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Magazin für Theologie und Ästhetik


Tod - Bestattung - Schändung

Im Spannungsfeld von Sacrum, Recht und Gewalt in der Vormoderne

Michael Oberweis / Christoph Michels

Der Tod als Übergangsphase in eine wie auch immer geartete weitere Existenz besitzt in den meisten Kulturen eine fundamentale religiöse Dimension. Die Bestattung ist hierbei ein unverzichtbares Element, das nicht nur dem Toten dient, sondern auch den Weiterlebenden Sicherheit vor einer möglichen Rache der Toten gewähren soll, die bei Nichtbefolgung der nötigen Riten drohen könnte. Gewalt gegenüber Leichen und Grabstätten ist nicht nur mit Gefahr für den Einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft beladen, die in solchen Situationen Reinigungsprozessen unterzogen werden muss, die von Fachleuten bestimmt werden.

Diese allgemeinen Feststellungen wurden im Rahmen eines Interdisziplinären Kolloquium, veranstaltet von der Arbeitsgemeinschaft "Recht - Religion - Gewalt in vormodernen Gesellschaften" der Ruhr-Universität Bochum, vor dem Hintergrund verschiedener Kulturen (heidnische Antike und christliches Abendland) und Epochen (Alte Geschichte bis Frühe Neuzeit) untersucht. Das vom 16.-17. Juli abgehaltene Kolloquium ging aus einer sich über drei Semester hinziehenden interdisziplinären Ringvorlesung hervor, an der sich nicht nur Historiker der verschiedenen Teilgebiete der Fakultät für Geschichtswissenschaft beteiligten, sondern auch Mitglieder anderer Fachbereiche wie Theologen, Rechtshistoriker und Orientalisten, die eigene Forschungsvorhaben vorstellten, sowie durch ihren speziellen Blickwinkel auf die einzelnen Themenbereiche die Diskussionen voranbringen konnten.

Die Veranstaltung gliederte sich in zwei Sektionen - "Begräbnis und Grabschändung" und "Hinrichtung und Nichtbestattung", welche jeweils von einer weiterführenden Diskussionsrunde beschlossen wurden. In diesen wurde die Möglichkeit gegeben, noch offene Probleme, sowie Fragen des erfreulich zahlreich erschienenen Publikums zu klären, sowie um Parallelen, Konstanten aber auch Differenzen der drei Zeitepochen aufzuzeigen und generell die einzelnen Ergebnisse in einen Zusammenhang zu bringen.

Die erste Sektion unter Leitung von Prof. Dr. Christine Reinle wurde mit einem Vortrag von Dr. Meret Strothmann (Bochum) über "Hausfriedensbruch im Totenreich - Gewalt gegen Gräber in der Antike" eröffnet, welcher die rechtliche Seite von Grabschändung im Altertum im Blickpunkt hatte. Strothmann spannte dabei den Bogen von den ersten überlieferten Grabschutzgesetzen durch Solon bis zur Gesetzgebung der römischen Kaiserzeit. Die Bestrafung für Grabfrevel teilte sie dabei in drei Kategorien: den Fluch, die Sepulkralmult (eine privat festgesetzte und von behördlicher oder pontifikaler Seite eingetriebene Geldbuße, deren Praxis durch Inschriften bekannt ist), sowie die rechtliche Verfolgung und öffentliche Ahndung des Grabfrevels - fassbar in der actio de sepulchro violato. Der Tatbestand des Grabfrevels (Grab als res religiosa) wurde erst relativ spät von Juristen in ihren Kommentaren behandelt, da bis in die mittlere Kaiserzeit das Pontifikalrecht effektiv und kontinuierlich funktionierte. Erst mit dem Ende des 2. Jh.s setzte in Rom die Todesstrafe für Grabfrevel ein, da durch den organisierten Grabfrevel staatliche (d.h. kaiserliche) Interessen massiv berührt waren. Die Verzahnung der einzelnen Rechtssphären sowie die untrennbare Verknüpfung von sakraler und politischer Dimension in der Antike wird gerade in der Strafverfolgung für Grabfrevel deutlich. Das staatlich-rationale Element der Juristen und das emotional-private des Fluchs und der Grabmult standen hier harmonisch und widerspruchslos nebeneinander.

Miriam Czock M. A. (Bochum) referierte über "Grabraub und Grabfrevel im frühen Mittelalter" und verwies dabei auf eine historisch einzigartige Häufung jener Delikte während der Merowingerzeit. Die Ursachen des Phänomens seien noch nicht hinreichend geklärt; die Forschung ziehe u. a. eine mögliche Metallverknappung, einen Sinnverlust der Grabbeigaben angesichts fortschreitender Christianisierung, aber auch den im 7. Jahrhundert einsetzenden sozialen Wandel in Erwägung. Was die normativen Quellen der Zeit (Leges, Concilia etc.) über Grabraub und -frevel aussagten, lasse sich nur schwer mit den archäologischen Befunden in Einklang bringen. Die einschlägigen Strafbestimmungen in den fränkischen Leges seien daher wohl kaum als Ausdruck tatsächlicher Rechtspraxis zu verstehen, sondern orientierten sich eher an der überkommenen römischen Gesetzgebung der Spätantike.

Bei dem Referat des Althistorikers Dr. Frank Unruh (Rheinisches Landesmuseum Trier) über "Menschenopfer in keltischen Heiligtümern?" standen mangels literarischer Selbstzeugnisse der Kelten archäologische Befunde im Mittelpunkt. Die Griechen und Römer, von denen die einzigen schriftlichen Überlieferungen stammen, waren zwar fasziniert von den fremden Bräuchen der "Barbaren", interpretierten diese aber oft falsch. Der Referent stellte eine extreme und zugleich für den weiteren Verlauf des Kolloquiums äußerst interessante Form des Umgangs dieser Kriegergesellschaft, in welcher der Krieg hochgradig religiös aufgeladen war, zum einen mit den Leichen getöteter Feinde, zum anderen aber auch mit gefallenen Kriegern der eigenen Gruppe vor. Anhand zweier Kultplätze - Gournay-sur-Aronde und Ribemont-sur-Ancre in Nordfrankreich - zeigte Unruh Hinweise für die Opferung von Kriegsgefangenen, bzw. die Verstümmelung von Gefallenen einer Schlacht - die Köpfe gingen in den Privatbesitz der Krieger über -, die neben Rüstungsgegenständen als Weihegaben an die gerade im Krieg präsenten Götter ausgestellt wurden. Daneben schilderte er zudem die aus heutiger Sicht kaum nachzuvollziehende Art der Beisetzung eigener Krieger, die separat von den aufgestellten Feinden auf einer eingefriedeten Steinpflasterung ausgelegt den Vögeln überlassen wurden. Dieses Ritual, das eine soziale Differenzierung ausschloss, galt dabei jedoch als überaus ehrenvoll. Die Knochen wurden nach Abriss der Bestattungsanlage mit dem Schutt in den Graben geworfen, aber durch die Errichtung von Stelen wurde an diesem Platz ein fortdauernder Kult zu Ehren der Gefallenen etabliert, den der Referent mit dem griechischen Heroenkult verglich.

Dr. Matthias Kloft (Frankfurt) erörterte "Das Grab in der Kirche" als Ergebnis eines längeren Entwicklungsprozesses, der mit dem Märtyrerkult der frühen Christenheit seinen Anfang nahm. Gemäß dem Grundsatz "sicut in coelis, et in terra" manifestierte sich das göttliche Heilshandeln bevorzugt am Grabe eines Blutzeugen. Dass die Heiligengräber selbst schon bald zu Altären werden konnten, bedeutete nicht zuletzt eine demonstrative Abkehr von gnostischer Leibfeindlichkeit. Der verbreitete Wunsch, sich "ad sanctos" bestatten zu lassen, führte seit dem 5. Jahrhundert zur Einrichtung von - bis dahin verbotenen - innerstädtischen Friedhöfen. Nach anfänglichem Widerstand tolerierten die karolingischen Reformkonzilien des frühen 9. Jahrhunderts auch die Beisetzung in der Kirche, allerdings beschränkt auf "besonders würdige" Personen. In der Folgezeit verlagerte sich das Königs- bzw. Stiftergrab in die Mitte des Psallierchors: Ausschlaggebend war nicht mehr die Nähe zu den Heiligen, sondern die Einbeziehung in das liturgische Gebetsgedenken.

Das Vortragsthema von Dr. Uta Kleine (Hagen) lautete: "'Desiderium vivendi atque tractandi'. Graböffnungen, Leichenberaubung und Körperzerteilung im Spiegel hagiographischer Zeugnisse des Früh- und Hochmittelalters". Im Mittelpunkt standen Inventions- und Translationsberichte des 9.-13. Jahrhunderts, die verschiedene Formen ritueller Manipulation an den Gräbern und leiblichen Überresten der Heiligen dokumentierten. Obwohl in diesen Quellen bestimmte Erzählmotive stereotyp wiederkehren (Scheu vor der Grabesöffnung, übernatürlicher Wohlgeruch, das corpus incorruptum), ist seit dem 11. Jahrhundert eine wachsende Unbedenklichkeit im Umgang mit den Reliquien zu beobachten. Trotz gelegentlicher Kritik wird im späteren Mittelalter die Körperteilung immer unbefangener praktiziert; ganze Gliedmaßen werden abgetrennt, und es kommt zu gesonderten Eingeweide-Bestattungen. Diese allgemeine Tendenz spiegelt sich auch in der Ausgestaltung der Reliquienbehälter, die sich vom "geschlossenen" Typus über das "redende" Abbild des eingefassten Körperteils bis hin zum transparenten Schaureliquiar entwickeln. Zwar bleibt das ursprüngliche Spannungsverhältnis zwischen Teilungspraxis und Integritätsideal stets präsent; das Postulat der körperlichen Unversehrtheit verlagert sich jedoch - im Vorgriff auf die endzeitliche Wiederherstellung - mehr und mehr auf die Ebene des Symbolischen.

Zu Beginn der zweiten Sektion, die von Prof. Dr. Rainer Walz geleitet wurde, sprach Prof. Dr. Linda-Marie Günther über das Thema "Der abgeschnittene Kopf - ein griechisch-hellenistischer Tyrannentopos?". Dabei zeigte sie zunächst auf, dass alttestamentliche Berichte über Kopftrophäen (etwa die Enthauptung Goliaths durch David!) keine "altjüdische" Sitte darstellen - trotz einiger durch Flavius Josephus überlieferter Beispiele. Vielmehr sind sie wohl als (nach-)makkabäische Ergänzungen aus hellenistischer Zeit zu sehen, wobei der Ursprung dieses Brauchs offenbar im orientalischen Raum liegt. In der griechischen Literatur wird bereits bei Herodot diese Schändung des Toten als typisch barbarisch-despotischer Akt greifbar, der sich für einen Griechen nicht geziemt. Im Kontext des römischen Bürgerkriegs dienen Berichte über die Misshandlung der Körper getöteter (prominenter) Feinde dann der Disqualifikation der Täter (so etwa die Schändung des Leichnams des Cicero durch Marcus Antonius) als Despoten. Auch bei der bekannten Bibelepisode der Enthauptung Johannes' d. Täufers steht weniger die Dekapitation als Hinrichtungsform, sondern vielmehr die Überlassung des Körperteils an Dritte (der Salome bzw. der Herodias) und die Verweigerung der ordnungsgemäßen Bestattung im Mittelpunkt. Der Akt ist dabei allerdings nicht als zusätzliche Strafe gegen den Toten, sondern als Machtbeweis des Täters - ohne religiöse Dimension - zu sehen, in dem sich den antiken Autoren freilich die Hybris der Täter bewies.

In leichter Abänderung des angekündigten Titels sprach Prof. Dr. Berndt Schildt (Bochum) über "Todesstrafen und Phantasiestrafen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit". Zunächst legte er dar, wie sich im späten Mittelalter ein neues Verständnis von Unrechtstaten herausbildete: Den Missetäter zu verfolgen, war nicht mehr alleinige Sache des Geschädigten oder seiner Angehörigen, sondern Anliegen der gesamten Rechtsgemeinschaft. Auch der Vollzug verhängter Todesstrafen oblag damit nicht mehr dem Geschädigten selbst, sondern einem Vertreter der öffentlichen Gewalt. Dabei wurde häufig die Exekution als "spiegelnde Strafe" inszeniert, was teils durch das Talionsprinzip bedingt war (Brandstifter wurden verbrannt, Geldfälscher gesotten), teils aber auch dem Präventionsgedanken folgte (der Meineidige verlor die Schwurhand). Für bestimmte Delikte sahen die ländlichen Rechtsquellen besonders grausame Strafen vor: Das Verrücken von Grenzsteinen wurde mit dem Abpflügen des Kopfes geahndet, das Abrinden von Bäumen mit Ausdärmen. Es ist sehr fraglich, ob solche Strafen jemals vollzogen wurden; in den chronikalischen Aufzeichnungen jedenfalls fehlt jeder Hinweis. Daneben fällt auf, dass andere Deliktformen wie etwa Holzdiebstahl wesentlich milder sanktioniert wurden. Vielleicht ist daher bei den Phantasiestrafen mit einem magischen Hintergrund zu rechnen; im Vordergrund aber dürfte ihre abschreckende Wirkung gestanden haben.

Dr. Dieter Scheler (Bochum) referierte über Beisetzungen "In ungeweihter Erde: Die Verweigerung des Begräbnisses im Mittelalter". Dabei betonte er den herausragenden Wert des "Corpus Iuris Canonici" als Quelle für das kirchliche Alltagsleben. Seit dem 11. Jahrhundert ist in Konzilsbeschlüssen und Dekretalen eine Tendenz erkennbar, die Begräbnisverweigerung auf neue Deliktformen wie die Verweigerung des Zehnten (Lateranense III) und die Nichterfüllung der Osterpflicht (Lateranense IV) auszudehnen. Auch in den Exkommunikationsformeln wurde die Konsequenz der Begräbnisverweigerung zunehmend drastischer ausformuliert. Zumindest teilweise aber ging die Bestattung in ungeweihter Erde auf vorchristliche Traditionen zurück; insbesondere scheint die Anschauung verbreitet gewesen zu sein, die vorzeitig Gestorbenen (ungetaufte Kinder, Hingerichtete, Selbstmörder) seien aufgrund ihrer überschüssigen Lebenskraft als potentielle Wiedergänger zu fürchten. Aus der Virulenz magischer Vorstellungen ergab sich eine doppelte Anwendbarkeit der Begräbnisverweigerung, die sowohl nach kirchlichem wie auch nach weltlichem Recht als Strafe verhängt werden konnte.

PD Dr. Mischa Meier (Bonn) widmete sich in seinem Vortrag "Ruhelose und Unbestattete. Zum Phänomen der Wiedergänger in der Antike" mit den griechisch-römischen Gruselgeschichten einem Bereich, der im Altertum keine eigene literarische Gattung darstellte und in der Forschung bisher kaum behandelt worden ist. Sein Schwerpunkt lag dabei auf einer möglichen Instrumentalisierung dieser Geschichten als Kommunikationsmittel. In diesen Erzählungen erscheinen neben diversen Monstren auch Tote, denen in vormodernen Gesellschaften häufig die Fähigkeit zugesprochen wurde, weiterhin an der Gemeinschaft der Lebenden teilhaben und aus verschiedenster Motivation (etwa Wunsch nach Bestattung) Einfluss (z.B. Warnungen) auf sie ausüben zu können. Nach einer Abhandlung der äußerst unscharfen antiken Definition von Geistern, die in der Antike zwischen Menschen und Göttern standen, stellte Meier die Möglichkeit vor, durch diese Geschichten Konzepte von politischer Ordnung und sozialen Normen zu vermitteln. Anhand mehrerer Geschichten zeigte er dabei die öffentliche Dimension solcher zunächst unerklärlicher und mit potentieller Gefahr behafteter Geschehnisse auf, die nur im Rahmen der Bürgerversammlung zu lösen waren. Einen weiteren Aspekt dieser Berichte sah Meier in der Behandlung der in der antiken Literatur prominenten Frage nach "Wahrheit und Lüge" - so etwa in Lukians 'Lügenfreunden' - da sie aufgrund der Allgegenwärtigkeit der Götter, die sich in den verschiedensten Formen manifestieren konnten, nicht per se unglaubwürdig waren.

Resümee

Die Tagung zeigte eine große Bandbreite des Umgangs mit dem toten (Unruh, Günther), bzw. dem beigesetzten Körper (Kleine), mit den Grabstätten (Strothmann, Czock), sowie auch mit dem Tod an sich und der Sicherung der Fürbitte der Heiligen (Kloft) und außerdem die den Verstorbenen zugesprochene magische Macht (Meier). Eine weitere Dimension des Todes, die sich im Lauf der Tagung zeigte, war die soziale Komponente der ordnungsgemäßen Beisetzung für die Angehörigen (Scheler) und im Gegenzug die mit einer schändlichen Hinrichtung verbundene Ächtung (Schildt). Die Möglichkeiten interdisziplinären Arbeitens zeigten auch die Beiträge von Czock und Unruh; Meier wies außerdem auf die fundamentale Bedeutung der Sprache hin. Aus den verschiedenen Vorträgen folgte die Notwendigkeit einer möglichst präzisen begrifflichen Fassung der Phänomene, die dem Vorstellungshorizont, der sich für uns fassbar primär in der Sprache niederschlägt, der jeweiligen Zeit und dem Kulturkreis gerecht wird.


© Oberweis / Michels
Magazin für Theologie und Ästhetik 30/2004
https://www.theomag.de/30/om1.htm