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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren V

Nachrichten aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Deutsche Kultur

Ein unentbehrliches Handbuch zur Vergegenwärtigung der kulturellen Entwicklung Deutschlands ist Herman Glasers "Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart". In vier Teilen, die jeweils für sich schon ein ganzes Buch bilden, stellt Glaser die unterschiedlichen Phasen der Nachkriegsentwicklung kompetent und detailreich vor. Von der Trümmerzeit (I) über das geteilte Deutschland (II) und die Zeiten des Umbruchs (III) bis zur deutschen Vereinigung (IV). Mit viel Empathie und äußerst kenntnisreich verfolgt Glaser die einzelnen kulturellen Sparten und stellt dazu jeweils die Zusammenhänge zur politischen und sozioökonomischen Entwicklung her. Dem Haupttext sind Marginalspalten beigegeben, die jeweils bestimmte Details noch einmal genauer erläutern oder wichtige Zitate präsentieren. Darüber hinaus ist es gut illustriert.

Der zunehmenden Beziehungslosigkeit der Kultursparten entgegenarbeitend, vermag es Glaser immer wieder, Kultur als Ausdruck und Movens der Zeit darzustellen, aber ebenso auch, ihre Grenzen und ihre Korrumpierbarkeit aufzuweisen. Das Buch endet mit den Jahrtausendwechsel und bietet sich für jeden an, der eine grundlegende Einführung in die deutsche Kultur nach der Zeit der deutschen Unkultur sucht.


Deutsch-polnische Grenzgänge

Ein lesenswertes Buch hat Peter Haffner mit den Beschreibungen seiner Grenzgänge zwischen Polen und Deutschland geschrieben, das im September 2002 als 213. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen ist. Empfehlenswert ist das Buch des Schweizer Redakteurs der Neuen Zürcher Zeitung nicht zuletzt deshalb, weil er die nationale Perspektive, die jede deutsche oder polnische Beschreibung notwendig mit beeinflusst, vermeiden kann - und das verschafft viele interessante Einsichten. Fünf Jahre lang ist Haffner immer wieder an der deutsch-polnischen Grenze entlang gewandert und gefahren, hat Grenzort nach Grenzort aufgesucht und ist den Eigentümlichkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschieden der zahlreichen Grenzstädte und -regionen sowie den verschiedenen Mentalitäten nachgegangen. Viel Bizarres tritt dabei zutage, manche Vorurteile werden bestätigt, viele widerlegt. Wer etwas über die Ost-West-Mentalität erfahren will, über die Grenzen in Europa, wird hier auf eine lesenswerte Weise fündig: "Es war Zeit für einen Szenenwechsel. Nun, da die große Politik Europa so umsichtig geordnet hatte wie noch nie in seiner Geschichte, waren die Voraussetzungen geschaffen für eine Nachbarschaft zwi-schen dem einstigen Aggressor und seinem ersten Opfer. Erst jetzt war das Gebiet an Oder und Neiße zu einem wirklichen Grenzgebiet wie andere geworden, konnte Handel getrieben werden, war die Bühne frei für Zank und Liebschaft. Manche meiner polnischen Freunde, denen ich, bevor ich meine Reise antrat, von meinem Vorhaben erzählt hatte, hatten ihre Geringschätzung nur schlecht verbergen können. Es war nicht 'Kultur', was sich da an der Grenze zu Deutschland abspielte, nicht würdig, dass man sich damit befasste. Nein, es war Alltag - und gerade das, dünkte mich, war das Außergewöhnliche".


Deutsche Erinnerungen

Nur mühsam liest man sich in den literarischen Stil von Hans-Georg Behr ein, zu ungewohnt, zu manieriert erscheint auf den ersten Blick seine Art, von sich als "das Kind" oder "der Junge" zu schreiben. Zudem ist vieles von dem, was er berichtet, kaum glaublich. Nach und nach erschließt sich seine Schreibweise und man verfolgt die biographieähnliche Beschreibung der Kindheit in der Nazizeit, die Verstrickungen der Familie in das politische System, den Zweiten Weltkrieg, die heranziehende Front mit der drohenden Niederlage und die anschließende Nachkriegszeit: "Es ist schwer, diesem Jungen etwas vorzumachen. Gerade seine Ahnungslosigkeit macht ihn immun gegen die Lebenslügen seiner großbürgerlichen Familie. Nichts imponiert ihm, weder sein reichsdeutscher Vater, ein Generalmajor im Berliner Luftfahrtministerium, noch 'Onkel Hermann', 'Onkel Albert' oder 'Onkel Josef', deren Zunamen zu erraten dem Leser überlassen bleibt. Mehr als für den Bombenkrieg und die Russenangst interessiert sich 'das Kind' für den Dieb von Bagdad im Dorfkino, für Doktorspiele und Fresspakete ..." [Klappentext]. Hans-Georg Behrs Buch "Fast eine Kindheit", ist im August 2002 als 212. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen.


© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 19/2002
https://www.theomag.de/19/am63.htm

 
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Hermann Glaser, Deutsche Kultur. 1945 - 2000, Berlin 2000
Peter Haffner. Grenzfälle. Zwischen Polen und Deutschen, Frankfurt 2002
Hans Georg Behr, Fast eine Kindheit, Frankfurt 2002