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Magazin für Theologie und Ästhetik


Fern-Sehen!

Eine Rezension

Jörg Herrmann

Die Literatur über Fernsehen ist kaum überschaubar. So gut wie alle kulturwissenschaftlichen Disziplinen einschließlich der Kommunikations- und Medienwissenschaften haben sich mit dem Phänomen Fernsehen auseinandergesetzt. Was fehlt, sind - insbesondere im deutschsprachigen Raum - plausible Zusammenführungen der vielen Perspektiven und Ergebnisse. Dieses Defizit greift die Habilitationsschrift des Potsdamer Medienwissenschaftlers LOTHAR MIKOS auf. Sie will "Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens", so der Untertitel, zusammentragen. Dabei orientiert sie sich an der Medienforschung der Cultural Studies, nimmt darüber hinaus aber auf eine Vielzahl von Theorietraditionen Bezug - allein schon die Breite ihrer Wahrnehmung und Verarbeitung beeindruckt. Das Neue an MIKOS interdisziplinärem Versuch zur Systematisierung des Fernsehdiskurses ist die Anwendung rezeptionsästhetischer Konzepte auf das Fernsehen. Diese ursprünglich im Kontext der Literaturwissenschaften entwickelten (textorientierten!) Ansätze sollen helfen, die Beziehung zwischen Fernsehtexten und Zuschauern besser zu verstehen.

MIKOS deutet das Fernsehen zunächst in kultursoziologischer Optik als kulturelles Forum, das immer noch so etwas wie eine "Gesamtöffentlichkeit" der Gesellschaft herstellt. Die Angebote der Fernsehtexte werden von den Zuschauern im Rahmen ihrer selbstdeutenden Sinnorientierungs- und Identitätskonstruktionspraxis genutzt, aber auch zur Alltagsstrukturierung und zur alltagsentlastenden Illusionierung verwendet.

Im Mittelpunkt der in diesen medienkulturellen Rahmen eingezeichneten Beschreibung "rezeptionsästhetischer Aspekte der Fernsehkommunikation" steht die Text-Zuschauer-Interaktion. MIKOS fasst sie als reziproken Prozess, in dessen Verlauf aus der Begegnung eines die Zuschaueraktivitäten vorstrukturierenden und zugleich zum Zuschauer hin geöffneten Fernsehtextes mit einem in anderer Weise ebenfalls vorgeprägten Zuschauer ein rezipierter Text entsteht (S. 71f.). Dieser Prozess hat kognitive und emotionale Elemente. Analog zur sozialen Kommunikation kann er auch als parasoziale Interaktion bzw. Beziehung beschrieben werden, bei der sich Phasen der Involviertheit und der Distanzierung abwechseln. Von Aneignung spricht MIKOS erst, wenn der rezipierte Text zum Bestandteil der weiteren Interaktionen und Handlungen im Alltag des Zuschauers wird.

Motiviert werden Rezeption und Aneignung von den bewussten und unbewussten Wünschen und Bedürfnissen des Zuschauers: von seinen subjektiven Relevanzstrukturen. Im Blick auf die Wünsche betont MIKOS, dass die Fernsehrezeption immerhin eine symbolische Befriedigung ermögliche (S. 91). Diese Funktion teile das Fernsehen mit der Populärkultur (und der Religion!). Dabei konvergieren die schon szenisch-visuell im Subjekt vorhandenen Wunschbilder mit entsprechenden Fernsehbildern.

Die die Rezeption bestimmenden subjektiven Relevanzstrukturen sind, hier kommen Konzepte der Cultural Studies ins Spiel, mehr oder weniger von den Sichtweisen der Interpretationsgemeinschaften geprägt, denen die Rezipienten angehören. Diese Gemeinschaften wiederum, das zeigt die Fan-Kultur, bilden ihre Gruppenidentitäten unter Bezugnahme auf Medientexte aus - wie auch die individuelle Identitätsarbeit auf Fernsehtexte als oftmals einziger sozial geteilter symbolischer Welt angewiesen ist.

Auf das Fernsehen als Bilder-Medium geht MIKOS erstmals (auf S. 184!) im fünften Kapitel ("Fernsehen als Text") etwas ausführlicher ein. Dies geschieht in Anknüpfung an SUSANNE LANGERS Konzept der präsentativen Symbolik - jedoch ohne weitere Bezüge zu aktuellen Bildtheorien und zum Ästhetik-Diskurs herzustellen. Auch die kursorische Behandlung von Fragen der Ästhetik und des Vergnügens im 15-seitigen Schlusskapitel ("Bausteine einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens") kann dieser etwas mageren Behandlung des Ästhetischen nicht recht abhelfen, schon gar nicht die vom Titel (jedenfalls beim Verf.) geweckte Erwartung einlösen, MIKOS ginge es um eine die Visualität des Fernsehens wesentlich berücksichtigende Fernsehrezeptionsästhetik. Möglicherweise kann ein rezeptionsästhetischer Ansatz dazu beitragen, "die Interaktion zwischen Text und Zuschauer genauer zu beschreiben" (S. 286). In welcher Hinsicht er dabei über die Konzepte der Cultural Studies hinausführen könnte, wird nur in Ansätzen deutlich. Die von MIKOS als Vorteil der rezeptionsästhetischen Perspektive genannte Bezogenheit von Textanalyse und Rezeptionsanalyse ist jedenfalls innerhalb der Cultural Studies längst Praxis.

Nicht alle Fragen werden beantwortet, nicht alle Verbindungen sind schon hergestellt. Das Theoriegebäude ist keineswegs fertig. Doch die notwendigen Bausteine scheinen mir weitgehend (aus dem Bereich des Ästhetischen könnten noch einige hinzukommen) zusammengetragen und die schwierige Arbeit am Gebäude einer interdisziplinären Theorie des Fernsehens ist hilfreich begonnen.

Im Unterschied zu einigen anderen Autoren des Mediendiskurses verfügt MIKOS dabei über die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen. Das macht es leichter, anzuknüpfen und den Bau voranzutreiben.


LOTHAR MIKOS: Fern-Sehen. Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens. Habil-Schrift. Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft. Eine Schriftenreihe mit der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg, Bd. 57. Berlin: Vistas 2001, 333 S., 20 Euro, ISBN 3-89158-308-7


© Jörg Herrmann 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 22/2003
https://www.theomag.de/22/jh6.htm

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Lothar Mikos. Fern-Sehen. Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens. Berlin 2001