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Magazin für Theologie und Ästhetik


Jom Kippur und Mitmenschlichkeit

Hermann Cohens kantianischer Monotheismus

Micha Brumlik

Man hat sich seit der linguistischen Wende in der Philosophie, sowohl in angelsächsischen Literatur, insbesondere aber in deren deutschsprachiger Rezeption, zumal bei Karl Otto Apel und Jürgen Habermas pauschal daran gewöhnt, alle nicht linguistisch transformierte Philosophie eines wenn schon nicht materialen, so doch mindestens methodischen Solipsismus zu zeihen. Von diesem Verdikt ausgenommen waren allenfalls die existenzphilosophisch angelegten Dialogphilosophien der zwanziger Jahre, von denen Martin Bubers "Ich und Du" nur die populärste ist. Noch in Michael Theunissens Studie über den "Anderen" und die Sozialontologie der Gegenwart geht es darum, einen Absolutheitsanspruch der Transzendentalphilosophie abzuwehren und darauf hinzuweisen, dass auch und gerade Husserls Intersubjektivitätsphilosophie zwar für die Gestalt des Anderen Raum lasse, die subjektkonstituierende Rolle des Anderen indes unterschlage. Umgekehrt verpasse die existenzielle Dialogphilosophie eine theoretische Grundierung ihrer Überlegungen und verbleibe bei einem Aufruf existenzieller Praxis. Der Philosoph Hermann Cohen spielt in Theunissens Studien allenfalls die Funktion einer anregenden Vorläufergestalt, bleibt aber in seiner eigenen, konstitutiven Bedeutung für die Entfaltung einer Intersubjektivitätsphilosophie unterbelichtet, obwohl doch gerade Cohen die angezielte Verbindung einer transzendentalen Intersubjektivitätsphilosophie als erster umrissen haben dürfte - und zwar auf der Basis des Neukantianismus.

Die originelle Leistung Cohens bei der Begründung einer Intersubjektivitätsphilosophie besteht nun darin, nicht - wie das in Transzendentalphilosophie und Phänomenologie der Fall gewesen ist - mit einer epistemologischen, sondern mit einer moralphilosophischen Argumentation einzusetzen, genauer gesagt mit einer praktischen Philosophie, die die Grundgedanken Kants aufnimmt und sie nun explizit gegen zwei nicht notwendig einander implizierende, aber tatsächlich miteinander verbundene Doktrinen seiner Gegenwart wendet, gegen einen ontologischen Materialismus und einen ethischen Eudämonismus. Dabei setzt Cohen durchaus bewusstseinsphilosophisch ein: die von ihm postulierte Religion der Vernunft sieht die Religion als Funktion eines freien, spontanen Bewusstseins als des Vermögens der Gesetze, die der Anfang allen menschlichen Bewusstseins sei. Mit dieser Setzung (S.8), die offenbar nicht nur geltungsbezogen, sondern material gemeint ist, gewinnt Cohen den Boden, von dem aus er ebenso ontologischen Materialismus und Eudämonismus als unvernünftig kritisieren kann:

"Die Vernunft ist das Organ der Gesetze. Die Religion der Vernunft tritt demgemäss unter das Licht der Gesetzlichkeit. Alle Zufälligkeit, alle Willkür, alle Illusionen, die mit der bloßen Tatsächlichkeit einer geschichtlichen Erscheinung verknüpft sind, werden vor diesem Lichte als Schatten zerstreut. Die Ursprünglichkeit, die wir bisher nur als eine geschichtliche geltend gemacht hatten, erscheint nunmehr über die Grenzen aller Geschichte hinaus begründet, die Gesetzlichkeit wird zum Grunde der Ursprünglichkeit. Und es kann keinen festeren, keinen tieferen Grund geben, als welchen die Gesetzlichkeit bildet. Auch die Ursprünglichkeit hat nicht die Gewähr einer letzten Lösung, die allein in der Gesetzlichkeit gelegen ist."(12)

Eine Religion der Vernunft hat propädeutisch beide Begriffe zu klären, den der Vernunft und den der Religion. Da nach Maßgabe von Cohens Bestimmung der Vernunft diese nicht historisch verfahren kann und also ihren Begriff nicht in den Quellen aufsuchen kann, ist ihr Begriff systematisch zu klären. Dabei tun sich unerwartete Schwierigkeiten auf, die die Lösung der gestellten Aufgabe bedrohen:

Wird die Religion - wie dies in der Tradition der Aufklärung üblich war - lediglich als ein Teil der Ethik verstanden, wäre die gestellte Aufgabe, die Religion als Religion vernünftig zu entfalten, fehlgeschlagen. Würde andererseits gezeigt, auch so die Tradition der Aufklärung, dass es die Ethik alleine nicht vermag, eine umfassende Lehre vom Menschen zu geben, so wäre der Anspruch vernünftiger Begründung preisgegeben: "Und es darf nicht die methodische Möglichkeit zugestanden werden, dass die Ethik ihre Selbständigkeit in der Erkenntnis des Menschen mit einer anderen Erkenntnisweise teilen und gleichsetzen könne."(15)

Cohen muß sich an diesem Punkt der Argumentation eingestehen, mit einer rein methodologischen Erörterung nicht weiter zu kommen und setzt daher ein zweites Mal, nun material aus der Perspektive eines methodologischen Humanismus ein.

Inhalt und Konsequenz aller Ethik sei es - und hier argumentiert Cohen offensichtlich normativ und nicht historisch, das Ich des Menschen der Individualität zu entreißen und es ihm in geläuterter Form zurückzuerstatten. Das Ich, von dem die Ethik spricht, ist das Ich der Menschheit, in der erst die Objektivierung des Menschen möglich wird. Ohne diese Objektivierung indes sei der Mensch nur sinnliches, aber noch kein geschichtliches Individuum. Erst eine methodische, und das heißt in diesem Fall ethische Betrachtung soll es ermöglichen, den Mensch zu objektivieren: "Die Ethik kann den Menschen nur allerdings nur als Menschheit erkennen und anerkennen. Auch als Individuum - hier bewegt sich Cohen streng auf Kants Pfaden - "kann er nur Träger der Menschheit sein."(15)

Cohen weiß, dass er mit derartigen Postulaten nicht im, luftleeren Raum bleibt, sondern in Dialog mit einer Sozialphilosophie tritt, die von Hegel inspiriert, die Vermittlung zwischen sinnlichem Ich und sittlicher Idee der Menschheit im Staat sieht. Die Kritik des Staates, so haben wir gelernt, beginnt mit Marx und endet mit Franz Rosenzweigs, Cohens Schülers Buch über Hegel und den Staat - in nuce finden sich jedenfalls Rosenzweigs Einwände bereits bei Cohen, wenn er darauf besteht, neben der Vermittlungsinstanz des Staates , noch die Vermittlung zwischenmenschlicher Sozialität für wesentlich zu erklären. Die Einsichten, genauer die Fragen, die sich Cohen hier zu stellen genötigt sieht, antizipieren in nuce alle Probleme, mit der etwa die phänomenologische Theorie der Intersubjektivität zu kämpfen hatte:

"Neben dem Ich erhebt sich, und zwar im Unterschied zum Es, der Er: ist er nur das andere Beispiel vom Ich, dessen Gedanke daher durch das Ich schon mitgesetzt wäre? Die Sprache schon schützt vor diesem Irrtum: sie setzt vor das Er das Du. Ist auch das Du nur ein anderes Beispiel für das Ich und bedürfte es nicht einer eigenen Entdeckung des Du, auch wenn ich bereits meines Ich gewahr geworden bin? Vielleicht" so fragt Cohen vorsichtig "verhält es sich umgekehrt, dass erst das Du, die Entdeckung des Du mich selbst auch zum Bewußtsein meines Ich, zur sittlichen Erkenntnis meines Ich zu bringen vermöchte." (17)

In dieser eher beiläufig wirkenden Passage sind sämtliche Probleme und Lösungsversuche der Philosophie der Intersubjektivität bis heute wie in einer Nuss-Schale enthalten. Unklar ist an dieser Stelle die Funktion der Sprache. Wird ihr hier die Funktion eines transzendentalen Rahmens zugesprochen oder lediglich die Rolle eines einer empirischen Verdeutlichung tiefer liegender Sachverhalte? Jedenfalls kritisiert Cohen die Sinnwidrigkeit von Argumenten, die der Semantik und Pragmatik der Umgangssprache widersprechen. Mit der Frage, ob die wahrgenommenen anderen und mit Personalpronomina bezeichneten Menschen lediglich ein "Fall" eben des Subjekts sind, das mit sich selbst vertraut ist, ist der Boden jeder idealistischen Position im klassischen Sinne, die noch wie Fichte, Schelling und Hegel von einer intimen Verbundenheit von individuellem Ich, transzendentalem Ich und kollektiven Formen von Subjektivität ausging, unwiderruflich verlassen. Das, was mit dem Personalpronomen "Er" bezeichnet werde, könne nicht, wenn man auf die richtige Verwendung der Umgangsprache achte, nicht lediglich als eine analytische Erweiterung dessen, worauf sich das Selbstbewusstsein bezieht, verstanden werden. Denn vor den er habe die Sprache das Du gesetzt, dessen ganze Bedeutung gerade darin bestehen muß, mehr und anderes zu sein, als das sich selbst verstehende Ich. Hier ist die Alterität des Anderen philosophiegeschichtlich erstmals ausgesprochen - eine Einsicht, die unmittelbar zu einer konstitutionstheoretischen Fragestellung führt und damit das bewusstseinsphilosophische Paradigma hinter sich löst. Wie ungeheuerlich diese Einsicht zu sein schien, wird schon daran deutlich, dass Cohen sie sich nur in Form einer Frage vorzulegen traut: "Vielleicht verhält es sich umgekehrt, dass erst das Du, die Entdeckung des Du mich selbst auch zum Bewußtsein meines Ich, zur sittlichen Erkenntnis meines Ich zu bringen vermöchte."(17)

Das sozialepistemologische Problem schlägt auffälligerweise sofort in eine ethische Fragestellung um, insofern Cohen das im Lichte des Du entdeckte, konstituierte Ich sofort als sittliches versteht. M.a.W.: Weder Reflexion noch Sprache entdecken die intersubjektive Konstitution der Menschheit lediglich als Faktum, sondern zugleich als motivierendes Argument. Eine intersubjektiv konstituierte Menschheit, so Cohen, ist zugleich eine auf sittlicher Basis konstituierte Menschheit. Diese Behauptung trägt die Intersubjektivitätsphilosophie von Levinas bis Habermas und Apel sei längerem vor, den zwingenden Nachweis, dass aus Intersubjektivität Moralität resultiere, zu führen, ist diesen Ansätzen jedenfalls nicht gelungen. Diese Problematik war Cohen von Anfang an schmerzlich bewusst:

"Man wende dagegen nicht ein, dass die Ethik, sofern sie den Menschen in der Geschichte des Menschengeschlechtes zur Aufgabe hat, unabwendbar auch die Mehrheit der Menschen und deren Gliederung sich zur Aufgabe machen muß. Denn dieser Einwand wird dadurch erledigt, dass die Aufgabe allerdings anerkannt wird: aber ihre Lösung erfolgt erst aus der Allheit heraus, und daher auch nur gemäß dieser Allheit." (17)

Die Lösung dieser Aufgabe, die mit rein philosophischen, erkenntniskritischen Mitteln nicht mehr zu bewältigen ist, schreibt Cohen nun der Religion zu, der damit ein eigenes, von der Ethik und ihren immanenten Vernunftgesetzlichkeiten autonome Funktion zugeschrieben wird: Nur in der Religion wird erläuterbar, inwiefern Intersubjektivität ein sittliches Phänomen ist. Zur Klärung dieses Phänomens fährt Cohen freilich nicht in der Erläuterung des Begriffs fort, sonder wendet sich zunächst ein weiteres Mal der Ich-Du Thematik zu, um die Frage zu behandeln, inwiefern sich die Ich-Er Beziehung von der Ich-Du Beziehung unterscheidet. Mit anderen Worten als heute üblich umschreibt Cohen die Ich-Er Beziehung wesentlich als die Beziehung, in der sich ein Ich aus einer Beobachterperspektive auf ein anderes Ich bezieht, in der folglich das Ich sich einem anderen Menschen gegenüber in "neutraler Objektivität" verhalte. Die reine Beobachterperspektive wird durch Einbeziehung eines somatischen Elements in der Wahrnehmung gewonnen: "Bleibt der Organismus mit seinem Stoffwechsel schlechthin indifferent für das Ich? (19) Mit der Verneinung dieser Frage gewinnt Cohen ein Phänomen, von dem aus sich das Wesen einer teilnehmenden Intersubjektivität verständlich machen lässt: das Mitleid. In Frage steht jetzt, ob nicht durch die Beobachtung des Leidens des Anderen dieser Andere sich aus einem Er in ein Du verwandele. Die Bejahung dieser Frage gebe der Religion ihr Recht, womit nicht weniger gezeigt wäre, als dass vernunftgemäße Religion und vernunftgemäß begriffene Intersubjektivität letztlich koextensiv sind. Erst die Aufnahme des Mitleids - so Cohens philosophiegeschichtliches Argument im Hinblick auf die Stoa - scheide Metaphysik von Ethik. Wenn die Erfahrung des Leidens metaphysisch und eben nicht im Hinblick auf das Mitleid, das den Blick auf das Leid anderer eröffnet, gefasst wird, zehre sie das Ganze des menschlichen Daseins auf und führe in einen weltverneinenden Pessimismus. Dass Cohen hier eine ebenso deutliche wie subtile, explizite Kritik an Arthur Schopenhauer übt, ist das Eine, dass es gerade die intersubjektivitätstheoretische Erfassung des Leidens als Anlass zum Mitleid ist, die dem metaphysischen Pessimismus ein letztes Argument entgegensetzen kann, das Andere. Metaphysik und Ethik werden so als Gegensatzpaar konstruiert: Ethik sei wesentlich Bejahung, Entwicklung und Erhöhung des menschlichen Daseins - eine bei dem Kantianer Cohen zunächst befremdlich wirkende strikt aristotelische Bestimmung. Sich mit dem eigenen, aber vorzugsweise mit dem Leiden anderer auseinander zusetzen, ist nicht von theoretischem Interesse. Insofern erschließt überhaupt erst das Mitleid das Ganze der menschlichen Existenz - freilich kommt alles darauf an, diese Form der Erschließung richtig zu fassen:

"Im Leiden geht mir plötzlich und unaufhaltsam ein grelles Licht auf über die Flecken an der Sonne des Lebens. Möchte die Einsicht über den Grund des Leidens mir immer dar verborgen bleiben: es ist gar kein theoretisches Interesse, welches durch diese Beobachtung in mir erregt wird. Es ist der ganze Sinn der Ethik, als der Lehre vom Menschen und vom Menschenwerte, an dem ich verzweifeln muß, wenn dieser Menschenwert sich vorzugsweise im Leiden ausmünzt. Der Sinn der Menschheit wird mir hinfällig, geschweige, dass ich überhaupt noch ein Interesse an meiner Selbstexistenz nehmen könnte." (21)

Die Erfahrung menschlichen Leidens, das ist Cohens feste Überzeugung, lässt sich theoretisch überhaupt nicht verarbeiten, während eine praktische Reaktion sofort ethisch, d.h. transsubjektiv wird. Es ist die Erfahrung des Mitleids, die den methodischen Solipsismus der reinen Welterkenntnis überschreiten lässt. Ist aber dieser Bann einmal übertreten, so findet sich das erfahrende Subjekt von der Vorstellung seiner Selbstkonstitution befreit und sieht sich als dem Anderen verdankt - jener Grenzpunkt, "an dem die Religion entsteht, an dem sie mit dem Leiden den Horizont des Menschen lichtet." (22)

Theoretisch gesehen muß damit die Religion die Funktion des Übergangs von der theoretischen zur praktischen Vernunft leisten und garantieren. Die spezifisch menschliche Erfahrung, die dem entspricht ist die nach Cohen nur in der biblischen Religion entstandene Lehre von der Sünde, auf die alle Religion zurückgehe. Spätestens hier wird zum ersten Mal die methodische Problematik jenes hermeneutischen Zirkels deutlich, innerhalb dessen Cohen sich bewegen will. Einerseits versucht er, den Begriff der Religion innerhalb einer Konstellation reiner Begriffe zu entfalten, andererseits kommt er nicht umhin, den Ursprung dieser Begriffe in spezifisch historischen Erfahrungen, hier dem der Sünde zu entfalten, spezifisch historische Erfahrungen die darüber hinaus noch an die Termini einer bestimmten partikularen Kultur, des biblischen Judentums gebunden sind. Während also einerseits die partikulare Tradition , nur die partikulare Tradition, eine bestimmte Form der Erfahrung vorgeben kann, vermag andererseits nur reine Vernunft diese Erfahrungen angemessen zu fassen und ihre systematische Bedeutung auszusprechen. Könnte diese reine Vernunft ihre Aufgabe erfüllen, bezöge sie sich nicht auf eine partikulare Kultur zurück? Hätte diese partikulare Kultur ihre Begriffe entwickeln können, hätten nicht in ihren Grenzen Menschen gelebt, die eben jenes Problem vor Augen hatten, an dem auch Cohen systematisch laboriert: wie nämlich der Sinn des menschlichen Lebens auch gegen die Erfahrung nicht weiter sinnhaften Leidens verteidigt werden kann. Der Zentralbegriff der Religion jedenfalls ist Gott, ein Begriff, der ebenfalls nicht aus einer theoretisch-wissenschaftlichen Beobachterperspektive, aber auch nicht metaphysisch verstanden werden darf - jedenfalls dann nicht, wenn man wie Cohen mit Kant davon ausgeht, dass es in der Ethik um die Menschlichkeit des Menschen und das heißt seine die Individualität überschreitende Würde geht, eine Würde, die auch nur deshalb postuliert werden darf, weil es um alle (möglichen) Menschen geht. Der Mensch und seine Würde werden somit zum Ideal und zum Kriterium des Handelns und Leidens aller empirischen Menschen. Das damit angezielte Ideal einer ethisch miteinander verbundenen Menschheit aber bedarf eines Abschlussgedankens, wenn anders nicht die für jede Ethik notwendige praktisch- intersubjektivitätstheoretische Perspektive, die alleine von der Religion verbürgt wird, verloren gehen soll. Cohen entfaltet Kants moralische Deutung der Begriffe "Gott", "Freiheit" und "Unsterblichkeit":

"Wie der Mensch in der Ethik nur ein Beispiel der Menschheit ist, so ist auch Gott nur der Bürge der Menschheit. Die Menschheit ist das Subjekt der allgemeinen Sittlichkeit. Und während nach der Ethik nur im Ebenbilde der Menschheit das Individuum die Menschheit vollziehen kann, und demgemäss nur innerhalb seiner eigenen Kompetenz, der Selbstgesetzlichkeit seiner Vernunft, welche unverantwortlich ist für alles, was außerhalb ihrer Grenzen geschieht, welche daher auch eigentlich gar nicht interessiert ist für den Erfolg, den die Pflicht nach außen erlangt oder nicht erlangt - so erhebt auch hier die Religion Einspruch gegen diese Fiktion einer Indifferenz." (24) Es ist die spezifische, am Leiden und Mitleiden geschulte, um ihre Verwiesenheit auf andere belehrte Vernunft, die dazu getrieben wird, Verantwortlichkeiten anzuerkennen, die ihre eigenen Belange Übersteigen. Sie erweitert und erfüllt die philosophische Ethik, insofern als diese selbst noch zu stark am Modell einer theoretischen Wissenschaft untereinander zusammenhängender Urteile orientiert ist. Ethisches Handeln und in theoretischer Perspektive ermitteltes ethisches Ideal nicht nur im kognitiven Vergleich aufeinander zu beziehen, sondern im Handeln Wirklichkeit werden zu lassen, ist die Funktion der Religion. M.a.W. : in gewisser Weise Übernimmt die Religion für das System der reinen, spontanen Vernunft jene Funktion, die Maximen oder Affekte im einzelnen Individuum erfüllen : die Funktion der Motivation zum Handeln. Religion stellt im Sinne Hermann Cohens nichts anderes dar, als ein vernünftig ausgezeichnetes Reservoir kollektiver moralischer Motivation dar, von der jetzt nur noch zu Überprüfen ist, inwieweit sie als historisch gewordenes, kontingentes Gebilde tatsächlich der Forderungen der Vernunft entspricht. Dieser Forderung entspricht sie nur dann, wenn sie strikt von aller Kosmologie und Metaphysik geschieden wird und ihr keinerlei Bürden bei der Erklärung der Welt auferlegt werden. Cohens Religion kann ihre spezifische Leistung nur erbringen, wenn sie jede Antwort auf die Frage der Theodizee bzw. nach dem Sinn des Leidens strikt von sich weist:

"Gott ist kein Schicksalsbegriff; er hat nicht zu offenbaren, woher das Leid komme. Die Sage vom Sündenfall stammt aus Persien. Der einzige Gott kann daher auch nicht für das Verhältnis von Leben und Schuld einzustehen haben, geschweige für eine nach menschlichem Maße abgewogene Gleichheit zwischen ihnen. Die Tiefe der monotheistischen Gotteslehre werden wir an diesem Höhepunkt ihrer Weltbetrachtung zu erkennen haben: dass alles Messen und Vergleichen der inneren Würde des Menschen mit dem Äußeren Scheine seines Erdenloses eitel und nichtig, kurzsichtig und verblendet ist. Die alte Frage, warum es dem Guten schlecht, und dem Schlechten gut gehe, wird eine Antwort erfahren, von der selbst die platonische Weisheit keine Ahnung hatte."(26)

Die Lösung des Rätsels wird Cohen anhand einer Rekonstruktion der biblischen Erfahrung in systematischer Absicht gewinnen und das heißt den Mensch als mehr zu verstehen denn als das Abstraktum eines Vernunftwesens. Die erschließende Kraft des Mitleids führt die Menschen von der Erkenntnis anderer als "Nebenmenschen" zu ihrer Anerkennung als Mitmenschen. Dass die Erfahrung der Mitmenschlichkeit der Religion bedarf, resultiert aus Cohens Gotteslehre, wonach Gott nur als in Korrelation mit den Menschen gedacht werden kann, die Menschen untereinander hingegen nur als Mitmenschen. Auch hier entsteht ein weiterer Zirkel: Während einerseits nur die Beziehung auf Gott das Phänomen der Mitmenschlichkeit ganz enthüllt, ist es andererseits nur die Gottesbeziehung, die die Menschen einander als Mitmenschen sehen und anerkennen lässt. Demnach entspringen der religiösen Besinnung zwei Begriffe des Menschen als Vernunftwesen: der Mensch als Ich und der Mensch als Mitmensch. Angesichts der streng behaupteten Korrelation von Gott und Mensch müssten dem ebenso zwei Begriffe Gottes entsprechen: der Gott der sozialen Liebe und der Gott der Sündenvergebung.

Cohen begründet die nur durch die Religion mögliche Mitmenschlichkeit, die er andererseits als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Ethik ansieht, durch die Implikation der Religion durch die Sittlichkeit - ein Blick auf die Welt, der nur "Nebenmenschen" kennte, könnte zwar - vielleicht - eine Soziologie ermöglichen, aber keine Religion. Zudem kann nur ein als Mitmensch begriffener Mensch in Korrelation zu Gott treten. Diese Postulate plausibilisiert Cohen einerseits durch Bezüge auf die hebräische Bibel, indem er Formen der Volksgenossenschaft, der Gastfreundschaft, der altisraelitischen Fremdengesetzgebung und des Bundes Gottes mit allen Menschen analysiert. Es ist die prophetische Predigt mit ihrer Ausrichtung auf materiale und irdische Gerechtigkeit, in der historisch der Begriff des Mitmenschen zum ersten Mal zur Entfaltung kommt. Aus der prophetischen Predigt wider die Armut lernt Cohen, dass das Leiden in erster Linie als ein unverschuldeter, subjektive Missempfindungen Übersteigender Umstand ist, der zudem noch nicht im Sinne individueller Schuld zugerechnet werden darf:

Das Leiden ist ein aktuelles Gefühl, das nicht nur eine soziale Tatsache, die der Armut widerspiegelt, sondern das als eine prävalierende Tatsache des Bewusstseins, als eine das ganze menschliche Bewußtsein erfüllende und alle anderen Vorgänge und Tätigkeiten desselben mitbestimmende erfasst und begriffen werden muß. "Daher" so schließt Cohen seine Überlegungen "darf ihre Objektivierung nicht verwischt werden; immer muß das Leiden der Armut das Problem bleiben; das religiöse, nicht aber das metaphysische." (157) Diese Behauptung ergeht in methodologischer, nicht in materialer Absicht. Selbstverständlich ist Cohen der Auffassung, dass die Linderung der Armut ein vorrangiges religiös motivierten sittlichen Handelns ist, doch darum geht es an dieser Stelle nicht. Es geht umgekehrt um die Frage, warum einzig und alleine die unverschuldete materielle Armut das zu erläutern vermag, was Cohen als "religiöse Haltung" versteht. Seiner kantianischen Überzeugung gemäß ist die Frage nach dem höheren, dem objektiven Sinn von Leid und Schmerz im individuellen Leben Überhaupt nicht sinnvoll zu beantworten. Es ist die Armut, die Erfahrung des Ich, dass andere ohne für sie nachvollziehbaren Sinn leiden, die sie aus der Rolle von Nebenmenschen zu Mitmenschen werden läßt. Und da ein gehaltvoller Begriff des Menschen gar nicht anders als Mitmensch gedacht werden kann, wird der Arme somit zum Typus des Menschen. "Denn wenn ich kein Herz im Leibe hätte, müsste schon alleine die Bildung mich zu der Einsicht bringen, dass diese große Mehrheit nicht von mir isoliert werden kann, dass ich selbst nichts bin, wenn ich mich ihr nicht eingliedere." (158) Auch hier argumentiert Cohen sinnkritisch: Wenn es mir aufgegeben ist, den Nebenmenschen in den Mitmenschen zu verwandeln, ist es mir gleichermaßen aufgegeben, ihn im Lichte meines Mitleids zu betrachten, das wiederum, soll es sinnvollerweise zutreffen, die anderen nicht als diejenigen ansehen darf, die die Ursache ihres eigenen Unglücks sind. Hier scheint sich ein weiteres Mal ein Zirkel aufzutun. Die historische verfahrende Argumentation mündet schließlich in die sowohl systematische als auch historische Einsicht, dass noch nicht einmal die reflexive Selbstkonstitution von Individuen als Menschen möglich wäre, bevor sie nicht durch den bezug auf die je anderen im Mitleid selbst zu Mitmenschen geworden wären. Die Propheten, deren systematischer Erläuterung Cohens ganzes Interesse gilt, seien nicht nur Ethiker der Praxis, Politiker und Juristen gewesen, sondern auch noch Psychologen: der Prophet müsse das Mitleid zum Urgefühl des Menschen machen, "im Mitleid gleichsam den Menschen erfinden, den Mitmenschen und den Menschen Überhaupt."(166)

Cohen, das dürfte jetzt geistesgeschichtlich keinem Zweifel mehr unterliegen, hat die Überwindung des methodischen Solipsismus und Mentalismus radikaler, methodisch bewusster und politisch weitreichender vorangetrieben als seine späteren Schüler aus Existenz- und Dialogphilosophie, Rosenzweig und Buber. Dies ist ihm auf der Basis eines ganz eigentümlichen Ineinanders von neukantianischem Methodenbewusstsein und historischer Bildung gelungen. Können Cohens Antworten, insbesondere seine Entfaltung eines Begriffs der Religion auch noch heute Überzeugen, gelingt ihm eine rationale Rechtfertigung der Religion, der biblischen Religion?

Erstens setzt Cohen mit Kant die Vernunft als das Organ der Gesetze und Regeln an und Übernimmt die kantische Unterscheidung von Anschauung und Begriff, eine Unterscheidung, die trotz der sprachanalytisch pragmatistischen Aufhebung der Differenz von analytischen und synthetischen, apriorischen und aposteriorischen Aussagen mindestens insoweit auch heute Geltung beanspruchen kann, als gegebene Konzepte durch Erfahrungen modifiziert werden können.

Zweitens geht Cohen ohne weitere Argumentation davon aus - und hier verlässt er ohne weitere Argumentation die epistemologische Philosophie des Neukantianismus - dass Begriffe und Regeln faktisch empirisch in der Sprache gegeben und das heißt für das Bewußtsein vorgegeben sind. Damit ist der Mentalismus aufgegeben, ohne dass eine sprachtranszendentale Position eingenommen wäre.

Drittens trifft Cohen eine sachlich angemessene und historisch begründete Unterscheidung zwischen Ethik und Religion, wobei er diese als ein nachvollziehbares, freilich völlig erfahrungsfreies System von Begriffen der Normenprüfung ansieht, das erst durch die geschichtliche Erfahrung seine Kraft aber auch seine Themen gewinnt.

Auch hier können wir Cohen insoweit folgen, als wir heute unter Moralität das verstehen, was er Ethik nannte und als Ethik begreifen, was er Religion nannte. Ein erstes Problem entsteht dort, wo Cohen nur mit historischen Argumenten die Angemessenheit eudämonistischer und stoischer Philosophien mit dem Argument abweisen muß, dass sie dem Gegenstand aller ethischen Bemühungen, der Regelung intersubjektiv erfahrbarer Ungerechtigkeit zwischen Menschen schon alleine deshalb verfehlen müsse, weil sie keine angemessene Konzeptualisierung des Menschen - nämlich als Mitmenschen leisten könnten. Systematisch gesehen darf Cohen hier sehr wohl von der Idee der Intersubjektivität ausgehen, weil er sie bereits in der Wirklichkeit unserer sprachlichen Begriffe angelegt gesehen hat.

Viertens - und hier liegt der Kern der ganzen Argumentation - unternimmt bereits Cohen eine explizite Überwindung der Metaphysik. Er tut dies auf eine ebenso Überraschende wie neuartige Weise. Weder sieht er metaphysisches Denken als Ausdruck eines falschen, auf Technik oder optische Metaphern reduzierten Weltverhältnisses noch als ideologisch verzerrter Ausdruck einer Sehnsucht nach Befreiung. Metaphysik erscheint Cohen als Form eines letzten Endes sinnlosen, weil unlösbaren Versuchs, die Kontingenz des menschlichen Lebens in seinem individuellen Leiden zu verstehen.

Religion im Sinne der Propheten hingegen wird als das Unterfangen verstanden, jenen Anteil an Leid, der nicht kontingent, sondern nachvollziehbar und erklärbar ist, zu verstehen und tatkräftig aufzuheben. Man wird hier Zweifel an der religionswissenschaftlichen Adäquanz von Cohens normativem Religionsbegriff anmelden dürfen, womit aber in Bezug auf eine systematische Erörterung noch nichts gesagt ist.

Die so verstandene Religion basiert fünftens auf einem durch die Kraft der Reflexion auf ihren Begriff gebrachten Affekt - des Mitleids. Hier muß Cohen - wie schon anfangs in Bezug auf die Sprache - von der Faktizität einer Erfahrung her argumentieren, die ihre systematische Kraft freilich nur dank eine vorausgesetzten sprachlichen Begriffs gewinnen kann: des Mitmenschen, der sich nur in der Perspektive des anteilnehmenden Mitleids an seinem Schicksal als der, der er ist erschließt und damit zugleich das erkennnende Ich in seiner Menschlichkeit konstituiert. Für diese Annahme spricht auf jeden Fall die neuere Entwicklungspsychologie moralischer Gefühle. Darüber hinaus ist anzumerken, dass Cohen jedenfalls mindestens so viel, wenn nicht mehr an Argumentation zur Sicherung seiner Unterscheidung von Nebenmensch und Mitmensch aufbietet, wie die in der neuesten Philosophie einheimisch gewordenen Unterscheidungen von Handeln und verhalten, Zuschauer- und Beobachterperspektive, perlokutionären und illokutionären Sprechakten.

So bleibt sechstens noch die Frage zu beantworten, warum Cohen eine auf universale Solidarität in praktisch historischer Hinsicht gerichtete Religion der Vernunft nun wirklich als Religion und das heißt, als eine auf Gott bezogene Form des Denkens und vor allem des Handelns ausweisen muß. Nur Religion - biblisch monotheistische - Religion verleihe dem ethischen Denken jene situative Angemessenheit und motivationale Kraft, die es aus dem Bereich des Gedankens in den Bereich des Handelns treten lasse. wir müssen heute - empirisch und funktional fragen - ob alle derartigen motivationalen Dimensionen schon die Eigenschaft "religiös" tragen. Dem ist zweifelsohne nicht so. Cohen bedarf der Religion, der biblischen Religion, weil nur sie mit ihrem einigen und einzigartigen Gott das Korrelat einer universalistischen Moral und damit einer Menschheit begründen könne. Auch dies scheint heute zu den nur noch historischen Fundamenten unserer Gegenwartskultur zu gehören. Die Ethik bedarf - so hat Cohen gesehen - der Überwindung des Gefühls der Schuld und der Befreiung zum Handeln. Diese motivationale Problematik könne nur - und hierin dürfte nun in der Tat die aktuelle religionstheoretische Bedeutung Cohens liegen, in der Einheit und Einzigkeit des biblischen Gottes als des Gegenübers des Menschen gelöst werden. Diese Beziehung, des einen Gottes zu einer Pluralität von Menschen entfaltet ihren ganzen Sinn im jüdischen Versöhnungstag, dem Jom Kippur:

"Gott ist der Einzige, weil vor ihm der Mensch allein sich zu läutern vermag. Vermengt mit dem Einzigen irgend ein anderes Wesen, irgendeinen anderen Gedanken, und die Möglichkeit ist verloren, dass der Mensch der Selbstheiligung mächtig werden könnte. Eine unüberbrückbare Kluft muß es sein, die vor ihm sich auftürmt, vor der allein sein Aufschwung anheben und gelingen kann. Wahrlich, der Versöhnungstag ist der Tag des Monotheismus." (261)


© Micha Brumlik 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 21/2002
https://www.theomag.de/21/mb1.htm

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Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. 1918. 3. Auflage, Wiesbaden 1995