriologie des Christlichen, die der Kultur nicht von außen aufgedrängt werden muss, die vielmehr in ihr selbst gefunden werden will (und soll) vermeidet dabei den stets drohenden 'kulturprotestantischen' Relativismus[3].

Kulturanthropologie und allgemeine Theorie der Religion

Ausgangspunkt dieser Überlegungen kann mit Albert Camus die Absurdität des Daseins oder mit Michel de Certeau[4] die ursprüngliche Abwesenheit von Sinn sein,[5] wie sie spätestens in der Moderne unabweisbar wahrgenommen wird. Eine von Geburt, Tod, Leid und Ungerechtigkeit geprägte Realität weist gerade an den genannten Reibungsstellen eine abgründige Fragwürdigkeit auf, reizt aber auch zum Staunen und zur noch unreflektierten sanierenden kryptoreligiösen oder intuitiv rituellen Praxis.

Wie selbst säkulare Denker zugestehen, sind manche Menschen in der Lage, trotz dieser augenscheinlichen Absurdität ihres Daseins mystische oder Evidenzerfahrungen zu machen: Erfahrungen des Unaussprechlichen von einer Tiefe, die eine schier endlose Narration in Gang setzt. Vladimir Jankélévitch, der in Deutschland noch zu wenig bekannte Vordenker von Emmanuel Levinas schreibt etwa dazu: "Was ich erlebt habe [ein ich weiß nicht was, ein Beinahe Nichts] ist eine buchstäblich an Tiefe und Fülle unendliche Botschaft und ich komme niemals damit zu Ende, sie zu entfalten."[6]

Die besondere Qualität auch des Menschen, der diese Erfahrungen nicht macht, scheint es immerhin zu sein, Absurdität oder Abwesenheit als Schmerz oder Herausforderung zu empfinden. Er verspürt Sehnsucht nach Einheit und Gegenwart. Im Gefolge neuzeitlicher Religions- und Ideologiekritik müssen wir allerdings darauf bestehen, dass diese Sehnsucht nicht mit billigen Vertröstungen, sondern auf der Höhe der Möglichkeiten menschlicher Existenz beantwortet wird.

Die Einbildungskraft oder Phantasie - ein in der Philosophie leider aus der Mode gekommenes Thema, traditionell aber eine der Seelenkräfte, von Aristoteles, Kant und anderen als zentrale Vermittlungsinstanz organisch verflochten mit Sinneswahrnehmung und Vernunft gedacht - scheint auch den religiös unmusikalischen Menschen in die Lage zu versetzen phantastische Parallelwelten aufzunehmen, weiterzuentwickeln oder neu zu entwerfen. Parallelwelten, die Elemente der Realität enthalten und diese zugleich kontrafaktisch überschreiten[7] - man denke nur an die Idee von der klassenlosen Gesellschaft und andere säkulare Utopien aber auch an die Werke der schönen Literatur und bildenden Kunst. Mit Hilfe der Einbildungskraft werden in relativer Freiheit von herrschender Ungerechtigkeit und Absurdität experimentell neue Handlungsmöglichkeiten entwickelt.[8] Der Anglist und Mitbegründer der Rezeptionsästhetik, Wolfgang Iser, hat genau diese Fähigkeit des Menschen in den Mittelpunkt seiner 'fiktionalen Anthropologie' gestellt.[9]

Man kann die Kulturgeschichte als Tradition solcher medial präsentierter Sinnstiftungen begreifen[10]. Seien sie eher mystischen Erfahrungen oder der Einbildungskraft entsprungen. Beginnend mit dem gemeinschafts- und kulturstiftenden Mythos, liturgisch begangen im Ritus, werden angesichts einer als leidvoll und unvollkommen empfundenen Realität Eigenschaften imaginiert, die real nicht menschlich sind: Allmacht, Unsterblichkeit, Allwissenheit, ewige Liebe werden menschliche Eigenschaften oder auf göttliche Wesen projiziert.[11]

Diese Fähigkeit zur Imagination trägt also immer auch die mythische Versuchung menschlicher Vollkommenheitssehnsüchte in sich. Doch schon im Alten Testament kristallisiert sich das heraus, was Max Weber Intellektuellenreligion[12] und Eckhart Nordhofen jüdische Aufklärung genannt haben[13]: Die Prophetische Kritik. Sie darf mit Max Weber verstanden werden als rationale Reflexion auf zunächst eher willkürlich entstandene Fabeln; als Reaktion auf die machtlegitimierenden großen Erzählungen des nahöstlichen Kulturlandes. Die biblische Tradition lässt, ausgehend von einer abgründigen Gotteserfahrung am Rande der menschliche Ausdrucksmöglichkeiten ein bis heute grandioses Zueinander von narrativen und poetischen Texten einerseits und ihrer intellektuellen Durchdringung andererseits entstehen. In welcher Weise dieses Zueinander von Narration und Prophetie in der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu Christi theodramatisch verflochten wurde hat Hans Urs von Balthasar in immer neuen Anläufen zu rekonstruieren versucht.[14]

Damit sind die beiden Größen eingeführt, die in je unterschiedlichen Relationen und Gestalten mindestens die abendländische Kultur- und Religionsgeschichte bestimmt haben und bis heute bestimmen: Die Einbildungskraft oder Phantasie einerseits, die sich mit der Absurdität bestehender Verhältnisse nicht abgibt, aber auch zur ungebremsten Selbstermächtigung neigt; und die Vernunft oder Urteilskraft andererseits, die in der Lage sind, auf die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Existenz zu reflektieren und Äußerungen der Phantasie kritisch zu beleuchten. Sie werden auch gegen den Wunsch, sich im Fiktionalen zu verlieren, nicht müde, die Erinnerung wachzuhalten an das Widerständige, also an die absurden Bedingungen menschlicher Existenz, und damit auch an das Leid des Anderen und den drohenden eigenen Tod - so etwa schon im Mythos - oder besser Logos - von Sisyphos.

Ich will nicht so weit gehen, die Ideengeschichte Hegelianisch auf eine dialektische, am Ende gar fortschreitende Entwicklung dieser beiden Kräfte zu reduzieren - mindestens das Soziale und damit die Ökonomie müssten als dritte Größe mit bedacht werden. Doch auch für Mittelalter und Neuzeit läßt sich dieses Wechselspiel zwischen den 'Phantasiereisen' und stellvertretenden Kommunikationen in der religiösen Kunst und der mystischen Schau ins Feld führen und andererseits an die theologische Reflexion und die Einsprüche der kritischen Vernunft gegen allzu phantastische Jenseitsspekulationen etwa in Immanuel Kants letztem vorkritischem Text Träume eines Geistersehers oder die Träume der reinen Vernunft[15] erinnern. Die sogenannte 'schöne Literatur' und das Kino dürfen vielleicht Medien der Moderne und damit Schauplatz der menschlichen Einbildungskraft bis heute genannt werden, konterkariert, von ausdrücklich kunstkritischen vor allem marxistischen und neomarxistischen Ästhetischen Theorien[16] einerseits und dem ebenso einfallslosen postmodernen Relativismus andererseits.

Aus einer solchen kurzen Ideengeschichte ergibt sich ein kulturnaher und doch nicht kulturpessimistischer Religionsbegriff. Er muss hinreichend offen sein, um auch Phänomene an der Grenze zwischen Religion und Kultur, verstanden als allgemeinste Form erworbener menschlicher Ausdrucksmöglicheiten,[17] beschreiben zu können und gleichzeitig so bestimmt, dass er auch den Missbrauch dieser menschlichen Möglichkeiten zu beschreiben in der Lage ist: Religion ist eine Weise der Weltdeutung, die mit Hilfe von Vorstellungen nicht alltagsrealer wirkmächtiger Zusammenhänge zwei Dinge verbindet: Eine angenommene jenseitige ('fiktionale') Realität und die Alltagswelt des Menschen. Dieses Zueinander ist in einer Weise zu bestimmen, die zu einem emotional aufgeladenen, rational verantwortbaren, also der Möglichkeit nach freien, menschlichen Handeln führt.

Ein solcher Religionsbegriff ermöglicht die Darstellung kultureller Äußerungen als sinnstiftende mediale Phänomene, die nicht explizit religiös genannt werden können, und verfällt angesichts seiner Vernunftorientierung doch nicht dem Relativismus. Wer in einer weitgehend säkularisierten, ja offensiv atheistischen Gesellschaft als Theologe Kulturtheorie betreiben will, tut gut daran, genau zu bestimmen, in welchem Verhältnis kulturelle zu religiösen Äußerungen stehen. Nur so kann lokal und in aller notwendigen Differenzierung untersucht werden, ob überhaupt, und wenn ja, in welcher Weise heute jene Fragen gestellt und beantwortet werden, die einmal Monopol der Religionen waren. Darüber hinaus kann so untersucht werden, ob die Antworten, die außerhalb expliziter Religion in Literatur, Film und neuen Medien gegeben werden, mit den religiösen, genauerhin den christlichen Antworten in Verbindung gebracht werden können. Etwa im Sinne einer religiösen Propädeutik oder einer Praeparatio Evangelii, oder ob sie nicht vielmehr der sachgerechten Kritik bedürfen.

Die Einsicht, dass Religion ebenfalls zuallererst sinnstiftende Narration ist und hier vielleicht einen Großteil ihrer Bindungskräfte gewinnt, ist bekanntlich vor allem von Johann Baptist Metz stark gemacht worden, hat aber im kirchlichen Vollzug immer noch wenig Raum. Nach Jahrhunderten der bisweilen auch zweifelhaften Begeisterung für Heiligenlegenden und Höllenschilderungen ihrer pastoralmächtigen Verzweckung der ihr auf dem Fuße folgenden Religionskritik hat man sich mit dem Modernisierungs- und Aufklärungsschub des Zweiten Vatikanischen Konzils auch in der katholischen Kirche bisweilen in einem Pendelausschlag in die entgegengesetzte Richtung von diesem wesentlichen Ausdruckmittel des Glaubens abgewandt.

Außerhalb der Kirche und der Religionen hat das Modell der fiktionalen, d.h. narrativen aber zunehmend auch einfach ikonischen Weltdeutung und Lebenshilfe in jüngerer Zeit eine geradezu exorbitante und bisweilen auch besorgniserregende Karriere hinter sich. Norbert Bolz hat unter der schönen Überschrift "Unwirklichkeiten, in denen wir leben"[18] bereits 1992 darauf hingewiesen, dass das Zeitalter der Reflexion heute zugunsten einer ungebremsten Bilderflut einer "Konkretion ohne Denken" unterzugehen drohe. Man kann in diesem Zusammenhang denken an die ungebremste Hingabe des Publikums an Daily-Soaps, Voyeuristische Beobachtungen à la Big Brother und andere im weitesten Sinne an den Grenzen zwischen Fiktion und Alltagsrealität angelegte mediale Formate: Was ich hier am Bildschirm erlebe, ist gerade weit genug von meinem eigenen Alltag entfernt, um diesen vergessen zu machen und die Schaulust auf das Fremde zu befriedigen, gleichzeitig aber auch nahe genug daran, um die Übernahme von Handlungsmustern und allgemeinen ethischen Lebensregeln zu ermöglichen, wie von 'Fans' der Daily Soaps immer wieder betont wird[19]. Aus dem muddling through der medialen Anderen erhebe ich Lebensregeln für mein eigenes Durchwursteln vor allem dann, wenn Sozialisation primär medial und nicht mehr sozial geschieht. Wir hätten es also in den Unterhaltungsmedien im schlechteren Fall mit einem quasimythischen Rückfall hinter die Errungenschaft der kritischen prophetischen Reflexion zu tun. Nicht von ungefähr wurde andererseits in den neunziger Jahre von diversen Autoren (nicht zuletzt von Norbert Bolz selbst)[20] gerade diese neue Polymythie als radikal pluraler Befreiungsschlag gegen die monotheistische und rationalistische abendländische Tradition verstanden. Hier gilt es einen Graben zu schließen, indem das jeweils andere als im Selben bereits verborgen wahrgenommen wird.

Ich schlage also vor, heute, da wir der Reflexion im Sinne einer allgemeinen Kulturkritik allzu sehr bedürfen, Polymythie in ihrer aktuellen medialen Version (ebenso wie amerikanisch-christlichen und islamischen Fundamentalismus) in einem ersten Anlauf weder zu verwerfen noch unkritisch zu begrüßen, sondern sie zunächst zu begreifen und aufzugreifen als in unterschiedlichen Diskursformen vorgetragenen Protest gegen Funktionalismus und Ökonomismus der radikalisierten Moderne, als Reaktion auf ein zu Gunsten des rationalen Anteils gestörten Gleichgewichts. Nicht einfach nur Rationalisierung, kritische Reflexion oder - begrifflich unschärfer - Verwestlichung der Polymythien und Fundamentalismen wäre also Gebot der Stunde, sondern ebenso eine Bewusstmachung jenes unkalkulierbaren nicht rationalen Anteils in der Rationalität, eine Wahrnehmung ihrer Störung durch das Phänomen selbst, wie ihn uns spätestens die Phänomenologie Husserls und vor allem seiner französischen Schüler und Schülerinnen ins Stammbuch geschrieben hat.

Eine solche Positionierung antwortet implizit sowohl auf die in den Geisteswissenschaften der Neunziger Jahre gefeierte neue Mythenfreundlichkeit als auch auf die von Norbert Bolz diagnostizierte "Konkretion ohne Denken" also die Bilderflut im Mainstreamfilm, in der Werbung, den Daily Soaps und Fernsehformaten wie Big Brother. Ihnen werden zunehmend lebensdeutende Funktionen zugesprochen. Weder das Einstimmen in die Sehnsucht nach irrationaler Harmonie noch das Konkurrieren mit scientistischen Sinnstiftungskonzepten aus der Retorte scheinen also Aufgabe einer christliche Kulturtheorie zu sein, sondern eher die Störung und Irritation von beidem. Diese Impulse gehen im Alltagsleben vom als widerständig erlebten Phänomen, in besonderer weise aber vom anderen Menschen immer schon aus. Sie sind zentrales Thema der modernen Literatur, des anspruchsvollen Films und der Kunst, sie lassen sich aber auch theologisch unter den Stichworten Prophetie, Negative Theologie oder Ikonoklasmus reformulieren. Die damit anklingende Frage nach dem

Spezifikum christlicher Religion

verdient es etwas näher beleuchtet zu werden. Ich wage an dieser Stelle eine kurze Definition des spezifisch Christlichen[21]: Vor dem Hintergrund einer Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit theologischer Aussagen überhaupt hat der Freiburger Fundamentaltheologe Hansjürgen Verweyen ein Denkmodell entwickelt, das sich für die Bestimmung eines christologischen Urkerygmas außerhalb biblischer Zusammenhänge und damit in Literatur und neuen Medien besonders eignet. Ausgehend von Anselm von Canterbury und Johann Gottlieb Fichte stößt man auf eine notwendige Bedingung der Subjektwerdung: die Erfahrung, von einem anderen Menschen rückhaltlos und in vollkommener Freiheit [als Anderer] anerkannt zu werden [22]. Eine Reflexion auf das Phänomen Anerkennung durch einen liebenden Menschen stößt aber gleichzeitig auf den Kernbestand dessen, was die christliche Tradition Offenbarung nennt, etwas, das der Mensch sich nicht selbst geben kann, und das dennoch der Kantschen Heteronomiekritik entkommt: Wer konsequent nach der Wurzel solcher Anerkennung fragt, bekommt bald einen Prozess in den Blick, der über eine Kette von authentischen Zeugen auf das Urbild solcher Anerkennung, auf den liebenden Schöpferwillen Gottes selbst zurückverweist. Überall dort, wo Anerkennung in diesem Sinne geschieht, wird explizit oder implizit ein Lob des Schöpfergottes gesungen.

Betrachtet man nun den Ernstfall solch liebender Anerkennung, nämlich die immer als möglich anzunehmende Verweigerung bis zur Niedertracht[23}, so wird deutlich, dass Liebe in letzter Konsequenz auch Anerkennung des Gegenübers in seiner unerlösten Verstrickung bis in die Auslieferung (lat. 'traditio') des eigenen Lebens heißen kann. Das sündlose Leben und Sterben Jesu, wie es in den Evangelien beschrieben wird, erscheint so zugleich als Gipfelpunkt menschlicher Subjektivität und als Offenbarwerden dessen, was Göttlichkeit für den Menschen konkret heißen kann: die Möglichkeit letztgültigen Sinns in einem auf den ersten Blick absurden Leben[24]. Wo "jemand seine Existenz daransetzt, dass in einem anderen Vernunftwesen das Bild des unbedingten Seins hervortritt [...], führt Reue auch über die schlimmste aller Sünden [...] nicht in die Verzweiflung, sondern in die Gewißheit von Verzeihung."[25]

Aus einer solchen bewußt allgemeinen Rekonstruktion des christlichen Kerygmas wird deutlich, dass für jeden Menschen, auf den diese Beschreibung zutrifft, zwar nicht die Originalität des Gottessohnes beansprucht werden kann, aber doch immerhin die unverstellte Zeugenschaft für Liebe und Anerkennung Gottes. Gleichzeitig können wir vor diesem Hintergrund die Erzählungen von Leben, Tod und Aufstehen Jesu Christi als erneutes Reflexivwerden der biblischen Tradition verstehen. 'Traditio', verstanden als radikale Hingabe an den anderen Menschen eröffnet zudem einen Maßstab für kirchliches Handeln aber auch die Möglichkeit einer Zeugenschaft außerhalb ausdrücklich kirchlicher Zusammenhänge und eine scharfe Kriteriologie für die Frage, ob in einem säkularen Vollzug die in Christus fleischgewordene äußerste Möglichkeit menschlicher Existenz erreicht, wenigstens angezielt oder völlig verfehlt wird.

Virtualität (virtual reality) in christlicher Perspektive

Wie stellt sich das Phänomen Virtualität unter Hinsicht der entwickelten Relation von Realität, Fiktion und Reflexion nun aus christlicher Perspektive dar? Ich will nach einem ersten phänomenologischen Zugang deutlich machen, wie sich eine christliche Kulturtheorie dazu verhalten könnte und schließlich kurz skizzieren, dass eine massenwirksame kritische Diskussion des Themas virtual reality im Medium Film bereits eingesetzt hat.

"Ihr werdet sein wie Gott" (Gen 3,5)

Wer einen kurzen Moment nachdenkt und sich vielleicht auch seinen eigenen Umgang mit dem Computer vor Augen hält, dem wird klar, wie sehr die digitalen Medien Computer und Internet als große Erzählung, ja als Mythos unserer Tage den urmenschlichen Wunsch nach selbstermächtigendem Zugriff auf den Andern und die Welt zu erfüllen scheinen. Kurz gefasst heißt das Versprechen der virtual reality: Wer 'online' ist, wird sein wie Gott[26] und ähnelt so auffällig dem Satz der Schlange in Gen 3,5:

  • Allwissend wie Gott, denn der mit dem Internet gesegnete Mensch hat nun Zugriff auf potentiell unendliche Datenbanken, in denen alles Wissen der Welt gespeichert und via Volltextsuche auch abrufbar ist.
  • Allgegenwärtig, weil körperlos wie Gott, denn mit Hilfe der Internetkommunikation, ist in 'Echtzeit' scheinbar jeder Ort der Welt erreichbar, ohne dass auch nur ein Fuß in Richtung Briefkasten, Telefon oder Flugzeug bewegt werden müsste.
  • Allmächtig wie Gott scheint der Mensch ebenfalls zu werden, wenn wir Macht verstehen als die Möglichkeit, alle eigenen Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen durch Internetshopping und -banking aber auch durch Nutzung pornographischer und anderer verführerischer Angebote.
  • Eine der Ewigkeit Gottes ähnliche Unsterblichkeit scheint die Kopierbarkeit der digitalisierten menschlichen Existenz ebenfalls zu versprechen. - Sie ist über den menschlichen Tod hinaus stabil.
  • Unsichtbar wie Gott macht schließlich die Anonymität oder gespielte Identität, die in den Spielen und in Chatrooms genutzt wird, um neue Identitäten auszuprobieren.

Bei genauerem Hinsehen handelt es sich freilich um eine 'schlechte Unendlichkeit' im Hegelschen Sinne. Es fällt zudem auf, dass andere Eigenschaften Gottes wie Personalität, Güte und Weisheit abgeschattet werden müssen.

Am ausdrücklichsten scheinen diese Möglichkeiten der virtual reality in einer Vielzahl von Spieldomains im WWW, den sog. MUDs (Multiple User Domains) verwirklicht zu sein: Hier begegnen Avatare einander, virtuelle Stellvertreter der Spieler, mit dem immateriellen Status reiner Geister in nahezu allen denkbaren alltäglichen oder phantastischen Konstellation. In einem der erfolgreichsten CD-ROM Spiele, in Microsofts Age of Empire, aber auch in den beliebten Spielen SIM-City, Civilisation u.a. blickt der Spieler aus himmlischer Perspektive auf die Erde und kann nach Lust und Laune das Geschick seiner kleinen Welt lenken. Noch deutlicher wird der Wunsch nach Erfüllung von Allmachtsphantasien bei dem Spiel Heaven and Hell. Sicher eröffnet Virtualität in all diesen Bereichen auch Möglichkeiten der materiefreien experimentellen Arbeit an alternativen Gesellschaftsmodellen, schafft also im guten Sinne 'himmlische' Bedingungen. Ohne die genannten Eigenschaften der virtual reality wäre weder der weltweite Protest gegen Globalisierungsfolgen noch die Organisation von Dissidentennetzwerken in Kuba, China und anderen Diktaturen möglich.

Was es heißen kann, wenn ein neues Medium auf ganze Gesellschaften wie ein Fetisch wirkt, haben wir in den Boomjahren 1998 bis 2001 erlebt. Die Erfüllung nahezu aller Wünsche wurde vom Internet erwartet: Universelle Bildung und Emanzipation, volkwirtschaftlicher und individueller Reichtum, die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse, um nur die wichtigsten Visionen zu nennen. Nicht wenige dieser Wunschträume wurden inzwischen als übertrieben entlarvt. 'Inzwischen', das heißt vor allem nach dem 11.9.2001, der in einem furchtbaren Angriff auf einen Fetisch der westlichen Welt eine Rückkehr der Sorgestruktur menschlicher Existenz in das allgemeine Bewusstsein bewirkt haben dürfte.

Technisch wird der Übergang von Realität zur Virtualität ermöglicht, indem materielle ("analoge") Phänomene digitalisiert, also angeblich restlos in den binären Code, in mathematische Daten also, umgewandelt werden. Damit stellt sich allerdings die theologisch auch im Dialog mit den Neurowissenschaften brennende Frage nach Qualitäten der Wirklichkeit, die nicht annäherungsweise auf dem Wege des Infinitesimals, 'errechnet' werden können. Nicht auf jede Frage passt die Antwort von Gottfried Wilhelm Leibniz "lassen Sie uns rechnen, Monsieur!". Die Erfahrung radikaler Andersheit und Freiheit des anderen Menschen, auf die uns Emmanuel Levinas so eindringlich hingewiesen hat, kommt so jedenfalls nicht in den Blick. Der andere Mensch ist dem denkenden und rechnenden Ich nicht vorhersehbar.

Aus der Perspektive der Maschinenwelten offenbarte sich in der virtual reality allerdings endgültig die von Günter Anders schon 1956 bedachte Antiquiertheit des Menschen. Ich zitiere Norbert Bolz: "Jeder Vergleich von Individuen mit elektronischen Netzen erweist den Menschen als schlampig produziertes, dummes Netz mit defekten Schaltkreisen des Denkens und instabilen Rückkopplungen."[27] Vor diesem Hintergrund dürften wir also in Zukunft einen Computer’absturz' weniger als unliebsame Unterbrechung perfektionierter Arbeitsabläufe deuten, denn als hoffnungsvolles Zeichen des Scheitern einer posthumanen Hybris erhoffen.

Neben den genannten, eher solipsistischen Versuchungen des Mediums hat der Münsteraner Philosoph und Theologe Klaus Müller mit heftiger Kritik auch auf die gnostisch-doketistische Herabwürdigung menschlicher Leiblichkeit in der Cyber-Philosophie[28] reagiert. Sie gilt etwa dem Cyberphilosophen Hans Moravec[29] hier nur noch als störende Wetware, lästige kontingente Materialität, die den Nutzer von seiner endgültigen Entmaterialisierung abhält. Es sei heute die Aufgabe von Christen gegen solche leibfeindlichen Ansätze das Realitätsprinzip zu stärken. Müller warnt vor der Gefährlichkeit des Nietzscheanischen Übermenschen, der in der Cyber-Szene wieder fröhlich herbeizitiert werde. Wen wundert es da, dass die Cyborgpropheten auch Nietzsches Verachtung für die jüdisch-christliche Tradition teilen: Religion sei eine entropische, also dem Chaos allzu nah verwandte Kraft, die der angestrebten posthumanen Gesellschaft entgegen stehe. Die Digitalisierung dagegen leistet die längst fällige Rückgängigmachung der Inkarnation: Das Fleisch wird wieder, was es war und sein sollte: digitales entmaterialisiertes Wort bzw. Information. Es entbehrt nicht der Ironie, dass gerade die christliche Religion, der über Jahrhunderte Leibfeindlichkeit vorgeworfen wurde, genau diese Leiblichkeit gegen säkulare Denker zu verteidigen hat. Man muss sicher nicht jede optimistische Reflexion auf die Neuen Medien kulturpessimistisch verurteilen. Und doch scheint mir Müllers Fazit, "dass die digitale Spiritualität Topthema jeder zukünftigen Theologie zu sein hat"[30] eine neue Dimension theologischer Reflexion zu eröffnen. Auch Papst Johannes Paul II. hat im vergangenen Jahr - wenn auch in starker Zuspitzung auf eine Verwendung des Internets zu Zwecken der propaganda fidei - die "'Erarbeitung einer Anthropologie und einer Theologie der Kommunikation' [...] mit besonderem Bezug zum Internet" gefordert.[31]

Ich fasse in diesem Sinne zusammen: Eine Theorie der Virtualität, die es verdient, christlich genannt zu werden, müsste die geschilderte Ambivalenz zwischen emanzipatorischen und selbstermächtigenden Tendenzen in der Nutzung von Computer und Internet nicht nur entscheiden zu Gunsten von Leiblichkeit, Unvertretbarkeit und Endlichkeit menschlicher Existenz. Sie müsste auch die Dimension rückhaltloser Hingabe als höchste Möglichkeit menschlicher Freiheit mit ins Spiel bringen.

Es scheint als sei im Zeitalter der Virtualität - oder wie Jean Baudrillard schreibt der Simulation - das Fingieren halbrealer Parallelwelten, das zu den anthropologischen Konstanten gehört, stillschweigend abgelöst worden durch eine Hyperrealität der Simulacren, die das Reale absorbiert und die Fragen nach wahr und falsch, Wirklichkeit und Schein gegenstandslos macht.[32] Die Perfektionierung der Bilder und der so erzeugte Sog scheint Reflexion überflüssig, ja schier unmöglich gemacht zu haben. Die eigentlichen Fragen sind nun solche der Form, der Publik-Relations, des Layout.

Die düstere Prognose Baudrillards vom Beginn der neunziger Jahre ist allerdings bis heute nur bedingt in Erfüllung gegangen. Dass der Eintritt in virtuelle Räume die alte Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit stellt, ist offensichtlich. Wir finden sie in einer ersten idealistischen Ausarbeitung bereits in Platons Höhlengleichnis - eine cinematographien Vision avant la lettre -, aber ebenso bei Descartes, der sich nach Zusammenbruch des mittelalterlichen Weltbildes nicht mehr sicher sein konnte, dass nicht ein genius malignus, ein allmächtiger Lügengeist seine gesamte Wirklichkeitswahrnehmung bestimmte. Ein vorläufiges Ende dieser Debatte erreichte Immanuel Kant zu Beginn der Moderne indem er formulierte, dass der Mensch nicht in der Lage sei, Dinge an sich zu erkennen, sondern immer nur für sich, also seine je individuelle Erscheinung wahrnehme. Dass nicht schon damals die Welt als Ganze für konstruiert gehalten werden musste, garantierten für Kant "Vernunftwahrheiten a priori", die den Menschen in die Lage versetzen sollten, die Übereinstimmung zwischen erlebter (sinnlicher) und tatsächlicher Wirklichkeit zu kontrollieren und so zwischen Traum, Wahn, Vision einerseits und Wirklichkeit andererseits zu unterscheiden. Inzwischen ist der sogenannte Radikale Konstruktivismus, also die Vorstellung, dass zwischen Illusion und Wirklichkeit in keinem Fall sauber unterschieden werden und die reale Existenz eines Gegenstandes oder des Menschen selbst tatsächlich bewiesen werden könne, eine vor allem unter Vertretern der aktuellen Leitwissenschaft - der Neurobiologie - weit verbreitete Ansicht.

Wenn das Wort virtualiter, das wir dem Englischen entnommen haben, auch der mittelalterlichen Theologie, genauer dem Universalienstreit, entstammt, so liegt hier heute doch ein völlig anderer Wortgebrauch vor. Zur Übersetzung des Aristotelischen Entelecheia-Gedankens in De Anima entwickelt, meinte virtualis im Mittelalter "die Kraft betreffend, die einem Seienden innewohnt."

Es fand seine Anwendung v.a. in der Seelenlehre, in der Theologie der Eucharistie, aber auch in der Engellehre. Der Begriff tactus virtualis bezeichnet das bis heute heikle theologische Problem, wie denn der Kontakt zwischen der Welt der Engel und der materiellen Welt vorgestellt werden sollte - durch den tactus virtualis eben. Auch wenn sich der Theologie durchaus bekannte Fragen um Verhältnis von Leib und Seele, Geist und Materie sich im Kontext neuerer Cyber-Philosphien neu stellen, ist der Wortgebrauch heute doch ein völlig anderer, ja geradezu entgegengesetzter.

Denn im Mittelalter bezog sich der Begriff virtualis auf eine causa, eine der Möglichkeit nach, vielleicht in der Zukunft verwirklichbare Eigenschaft der Seele oder der nicht gewandelten Hostie. Heute bezeichnen wir mit dem Begriff Virtualität eher einen effectus, also einen fiktional generierten Raum, der zunächst definitiv nicht alltagsreal werden kann (und soll) und uns doch in hyperrealer Perfektion entgegentritt, so dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verschwimmen drohen.

Das Reflexivwerden der Virtualität im Medium des Spielfilms

Eine solche Ortsbestimmung muss jedoch angesichts einer medienbegeisterten Gesellschaft nicht in ein simulationsabstinentes Getto führen. Im Gegenteil. Die kritische Reflexion auf die Chancen und Risiken der virtual reality hat bereits begonnen, wo man sie nicht erwartet hat: im Kino nämlich. Das 'Internet' selbst ist für eine solche breitenwirksame Debatte zu unübersichtlich und die Geisteswissenschaften, erst recht die Theologie in ihrer aktuellen Verfassung klein und hässlich (W. Benjamin), werden immer weniger wahrgenommen und scheinen "zur Arbeit in den Archiven verdammt" zu sein, wie Michel Foucault und Jacques Derrida in den letzten Jahren bemerkt haben.[33]

Es wirkt vielleicht etwas ungewohnt, doch ich finde den Versuch, aktuelle Spielfilme als Orte nicht nur der Unterhaltung, sondern der intermedialen Selbstreflexion und Kritik ernstzunehmen ertragreich und will deshalb darauf hinweisen, wie die skizzierten Methodik, das Zueinander von narrativen und reflexiven Elementen auch außerhalb geisteswissenschaftlicher Diskurse nachvollzogen wird. Unterstützung für dieses Vorhaben in der "Enzyklika über die Lichtspiele" Vigilanti Cura von Papst Pius XI. Er schreibt 1936:

Es "gibt [...] heute kein stärkeres Mittel als das Kino, um die Massen zu beeinflussen, sei es wegen der Natur des Bildes selbst, das auf die Leinwand geworfen wird, sei es wegen der Popularität des Schauspiels oder wegen der Umstände, die es begleiten. [...] Es gehört also zu den dringlichsten Aufgaben unserer Zeit, zu wachen und zu wirken, dass der Film nicht ferner eine Schule der Verführung sei, sondern dass er sich umgestalte in ein wertvolles Mittel der Erziehung und der Erhebung der Menschheit." Eine Aufforderung, die mir in der Theologie bis heute weitgehend uneingelöst zu sein scheint.

Ich schaue also nun mit ihnen gemeinsam auf die beiden ersten Teile der MATRIX-Trilogie der Brüder Wachowski. Dass in diesen deutungsoffenen Reflexionsprozess christliche Standpunkte eingetragen werden können, wird sozusagen en passant deutlich werden. MATRIX steht nicht allein. Spielfilme wie EXISTENZ, THE 13TH FLOOR STRANGE DAYS, TRUMAN SHOW und andere haben sich der Welt gewaltsamer Computerspiele, dem Problem der Ununterscheidbarkeit zwischen Realität und Virtualität gewidmet und dabei auch die ethischen Fragen, die Fragen nach der Unterscheidung der Geister die sich hier im Sinne einer Unterscheidung zwischen Täuschung und Fiktion stellen, nicht ausgeklammert. Keiner von diesen Filmen hat aber derart viele Menschen weltweit begeistert und zum Nachdenken angeregt wie MATRIX. Im überwältigenden Medienecho, das bis in die Feuilletons und geisteswissenschaftlichen Fakultäten reichte, wurde er diskutiert als Fortschreibung des platonischen Höhlengleichnisses, als Kritik des Descartschen Lügengeistes und der Kantschen Unerkennbarkeit des Dings an sich sowie des Radikalen Konstruktivismus sowie Baudrillards Reflexionen zu Simulation und zum Simulacrum. Ein Werk, das im Film sogar ausdrücklich zitiert wird.

Ein entscheidender Grund für die breite Anerkennung, die der Film auch jenseits der Elfenbeintürme gefunden hat, könnte darin liegen, dass hier keine moralinsaure Kritik virtueller Welten geübt wird. Vielmehr findet sich im Rahmen der für das Genre des Actionkinos typischen antagonistischen und spannenden Spielhandlung ein Netz von signifikanten Hinweisen und Denkanstößen. Hinweise, die man eklektizistisch nennen kann, die aufgrund ihrer unterschwelligen Bezüge zu philosophischen Denkmodellen und religiösen Ikonographien aber dem Betrachter je nach eigenem Standpunkt auch zu denken geben. So werden mit den experimentellen Möglichkeiten des Spielfilms unter anderem George Orwells und Hannah Arendts Totalitarismuskritik, neobuddhistische Erleuchtungshoffnungen und jüdisch-christlicher Messianismus auf ihre Brauchbarkeit getestet. Sind sie in der Lage, die Konstellationen zwischen Absurdität und Sinn, Alltagsrealität und Virtualität, Mensch und Maschine, Trieberfüllung und Triebaufschub, Liebe und Verrat adäquat zu beschreiben und zu reflektieren? Schauen wir genauer hin:

Die Rahmenhandlung des Filmes bildet die Vorstellung einer komplett computergenerierten Welt in nicht allzu ferner Zukunft, der Matrix eben, die allen Menschen vorgegaukelt wird, um sie auf einer eigentlich komplett zerstörten düsteren Erde als Energielieferanten für herrschende Maschinen missbrauchen zu können. Wir haben also nicht den Traum der Cyberphilosophen vor uns, sondern den Alptraum vom allmächtigen Lügengeist im Gewand künstlicher Intelligenz. Nur durch ein entschiedenes cogito ergo sum scheinen seine Helden daraus erwachen zu können. Wenn in dieser öden Welt eine kleine Gruppe erleuchteter Partisanen auf den Erlöser wartet, so wartet sie also gerade auf die Rückeroberung der Definitionsmacht über die Unterscheidung zwischen 'real' und 'virtuell' und damit implizit auch zwischen 'wahr' und 'falsch'. Sie kämpfen zugleich um eine Entthronung der Maschinengötter und eine Befreiung aller Menschen aus ihrem Sklavendasein. Ziel Ihrer Wünsche ist nicht das Schlaraffenland umfassender Bedürfnisbefriedigung (in dem leben sie aktuell), sondern Zugang zur Einsicht für alle Menschen in die wahre Beschaffenheit ihres Körpers und dessen Umwelt durchaus im Sinne einer Bejahung tatsächlicher Leiblichkeit und des Realitätsprinzips.

Konsequent heißt Erleuchtung in diesem Film - gut buddhistisch aber wenig modern -, Einsicht zu gewinnen in den illusorischen Charakter der Matrix, die Großstadtwelten der späten neunziger Jahre abbildet, obwohl wir bereits das Jahr 2199 schreiben. Der als 'Erlöser' eingeführte Neo wird stückweise zu Gunsten eines Bewußtseins ursprünglicher Freiheit seinen deterministischen Glaubens an die 'Bestimmung' aufgeben müssen - kaum ein Wort führen die Geschöpfe der Matrix häufiger im Mund als das Wort 'Bestimmung'. Andererseits aber ist Neos Weg auch eine Anleitung zur Akzeptanz von Absurdität und Wüstenhaftigkeit irdischer Existenz. "Welcome to the desert of the real" begrüßt sein geistlicher Führer Morpheus ihn denn auch, nachdem Neo aus freier Entscheidung von der gigantischen Illusions- und Ausbeutungsmaschinerie entkoppelt wurde. Und er hat Recht, denn auf den Adepten wartet ein Leben unter asketischen Bedingungen: Kampftraining, Haferschleimsuppe und die ständige Bedrohung durch die Wächter und Agenten der Matrix. Ein Leben, das Cypher, ein anderer der Partisanen, nicht länger zu führen bereit ist. Deshalb verrät er seine Mitstreiter für eine virtuelle Karriere als Filmstar und den damit verbundenen Reichtum - ein den Silberlingen verfallener Judas also, wie er im Buche steht. Nur knapp und unter Einsatz des eigenen Lebens kann das Projekt der Partisanen in letzter Sekunde gerettet werden.

Die komplexe Unterscheidung zwischen digitaler und vergänglich-menschlicher Existenz wird im Film mehrfach thematisiert: Am Ende des ersten Teils berichtet Mr. Smith, ein Agent des herrschenden Systems, Neo dem Erlöser, die erste Matrix sei als perfekte Welt entworfen worden, in der niemand zu leiden hatte und alle glücklich waren - ein digitaler Himmel also. Doch dieser Entwurf sei von den Menschen nicht akzeptiert worden und habe im Desaster geendet. Eine Aussage, die im Kontext der Theodizee vielleicht als Plädoyer für die Erde als "beste aller möglichen Welten" hätte interpretiert werden können. Aus der Perspektive der Maschinen bestätigt sie aber lediglich die Primitivität menschlicher Intelligenz. Der Film plädiert hier erneut ausdrücklich gegen eine Utopie der Perfektion als Verlängerung menschlicher Süchte und für ein Aushalten der Unvollkommenheiten: Tod, Unrecht und Leid.

Zunehmend scheint es als könne nur ein Gott diese Welt retten vor dem Versinken in Trugbilder und die Gewaltexzesse zwischen Mensch und Maschine aufhalten. In Teil zwei der Trilogie, MATRIX RELOADED, tritt konsequent der gottähnliche Programmierer der Matrix auf. Ihm alleine gelingt es noch, eine Metaperspektive einzunehmen, die reale und virtuelle Welt wieder vereint, und zwar indem er die Rolle Neos stark relativiert und ihn zur internen Kontrollgröße schrumpfen lässt: Seine Aufgabe sei nicht etwa, die Erlösung der Welt gewesen, sondern ein umfassender Test des beinahe perfekten Metaprogramms Matrix auf seine Schwachstellen. Neo wird nun unerwartet vor die Wahl gestellt zwischen einer abstrakten Errettung eines heiligen Restes und der Stabilisierung der Matrix und ihrer Logik einerseits und der Rettung seiner Liebsten, Trinity andererseits. Eine trotz ihres irreführenden Namens ausgesprochen interessante Figur übrigens, deren ausführliche Analyse unter Vorzeichen dessen was in jüngerer Zeit als Cyberfeminism firmierte hier aus Zeitgründen unterbleiben muss.[34] Zur Überraschung aller - auch des Zuschauers - wählt Neo die Liebe zu diesem realen Menschen und gibt damit seinen Erlöserstatus scheinbar auf. Überraschend ist dies auch deshalb, weil Neo sich im zweiten Film in für den Zuschauer penetranten Superman-Gesten gefällt, um seine perfekte Beherrschung der Matrix zu demonstrieren.

Auf den ersten Blick bedient MATRIX also die Faszination unserer virtualitätsverliebten Zeitgenossen für andere Welten, Passwörter, kontrollierte Ein- und Ausgänge, entmaterialisierte Existenzen etc. Bei genauerem Hinsehe aber führt uns der Film nicht nur das Primat der materiellen, von Leid, Tod und Absurdität und damit von echter Verantwortung gezeichneten Welt vor, er wirft auch einen nachdenklich-ironischen Blick auf herkömmliche Formen des pseudoreligiösen Personenkultes. Ob in der Gestalt Neos tatsächlich ernstzunehmende Anklänge an eine transfigurative Christusfigur aufscheinen, wie viele bereits nach dem ersten Film vorschnell behaupteten, halte ich dagegen für zweifelhaft, auch und gerade weil Neo ausdrücklich als "my personal Jesus Christ" angesprochen wird und am Ende des misslungenen dritten Teils in einer monumentalen Kreuzigungspose die schon verloren geglaubte Menschenwelt 'rettet'. Sein wachsendes Bewusstsein für die Leere selbstverliebter Welterlösergesten und die brennende Ernsthaftigkeit der unbedingten Verantwortung gegenüber dem konkreten anderen Menschen hatte im ersten und vor allem im zweiten Teil der Trilogie eine andere Fährte gelegt.

Massenmedien als präparatio evangelii

Mit diesem knappen methodischen Aufriss und der kleinen medienreflexiven Durchführung sollte deutlich worden sein, was christliche Fundamentaltheologie als Kultur- und Religionstheorie leisten könnte:

Eine kundige Sichtung und kritische Beleuchtung der zeitgenössischen Kulturträger Internet, Literatur und Film auch in ihrer Intermedialität. Dabei könnten diese nicht nur als Instrumente einer Zeitdiagnose oder als Propädeutika tiefergehender theologischer Fragen, erschlossen werden, sondern auch als ernsthafte und inspirierende Gesprächspartner der Theologie. Dabei ist freilich kulturhermeneutisches Bewusstsein vonnöten für biblische und christliche Themen, Traditionen und Ikonographien, die nach wie vor in unserer Gesellschaft lebendig sind, oft aber nicht als solche erkannt werden. Mir scheint heute in der Pastoral- und Religionspädagogik nichts notwendiger zu sein, als der nicht nur kognitive, sondern narrativ-lebensweltliche Erweis der Relevanz christlicher Tradition und Heilsbotschaft. Die damit geforderte Vermittlung zwischen Biographie und christlicher Lehre sollte sich neben bewährten Methoden wie dem Bibliodrama auch der sogenannte Massenmedien bedienen dürfen. Diese bieten nicht nur formal Möglichkeiten der "kleinen Transzendenz" der Alltagsrealität (Luckmann), sondern stellen auch eine Sprache zur Verfügung, die inhaltlich zum Nacherzählen und Reflektieren aber auch zum Experimentieren mit alternativen Existenzformen einlädt. Im besten Fall erschließen sie sich als Orte der kreativen Rekombination religiöser, ja christlicher Symbole und Typen, als Ort der transfigurativen Umsetzung biblischer Inhalte und der Thematisierung religiöser und christlicher Fragen.

Anhand der Begegnung mit den Fragen, die unsere heutige Kultur stellt, ist in Prozessen der Aneignung und kreativen Fortschreibung die christliche Botschaft von der todbezwingenden Liebe Gottes zu den Menschen und durch Menschen immer neu zu vollziehen. Diesen Vollzug auch jenseits der Kirchengrenzen aufzufinden und fruchtbar zu machen könnte eine Aufgabe der Fundamentaltheologie als christlicher Religions- und Kulturtheorie sein.

Anmerkungen
  1. Vgl. exemplarisch: Klaus Müller: Das 21. Jahrhundert hat längst begonnen. Philosophisch-theologische Beobachtungen zur Cyber-Kultur. In: M. Ebertz/R. Zwick (Hg.): Jüngste Tage. Freiburg 1999, 379-401; Christian Wessely u.a. (Hg.): Ritus - Kult - Virtualität. Regensburg/Graz/Wien2000 (Theologie im kulturellen Dialog 5) sowie Graham Ward: Between Virtue and Virtuality. Theology Today 59 (2002), 55-70.
  2. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2000.
  3. Vgl. als Beispiel für solchen Relativismus: Jörg Herrmann: Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film. Gütersloh 2001.
  4. Joachim Valentin: Schreiben aufgrund eines Mangels. Zu Leben und Werk von Michel de Certeau SJ. In: Orien 61 (1997), 123-129.
  5. Vgl. mit ähnlicher Intention und eindrücklicher ideengeschichtlicher Bezeugung: Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit. Versuch über Religion. Unveröff. Habilitationsschrift. Freiburg 1982. V.a. die Ss. 9-32.
  6. Valdimir Jankélévitch: Das Verzeihen. Frankfurt a.M. 2003, 177.
  7. So etwa das Modell einer idealen Kommunikationsgemeinschaft bei Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas.
  8. "Veränderungen fangen im Kopf an. In der Phantasie werden die Loipen gespurt, auf denen später das Leben seine Rennen laufen muss." Manfred Lay: Zwischen Rosenkranz und Legostein. Möglichkeiten einer Spiritualität im Internet. In: Anzeiger für die Seelsorge 6/2002, 15-18, 16.
  9. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Frankfurt a.M. 1991.
  10. Auch der Kulturwissenschaftler André Leroi-Gourhan fasst "Kulturgeschichte als Medienevolutionsprozess [...]. Medien sind nicht lediglich Prothesen und Instrumente der Kommunikation. Es gibt einen menschlichen Mediensinn, der in Erfahrungsprozessen, in der Aneignung, Erinnerung und Mitteilung der Erfahrungswelt immer schon wirksam ist." Vgl. Helge Schalk: Rezension von M. Faßler: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit. In: Journal Phänomenologie 19 (2003), 83-85, 84.
  11. Wer hier Feuerbachsches Denken und damit Gegnerschaft zum Christentum wittert, dem sei ein Hinweis auf Feuerbachs weniger bekannte Schrift Vorlesungen über das Wesen der Religion (SW, 8) gegeben. Hier wird in Abgrenzung gegen Hegel als differentia specifica der Religion gegenüber der von Feuerbach scheinbar privilegierten Philosophie ausdrücklich die Sinnlichkeit genannt: Feuerbach schreibt wie zur Klarstellung und seine eigene Schrift von 1839 Ueber Philosophie und Christentum zitierend "Die Religion enthalte aber nicht nur, wie Hegel behaupte, gemüthliche Phantasiebilder speculativer Gedanken, sondern vielmehr ein vom Denken unterschiedenes Element und dieses sei nicht blosse Form, sondern das Wesen derselben, Dieses Element können wir mit einem Worte Sinnlichkeit nennen, denn auch das Gemüth und dein Phantasie wurzeln ja in der Sinnlichkeit. [...] Wir könne daher den Unterschied zwischen Philosophie und Religion kurzweg darauf reducieren, dass die Religion sinnlich, ästhetisch ist, während die Philosophie etwas Unsinnliches, Abstractes ist." (15f)
  12. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen (Mohr-Siebeck) 6/1972.
  13. Eckhard Nordhofen: Der Engel der Bestreitung Frankfurt. a.M. 1993.
  14. Hans Urs von Balthasar: Theodramatik I-IV. Einsiedeln 1973-1983.
  15. Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt (WBG) 1983ff, ("Weischedel") I, 923-992.
  16. Deren Irrtum vor allem darin liegen dürfte, dass sie wie Adorno die richtige und heute nach wie vor aktuelle Analyse des Fetischcharakters der Ware ungebrochen auf alle ästhetischen Phänomene anwandten.
  17. Nach Behaviorismus und Kulturismus geht man von gewissen Universalien menschlicher Kulturbildung aus, die die teilweise hohe Übereinstimmung zwischen den Kulturen erklären soll. Kultur besteht aktuell (und in Einklang mit dem hier vorgestellten Konzept) "aus den ideationalen oder kognitiven Gegenständen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe geteilt werden. Gegenstände der materiellen Kultur (literar. Werke, Bilder, Bauwerke usw.) sind Instantiierungen kulturellen Wissens, ohne das sie weder produziert noch als Kulturprodukte wahrgenommen werden können." Art.: Kulturtheorien in: Metzler Lexikon: Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. A. Nünning. Stuttgart 2001. 351-353, 352.
  18. Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins. München, Fink, 1991, 95-134.
  19. Vgl. Matthias Loretan: Stars der Selbst-Offenbarung im Container. Big Brother: eine spätmoderne Schlüsselszene von banaler Allwissenheit. In: Medienheft 15 (20.März 2001), 19-24.
  20. Norbert Bolz: Die Sinngesellschaft. Düsseldorf 1997.
  21. Hansjürgen Verweyen Christologische Brennpunkte, Essen 21985, Botschaft eines Toten, Regensburg 1997.
  22. Hansjürgen Verweyen: Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie. Regensburg (Pustet) 42002, 233ff.
  23. Ebd. 268.
  24. Ebd. 275.
  25. Ebd. 276.
  26. In der folgenden knappen Skizze stütze ich mich vor allem auf die Arbeiten von Reinhold Esterbauer: Gott im Cyberspace? Zu religiösen Aspekten neuer Medien. In: Ders./Kolb, A./Ruckenbauer, H.-W. (Hg.): Cyberethik. Verantwortung in der digital vernetzten Welt. Stuttgart u.a.1998, 115 - 134; Stefan Münker: Was heißt eigentlich "Virtuelle Realität"? Ein philosophischer Kommentar zu neuesten Versuch einer Verdopplung der Welt. In: Ders./A. Roesler (Hg.): Mythos Internet. Frankfurt a.M. 1997, 108-127, Dirk Vaihinger: Virtualität und Realität. In: H. Krapp/Th. Wägenbauer (Hg.): Künstliche Paradiese. Virtuelle Realitäten. Künstliche Räume in Literatur-, Sozial- und Naturwissenschaften, 19-43 sowie: Sabine Bobert: Internet: Datenwüste, Sozialraum oder technischer Gott? Materialdienst EZW 6/2004, 205-215 (Lit.!).
  27. Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, 127.
  28. "Unser Geist ist draußen im Universum und greift nach den Sternen und nach der Unsterblichkeit, und diese armseligen schlampigen Körper - fesseln uns hier unten an den Dschungel." (Futurist FM 2030, zit. G. Freyermuth: Cyberland, Berlin 1996, 12).
  29. Mind Children. Harvard 1988.
  30. Klaus Müller: Computer machen Leute. Philosophie, Neue Medien und Cyberreligion. In: Renovatio 4/98, 149-160, 160.
  31. Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel: Kirche und Internet. In: L’Osservatore Romano. 11 (15. März) 2002, 9-11, 10.
  32. Jean Baudrillard: Simulacres et simulation. Paris (Galilée) 1981. Der Band wird zu Beginn von Matrix I im Film gezeigt.
  33. Vgl. u.a.: Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1981; Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997.
  34. Vgl. als erfolgreichste deutschsprachige Publikation: Astrid Deuber-Mankowski: Lara Croft. Frankfurt 2001.

© Joachim Valentin 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 32/2004
https://www.theomag.de/32/jv1.htm

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