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Magazin für Theologie und Ästhetik


Carbon

Simon Starling

Karin Wendt

Gelebtes Leben

"Starling ist ein Geschichtenerzähler. Seine Installationen, Objekte und Fotos bergen weitgespannte Bezüge, durch die Dinge, Orte, Materialien und kulturelle Codes in präzise verflochtenen Zeichenketten zusammenhängen. ... So bestehen seine Werke neben einem Exponat auch aus der Geschichte, die zu dessen Herstellung führte, und die dann vom Betrachter wieder aufzulösen ist. Immer liegt darin bereits ein Kreis beschlossen, ein Bezugsfeld, das durchlaufen wurde und das im daraus hervorgegangenen Objekt wie ein Subtext anwesend ist. Was es zu sehen gibt, sieht man erst als Resultat." (Jens Asthoff)

Simon Starling gehört zu einer jungen Generation konzeptuell offen arbeitender Künstler, die sich mit dem dichten Zeichenvokabular der Moderne und dessen Durchdringung unserer Lebenswelt auseinandersetzen. 1967 in Epsom geboren, studierte Starling zuletzt an der Glasgow School of Art. In vielen Ausstellungen hat er seitdem komplexe künstlerische Bearbeitungen von gesellschaftlichen und ästhetischen Fragestellungen geschaffen, zuletzt 2002 im schottischen Dundee Contemporary Arts und im Portikus in Frankfurt.

Das Leben ist kein Gegenstand unserer Erfahrung. Gegenstände prägen jedoch unser Verständnis und unsere Auffassung davon, was es heißt zu leben. Simon Starling interessiert sich für diese zu Gegenständen gewordene (einstige) Gegenwart. Dinge, Materialien oder Ideen dienen ihm gleichsam als vergegenständlichte Erfahrungs-Werte. Mehr oder weniger prägnant verkörpern sie die Produktionsbedingungen, die Ästhetik oder die Ideologie einer bestimmten Zeit. Indem er sie neu und ungewohnt kombiniert, macht er die darin beschlossene Prozessualität sichtbar und wieder erfahrbar. Ihn leitet dabei die Frage, wodurch etwas zu einem Kulturgegenstand geworden ist, also zu etwas, an dem wir kulturell Bedeutendes oder Fragwürdiges erfahren - nicht zuletzt unsere eigene (humane) Kultur. So baute er etwa in der Arbeit Blue Boat Black (1997) aus dem Holz einer Museumsvitrine ein französisches Fischerboot nach, grillte anschließend den Fischfang mit eben diesem Holz, um die verkohlten Reste mit einer genauen Aufschlüsselung ihrer Geschichte (vielleicht auch nur ihrer erfundenen Geschichte) erneut in einem Museum auszustellen. Dabei geht es ihm nicht primär um die Umwandlung, sondern darum dass wir als Betrachter die "Rückführung dieses 'performativen' Werkes in den institutionellen Kontext" erfahren. "Die Vitrine, die ursprünglich dazu diente, Kulturgüter zu zeigen und zu schützen, kommt über Umwege zurück ins Museum, um dort selbst zum Kultobjekt und Träger von Bedeutung zu werden." (Simon Starling)

Modernes Leben

Die Moderne hat den dynamischen Zusammenhang von Erfahrung und Verdinglichung erstmals präzise gesehen und als Konflikt zwischen Form und Inhalt produktiv gemacht. Als solche ist sie selbst zum Spiegel der widersprüchlichen Beziehungen zwischen Innovation und Ideologie geworden. Auf die Frage, was die Moderne für ihn bedeutet, antwortete Starling: "Die Moderne hat meiner Meinung nach ebensoviel mit sozialem und wirtschaftlichem Wandel zu tun wie mit Ästhetik. Ästhetische Veränderungen kamen in der Vergangenheit häufig Hand in Hand mit dem Bedürfnis nach einem fundamentalen sozialen Wandel; in gewissem Sinn sind sie ein Abbild dieses Bedürfnisses. Es geht darum, Klarheit zu erlangen, die Fassade einzureißen. Dabei interessiert mich die Ideologie mit all ihren Makeln ebenso sehr wie die ästhetische Manifestation dieser Ideologie."[1]

Ende des 19. Jahrhunderts entwarf der dänische Designer Mikael Pedersen im Rückgriff auf zeitgenössische Brückenkonstruktionen ein Fahrrad mit dreieckig geformten Rahmen aus Carbon - ein synthetisches Material aus Kohlenstofffasern, besonders leicht und zugleich stark belastbar. Die Fahrgeschwindigkeit wurde so erheblich gesteigert und Radfahren zum Bestandteil des modernen Lebens.

Diesen Klassiker der Freizeitindustrie inszeniert Simon Starling in der Ausstellungshalle Am Hawerkamp in Münster zweifach: Er stellt das Fahrrad frei, mit Nutzholz auf dem Gepäckträger und dem Motor einer Kettensäge frisiert, und er integriert es in ein Überlebenscamp: am Rande eines gefällten Baums liegt das Fahrrad am Boden neben einer Feuerstelle, zerlegt und in Teilen für den Bau von Zelt und Campinghocker verwendet. Zwei Szenarien, die den Impuls der Moderne als Bewegung aufgreifen und zugleich als Scheitern - genauer als Bewegung im Scheitern - verdeutlichen.

In der gedanklichen Verknüpfung geraten die beiden Szenarien in Bewegung: Das Motor-Rad erscheint nicht nur als Symbol des modernen Fortschrittsgedankens, sondern auch als Zeichen einer leerlaufenden Bewegung, das Überlebenscamp dokumentiert nicht nur das Scheitern dieser Unternehmung, sondern vielleicht auch ihre freiwillige Unterbrechung, den Versuch einer Umwandlung von zirkulärer Bewegung in eine nomadische Struktur. Immer unklarer wird, wie und ob beide Situationen überhaupt auseinander folgen.

"Das Leben lässt sich als Kohlenstoffkreislauf erläutern, es wird durch die Organismen in Gang gehalten", so ein Lexikoneintrag zum Element Carbon. Wenn wir vom Leben als Nährstoffkreislauf sprechen, vergegenständlichen wir Einzelerfahrungen, um bestimmte Funktionszusammenhänge für unser Überleben zu nutzen. Starling geht diesen Erkenntnis-Weg gleichsam rückwärts und nimmt uns mit: Carbon - Kohlenstoff - liegt organisch gebunden im Holz des Baums vor, Kohlenstoff bleibt übrig als verbrannte Kohle, und Kohlenstoffdioxid wird durch den Motor am Fahrrad frei, der gleiche Motor, mit dem im Lager die Säge für das Schneiden von Brennholz betrieben wird. Der Erfindungs-Wert des Fahrrads wird so als zirkulare Verknüpfung von ganz unterschiedlichen Erfahrungen sichtbar. Carbon setzt einen Kreislauf in Gang, der kein in sich geschlossenes Beschreibungsmodell des Lebens liefert, sondern eine offene, teils widersprüchliche Erzählung davon, dass und wie wir leben (wollen). Die Stärke der Inszenierung liegt dabei in der unverstellten Offenlegung von brüchigen Übergängen bzw. Brüchen oder Lücken in den Übergängen. Erst und gerade als derart konstruierte Verknüpfungen offenbart sich die scheinbar "natürliche" Plausibilität solcher Prozesse.

Gemachtes Leben

Für seine Arbeit hat Starling alle Ein- und Zwischenbauten der Ausstellungshalle entfernen lassen, so dass sie wieder deutlicher als Zweckbau der ehemaligen Kühl- und Lagerhalle erscheint. Blaue Folien vor den Fenstern filtern das einfallende Licht, man ist in ein Zwielicht getaucht wie während der Dämmerung - die Zeit, in der nachtaktive Tiere ihren Flug beginnen, die Zeit, die die Antike daher mit der Suche nach Erkenntnis verknüpfte, und in Kulturtheorien die Zeit, in der eine Kultur beginnt, von sich selbst als einer anderen Kultur zu träumen. Die Arbeit ist damit auch ein Reflex auf die derzeitige Stadtentwicklung am Hawerkamp. Die kulturelle Nutzung von stillgelegten Industrieflächen ist nie nur die harmlose Wiederverwertung von freigewordenem Raum, sondern sie ist immer auch eine zeitgenössische Strategie des Verdrängens. Von hier aus gewinnt Starlings Formulierung von zwei gegenüber gestellten "Überlebenssystemen" noch einmal besondere Schärfe. Gegen die gedanklichen Sackgassen 'Überleben im System' oder 'Überleben durch das System' setzt er mit seiner Arbeit Carbon den Versuch einer Zerlegung des Systems - er entwirft andere Perspektiven zu seiner Analyse.

Simon Starling. Carbon

08.03. - 27.04.2003 - Städtische Ausstellungshalle Am Hawerkamp 22, 48155 Münster

Geöffnet Do - Fr. 16-20 Uhr und Sa-So 12-18 Uhr

Anmerkungen
  1. Free from stain and polish. Ein Gespräch zwischen Simon Starling, Stefanie Sembill und Jan Winkelmann http://www.jnwnklmnn.de/starling.htm

© Karin Wendt 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 22/2003
https://www.theomag.de/22/kw21.htm