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Magazin für Theologie und Ästhetik


White Cube X

Feuilleton. Von Ingo Gerken

Karin Wendt

Wo man hinspuckt, da keimt es. (M. Frisch, Homo faber)
Konkrete Räume

Was heißt es, einen Standpunkt zu beziehen? Von wo aus beziehen wir uns, und worauf beziehen wir uns dabei? Dies ist das Thema einer Installation des in Kiel und Berlin lebenden Künstlers Ingo Gerken (*1971) im Förderverein Aktuelle Kunst in Münster. Am Boden des Ausstellungsraums hat Gerken einen möglichen Standort des Besuchers mit einer Sandale markiert, von der aus rote Bänder den Raum in unterschiedliche Richtungen durchziehen. Folgt man den Linien, so trifft der Blick auf verschiedene Szenarien: eine gemalte schwarze Mauer, hinter der sich scheinbar in weiter Entfernung eine Industriearchitektur erhebt, das Plakat einer Gruppenausstellung von Gegenwartskünstlern, zwei ungegenständliche Motive, die sich als herausgelöste Vergrößerungen des Plakatmotivs identifizieren lassen, und am Boden ein hochkant schräg in den Raum gestelltes Brett. Mit jedem Blick verschiebt sich der Horizont: der Raum entgrenzt sich tiefenräumlich, er verliert an Statik und beginnt zu schwingen, fast zu rotieren, er weitet sich zeitlich und er lädt sich referentiell auf. Der Ort, an dem man steht, wird zum wandernden Punkt, der Umraum spaltet sich in teils kohärente, teils widersprüchliche Dimensionen.

Ingo Gerken schreibt zu seiner Kunst: "Meine Arbeiten verstehen sich als Interventionen und skulpturale Gesten in einem institutionellen und sozialen Raum. Sie spielen mit Architektur, Atmosphäre und Anspruch." In der Tat durchlebt man die unterschiedlichen Weisen, räumlich Bedeutung wahrzunehmen. Gerkens Arbeit überzeugt, weil sie den realen Raum durchläuft, durchstreift, durchzieht. Die Bezüge erscheinen hierbei nicht als abstrakt dargestellte, sondern sie entfalten jeweils einen sehr konkreten Sog, der den Raum mehr und mehr energetisch verdichtet. Vorhandene Elemente wie Heizkörper und Steckdosen, aber auch die Proportionierung des Raumes selbst, die Abfolge der Fenster, die Maße der Tür und die Deckenhöhe werden zu variablen Anhaltspunkten der eigenen Verortung.

Politische Räume

Gerke nennt seine Installation "Feuilleton". Wie sich eine Zeitung aufblättert und immer neue Einsichten gibt, so öffnet sich bei Gerken der Raum nach innen in immer neue Räume: es sind die mehrperspektivischen Räume der Konstruktivisten, es ist das Plakat als Informationsraum, das Farbfeld als phänomenaler Raum, das Kunstwerk als autonomer Raum. Als Feuilleton bezeichnen wir jedoch auch Reden und Schreiben über Kunst und Kultur, einen unpolitischen Kommentarstil, der selbst keine Grenzen kennt. Befragt man von hier aus noch einmal Gerkens Intervention, so lässt sie sich auch als Frage nach den ästhetischen Implementierungen im sozialen Raum deuten. Politisch sind Räume, insofern sie von verschiedenen Individuen durchkreuzt, gedeutet und vereinnahmt werden. Der Raum will behauptet werden. Das ästhetische Verhältnis zum Raum zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass es gerade niemandem und damit auch keiner Deutung den Vorrang gibt. Im ästhetisch geborgenen Raum durchkreuzen, überlagern und durchdringen sich daher unendlich viele Bedeutungen. Wie, könnte man weiter fragen, spielt dies aber zusammen mit dem Raum, den Kunst damit wiederum selbst für sich behauptet, mit dem eigenen künstlerischen Anspruch, ausschließlich über Formen und nicht über Inhalte zu sprechen? Wie kann man schließlich dem Gerede über Kunst, der Betriebsamkeit, dem nur noch Stil Gewordenen ästhetisch begegnen? Diese Kreuzungspunkte, scheint mir, interessieren Gerken und er versucht sie, für die Kunst sichtbar zu machen. Damit stellt er sich selbst in die Tradition der Moderne, die das Konkrete als den Anfang und das Ende von Kunst zugleich markierte. Und er stellt sich der Moderne, indem er nach einem eigenen Standpunkt in diesem Dilemma sucht. Vielleicht lässt sich Gerkes Kommentar so als Versuch der Reformulierung einer ästhetischen Frage-Stellung verstehen. Um einen Standpunkt einzunehmen, müssen wir zunächst eine Frage formulieren können. Aber auch umgekehrt gilt: mit jeder Frage, die wir stellen, beziehen wir Position. Es ist jedoch immer eine offene Position, die sich ihrerseits zur Disposition stellt, die verschiedene Antworten zulassen muss, um den Raum in Bewegung zu halten.

Die Einladungskarte zur Ausstellung zeigt eine andere Arbeit von Gerken: "Sunset (feat. Josef Albers)". Zu sehen sind zwei Menschen in einer modernen städtischen Umgebung. Hinein gehalten ist eine Postkarte mit einem Bild von Josef Albers' "Hommage to the square". Wie eine künstliche Sonne wird sie vor den Himmel gehalten. Diese ironische Montage entlarvt die Vorstellung eines eindimensionalen Zusammenhangs zwischen Kunst und Leben als Fälschung. Die Wirklichkeit ist weder flach noch tief, weder natürlich noch künstlich, sondern komplex verschachtelt, weil wir Teil davon sind.

Die Ausstellung ist vom 19. März bis zum 9. April 2004 im Förderverein Aktuelle Kunst im Ausstellungsraum Zweite Zeit zu sehen. www.foerdervereinaktuellekunst.de


© Karin Wendt 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 28/2004
https://www.theomag.de/28/kw33.htm