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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips X

"So ist das Leben" - Björks phantastische Videowelten

Andreas Mertin

"Sie ist klein und aus Island. Ihre Musik aber ist groß und von Welt" - mit diesen Worten beginnt die Vorstellung der Sängerin Björk auf den Webseiten von MTV. Was denselben Sender nicht daran hindert, ihren neuesten Videoclip zu Pagan Poetry wegen einiger harmloser Akt- und Piercing-Szenen zu zensieren und seine volle Ausstrahlung auf die Zeit nach 21 Uhr zu verlegen. Aber das ist für Björk nichts Neues, denn schon "Army of me" musste 1995 in drei Versionen gedreht werden, weil Björks Bombenattacke auf ein Museum zeitgenössischer Kunst die bürgerlichen Nerven allzu sehr strapazierte.

Wohl sonst nur vergleichbar mit Madonna hat Björk in ihrer künstlerischen Arbeit experimentiert, sich Grenzen angenähert und über Grenzen hinaus bewegt, zum Nachdenken angeregt und zugleich konsequent Biographisches mit ihrem Werk verbunden. Alle Songs und Clips können als Metaphern gelesen werden: über menschliches Verhalten, über den Umgang mit kulturellen Ressourcen, über die Menschlichkeit von Maschinen, über die Liebe, über Ordnung und Chaos im Inneren und im Äußeren des Menschen und der Welt. Jedes ihrer Stücke samt Clip fordert zu existentiellen Bezugnahmen heraus.

Nach einer Periode als Kinderstar und als Frontfrau der Gruppe SUGARCUBES beginnt 1993 Björks heutige Karriere, es erscheint ihr Soloalbum "Debut". Im Videoclip zur ausgekoppelten Single "Human Behaviour", der unter der Regie von Michael Gondry gedreht wurde, wird Björk in einem Wald von einem überdimensionalen Teddybär verfolgt. Auf einer Website über Michael Gondry, der bisher insgesamt sechs Videoclips mit Björk gedreht hat, findet sich folgende Beschreibung:

The world according to Björk: "There's definitely, definitely, definitely no logic to human behaviour," she sings into a bowl as a large moth clings to the window of her lit log cabin. Human behaviour is adventurous, wild, primitive, you begin to believe. The wilderness of human behaviour is a deep forest of possibilities: fear, adventure, love, death. Timpanis resound like the footsteps of a wild bear. Floating in a rushing river, Björk looks out subtly at you and intones, "Human behaviour" ... "Human Behaviour" is a story of predator and prey. In search of food, a bear clomps through a forest in the evening. A rugged hunter stalks the woods in pursuit of his game. Björk, as narrator and character(s) of her own story, flees from the bear. Numerous times the bear almost succeeds: in one attempt he drives a car, and almost hits Björk. In the end, Björk flies down the throat of the bear, and rests in his stomach."

1995 erscheint das Album "Post", aus dem vor allem die Single und das Video "Army of me" berühmt werden. Es ist ein rätselhaftes und zugleich anspielungsreiches Video, wiederum unter der Regie von Michael Gondry. Björk sitzt in einem überdimensionierten Fahrzeug/Tank und ist auf dem Weg, einen Freund aus einem Museum zeitgenössischer Kunst zu befreien, wo er als Display gefangen gehalten wird. Plötzlich bleibt ihr Tank stehen und Björk versucht ihn zu reparieren. Dabei schmerzen sie ihre Zähne, sie geht zum Zahnarzt, der sich als Gorilla erweist, welcher einen Diamanten aus ihrem Mund herausholt, mit dem er zu entkommen sucht. Björk erkämpft ihn sich zurück und er wird unter ihren Händen größer und größer. Dazu Björk:

... it's probably the most realistic way of expressing what situation I'm in - all these people trying to take things away from me, and the gorilla finding a diamond that I don't know I have and then stealing it. 'Army of Me' is so much about me actually learning that I have to defend myself. I have to stand up and fight the fucking gorilla. Once I've got the diamond and I run away with it, it becomes massive 'cos it's mine. But if the gorilla had kept it, it would have gone really tiny."

Oder mit anderen Worten: wenn sich der "Gorilla" Kulturindustrie der Gesangeskunst von Björk bemächtigt, wird diese zunehmend bedeutungslos. Und nur wenn Björk ihren eigenen Ansprüchen folgt, kann sie an Größe gewinnen. Am Ende befreit Björk ihren Freund, indem sie das Museum in die Luft sprengt:"After the explosion, everything is torn apart, bathed in smoke. Björk comes and retrieves her loved one, crying small diamonds onto his shoulder." Wegen einiger Bedenken von Fernsehanstalten wird in einer anderen Fassung nur auf das Bombenlegen angespielt und der Schriftzug "To be continued ..." erscheint. Zugleich ist der Clip auch eine deutliche Anspielung auf die Futuristen, die nicht nur eine Kunst gefordert hatten, die den Anforderungen des modernen technisierten Lebens gerecht werden sollte, sondern im so genannten futuristischen Manifest auch zur Schließung aller Museen aufgerufen hatten.

Im gleichen Jahr kommt es dann zu einem katastrophalen Zwischenfall, als ein durchgedrehter Fan Björk zunächst eine Bombe schickt (die glücklicherweise explodiert ohne jemanden zu verletzen) und dann ein Video von seinem eigenen Selbstmord macht. Björk zieht sich fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurück. Reaktionen auf dieses Ereignis kann man aber in späteren Videoclips durchaus wahrnehmen.

Auf Björks drittem Album Homogenic (laut MTV ohne Zweifel eine der schönsten Platten der 90er Jahre) befindet sich "Jòga", dessen wieder von Michael Gondry gedrehter Clip eine Hommage an Islands Landschaft ist, aber auch eine Metapher auf die emotionalen Landschaften des Menschen, von denen das Lied handelt. Man sieht (Computer-) Bilder von einem Flug über die Naturlandschaft Islands, die scheinbar nahtlos in mikrobiologische Aufnahmen übergehen, um dann wieder auf computerbearbeitete Landschaftsaufnahmen zurückzublenden.

Am Ende des wilden Bilderflugs über Islands Natur sieht man Björk auf einem schmalen Felsrücken stehen, die Kamera fährt auf sie zu, umkreist sie und dringt durch einen Krater in ihrem Oberkörper ins Körperinnere ein, wo sich dort der wirbelnde Flug über imaginäre Landschaften wiederholt. Die Grenzen von außen und innen verschwimmen. Ein ästhetischer Hochgenuss!

Ebenfalls auf Homogenic veröffentlicht ist das Stück "Bachelorette", dessen Clip auf mehreren, komplex ineinander verschachtelten Ebenen eine Geschichte von Medien und Medienwelten, von "Erzählungen" und "Erzählungen von Erzählungen" und "Erzählungen von Erzählungen von Erzählungen" erzählt. Ein auch optisch exzellent angelegtes postmodernes Verwirrstück über wild wuchernde Diskurse und zunehmend künstlicher werdende Bilder.

Auf demselben Album findet sich schließlich "All is full of love", dessen unter der Regie von Chris Cunningham gedrehter Clip eine poetische und gleichzeitig nahezu autoreferentielle Maschinenliebe zeigt. Im Clip sieht man, wie eine Björk-Cyborgin gebaut wird und dann eine weitere Cyborgin entsteht, mit dem die erste eine liebevolle, symbiotische Beziehung eingeht. Es ist sozusagen der Gegenentwurf zur negativ besetzten geklonten Maschinenwelt, wie wir sie seit Terminator I kennen.

Der neueste Clip von Björk ist Ende 2001 im Rahmen des Albums "Vespertine" erschienen. Zur Poesie ihres Albums sagt Björk:

"Bei diesem Album geht es darum, dass man alleine zu Hause ist. Man zieht sich zurück, man spricht mit sich selbst und irgendwie improvisiert man. Man ist ganz für sich alleine." Und: "Ich glaube, so ist das Leben sowieso. Deine Großmutter ruft dich an, weil sie krank ist, aber du schminkst dich gerade, weil du ausgehen und deinen Freund treffen willst. Unterwegs siehst du einen Hund, der gerade überfahren wurde, aber du musst mit allem klarkommen, es geht weiter. Selbst wenn du ins Bett gehst ist es so. Wenn du einen guten Tag hattest, bist du mit allem klar gekommen. Manchmal klappt das nicht, und der Tag ist gelaufen. Musik hilft einem, mit solchen Sachen fertig zu werden. Musik wie diese ist real, sie schließt einen nicht vom Leben aus. Ein bisschen Feigheit ist auch mit dabei. Aber um noch widersprüchlicher zu werden: ich war zum ersten Mal in meinem Leben richtig überzeugt von etwas, als ich mit diesem Album ein Stück vom Paradies kreieren wollte. Einen Kokon. Ich war immer die kleine Rebellin, die alles sehr klar haben wollte. Bei diesem Album ging es darum, einen Kokon entstehen zu lassen, fast wie ein kleines Paradies in das man sich flüchten kann. Obwohl man weiß, dass es so etwas nicht gibt. Diesen Kokon kann man nicht überall hin mitnehmen. An bestimmten Orten würde er kaputtgehen. Aber man glaubt daran, dass er eine Existenzberechtigung hat, weil er von den Menschen so gebraucht wird."

Die Single-Auskopplung "Pagan Poetry" und der sie begleitende Videoclip wurde nun aus eher trivialen Gründen zensiert. Während anfangs der Clip aus abstrakten Bilder besteht, sieht man später Björk in einem freizügigen Kleid aus Perlen vor der Kamera tanzen. Am Ende dreht sich Björk und es zeigt sich, dass ihr Perlenkleid mit Hilfe von Piercing kunstvoll an ihrem Rücken fixiert ist. Und wie das gemacht wird/wurde, zeigt der Clip in seinen letzten Bildern. Regisseur Nick Knight wollte mit dem Video, wie er selber ausführt, eine bisher nicht gesehene Seite Björks darstellen. Nach Björks eigenem Wunsch sollte diese "nackt, weiblich und sexy" sein.

Alles in allem schaffen Björk und die mit ihr arbeitenden Regisseure ein die Gegenwart einfangendes Bilder-Universum voller Poesie und Phantasie und vor allem ohne die üblichen Entgegensetzungen von Technik und Natur, Gefühl und Rationalität. Darin sind die phantastischen Videowelten von Björk wirklich einzigartig im Vergleich zur Massenware ihrer Kolleginnen und Kollegen.

Viele der schönsten Clips - leider nicht alle und auch nicht den neuesten - versammelt die DVD "Volumen". Sie enthält folgende Stücke: 1. Human behaviour 2. Venus are a Boy 3. Play dead 4. Big Tine Sensuality 5. Violently happy 6. Army of me 7. Isobel 8. It's oh so quiet 9. Hyperballed 10. Possibly Maybe 11. Miss You 12. Joga 13. Bachelorette 14. Hunter


© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/am47.htm

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Björk: Volume (DVD)
Andreas Mertin, Videoclips im Religionsunterricht, Göttingen 1999